Deutschland ist das Land der mittelständischen Fertigungsunternehmen. Die stürmischen Zeiten des Internet-Booms haben vergleichsweise wenige deutsche Startups hervorgebracht, am großen Rad mit dem Web-Geschäft drehen vor allem US-amerikanische Firmen.
Reale und virtuelle Welten verschmelzen
Doch nun steht mit dem "Internet der Dinge" (Internet of Things, IoT) die nächste Revolution bevor und die großen deutschen, ingenieurswissenschaftlich geprägten Konzerne sehen sich gut für die kommenden Herausforderungen gewappnet, weil sich die Vernetzung bis in die Produktion erstreckt. "Mit dem Internet der Dinge bauen wir ein System, das die Welt bislang noch nie gesehen hat", schwärmt Stefan Ferber von der Bosch Software Innovations GmbH. Es werde die physikalische Welt mit der virtuellen Welt des Internet zusammenführen. Die Auswirkungen und Möglichkeiten, die diese Entwicklung mit sich bringe, seien heute noch nicht absehbar, vermutet der Bosch-Manager.
Die bekannteste Umsetzung des Internet der Dinge ist zurzeit Googles "Project Glass". Die Datenbrille projiziert Informationen aus dem Internet ins Sichtfeld des Nutzers. So kann er unterwegs E-Mails-Abrufen, chatten, einkaufen und Informationen zur realen Welt um ihn herum - etwa zu Sehenswürdigkeiten - abrufen. Google Glass ist ein Paradebeispiel dafür, wie IT- und Kommunikationstechnik immer tiefer in den Alltag und in die Gesellschaft vordringen. Es ist daher kaum überraschend, dass die Wunderbrille bereits zahlreiche Nachahmer etwa von Microsoft, Sony und Olympus gefunden hat.
Dumme Dinge werden im Web intelligent
Doch um das Internet of Things zu erschließen, ist keineswegs immer teures und spezielles Equipment nötig: Friedemann Mattern, Professor an der Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich, präsentierte auf der vom Münchner Kreis veranstalteten Fachkonferenz "M2M und das Internet der Dinge" ein einfaches, fiktives Projekt anhand einer Schweizer Schokolade. Das eigentlich dumme Produkt (Schokolade) wird mit Hilfe eine Barcodes (auf der Verpackung) und eines Smartphones mit Barcode-Scanner auf dem Bildschirm des mobilen Geräts zum Leben erweckt. Mit der Verknüpfung zum Internet tun sich für den Schokoladenhersteller unendlich viele Optionen auf, das Produkt dazustellen und zu bewerben. Zudem gibt der Käufer Informationen über sich preis, etwa wo er die Schokolade wann gekauft hat und wo er sich gerade befindet.
Im Video nennt Peter Friess von der EU-Kommission Beispiele für das Internet der Dinge.
Zum Video: Industrie 4.0 ist das Internet der Ingenieure
"Werden wir entmündigt? Wem gehören Daten und Wissen?", fragte der Wissenschaftler Mattern angesichts dieser weitreichenden Transparenz. "Die Antwort lautet: Wir wissen noch nicht, wie sich das alles entwickelt." Bislang sei es Politik und Gesellschaft noch nicht einmal gelungen, Datenschutz in der virtuellen Welt zu gewährleisten. "Demnächst verbindet sich die virtuelle Welt mit der realen Welt, dann potenzieren sich die Probleme", warnt Mattern.
Die meisten Mash-ups nutzen Google Maps
Auf dem Weg ins Internet der Dinge wähnt sich auch BMW mit seinem Carsharing-Angebot "Drive Now". Zwar schöpft der Service noch nicht die gesamte Bandbreite der neuen technischen Möglichkeiten aus, doch schlägt er immerhin schon eine Brücke von der realen Welt der Autovermietung in die virtuelle Welt, wo Nutzer die verfügbaren Fahrzeuge orten, reservieren und buchen können. Der Fachkonferenz des Münchner Kreises galt Drive Now unter anderem als anschauliches Beispiel für Mash-ups.
Die Verschmelzung von Daten und Applikationen aus unterschiedlichen Quellen zu einem neuen Service gilt als ein wesentliches Merkmal für das Internet der Dinge. Im BMW-Fall fließen die GPS-Daten mit den Standorten der Mietfahrzeuge in den Online-Kartendienst "Google Map" ein. Der Mieter weiderum kann sich vom eigenen Smartphone den Fußweg zum nächsten verfügbaren Auto weisen lassen.
In den Visionen der Experten kommt das "Internet of Things" indes bei Bedarf auch ohne menschliche Eingriffe. In einer solchen Welt tauschen Maschinen, Geräte und Objekte untereinander Informationen aus, analysieren sie und reagieren selbsttätig auf Veränderungen. Dafür wären unter anderem auch "Smart Objects" notwendig, die ausgestattet mit Sensoren Umgebungsdaten sammeln und weiterreichen sowie eigene Entscheidungen fällen. Doch dafür fehlen noch einige Voraussetzungen. "Es gibt noch keine einheitliche Identifikation der Dinge", schränkt Peter Friess, Scientific and Policy Officer bei der Generaldirektion Connect der EU-Kommission, ein. "Zudem gibt es bislang keine einheitliche Architektur." Viele Vorhaben blieben heute auch deshalb liegen, weil die Eigentumsverhältnisse von Daten nicht einheitlich geregelt sind.
Die Engerieversorgung ist fraglich
Als besonders limitierender Faktor erweist sich aber der hohe Energieverbrauch, denn viele Objekte werden zwar kommunikationstechnisch angebunden, müssen aber unabhängig vom Energieversorgungsnetz arbeiten. Sensoren, Aktoren und Kommunikationsprotokolle wurden bislang selten unter dem Aspekt sparsamen Umgangs mit Ressourcen entwickelt. Durchgreifende, schnelle Lösungen sind nicht in Sicht, nur kleine Verbesserungen. Sie betreffen unter anderem den Einsatz optimierter Kommunikationsprotokolle, die etwa auf eine Eingangsbestätigung (Acknowledge) der gesendeten Daten verzichten, um Energie zu sparen.
Es gibt aber auch begünstigende Entwicklungen für das Internet der Dinge. Wesentlich ist etwa, dass die Kosten der Kommunikation sinken, während die geografische Versorgung und Bandbreite stetig zunimmt. Förderlich ist zudem, dass die Hardware wie Computer, Sonsoren und Aktoren, sie werden kontinuierlich kleiner, besser und günstiger wird. Last, but not least schaffen neue Verfahren für die Verarbeitung, Analyse und Speicherung großer Datenmengen die Voraussetzungen, dem vernetzen System auch Leben einzuhauchen.
M2M auf dem Weg in die Praxis
Etwas bodenständiger und weniger zukunftsfern erscheinen derzeit die Projekte in der Machine-to-Machine-Kommunikation (M2M), Ursprünglich ist M2M aus der Telemetrie hervorgegangen, die Kommunikation basierte anfangs vor allem aus dem Datenaustausch von Mess- und Sensordaten via GSM- und GPRS-Netzen.
Hier gibt es bereits viele funktionierende Beispiele, etwa beim Landmaschinenhersteller John Deere. Die landwirtschaftlichen Fahrzeuge sind heute mit der Zentrale vernetzt und liefern mittels GPS und Mobilfunk Daten über ihren Standort. So lassen sich Traktoren bei Bedarf spurgenau über das Feld führen, wenn etwa Saatgut ausgebracht wird. Sensoren sorgen für eine dauerhafte Kontrolle der Motoren und Bauteile, um Verschleiß frühzeitig zu erkennen, damit der Mähdrescher nicht während der Schönwetterphase zur Erntezeit ausfällt. "John Deere baut keine Traktoren mehr, sondern mobile Informationsfabriken", schwärmte Evan Schultz, Global Partner Senior Director bei SAP in den USA. Moderne Mähdrescher fahren heute mit der Computing-Power von acht Hochleistungs-PCs an Bord über die Felder.
Was ist Industrie 4.0? Der Begriff verweist auf die vierte industrielle Revolution, an deren Ende die Vernetzung aller Maschinen, Produkten und Prozessen in einer "smart Factory" steht. Dazu bedient sich die Branche der Techniken, die auch bei Internet der Dinge zum Einsatz kommen, unter anderem drahtlose Netze, intelligente Objekte, Sensorik und Aktorik. Was ist das Internet der Dinge? Smarte, reale Objekte verfügen über eigene Intelligenz beziehungsweise IT- und Kommunikationstechnik. Ausgestattet mit eigener Sensor und Aktortechnik können sie sich zu komplexen, autonomen Systeme zusammenschließen. Erste Hersteller sprechen schon vom Internet of Everything (IoE), das Menschen, Prozesse, Dinge und Daten in ein alles umspannendes Netz einbindet. Was ist Machine to Machine (M2M)? Die Handelskette Rewe wiederum hat ihre Lieferkette derart eng gezogen, das bisweilen zwischen Bestellung und Lieferungen weniger als ein Tag verstreicht. Sie hat den Umgang mit großen Datenmengen in den Griff bekommen. "Rewe hat in einem Rhythmus von fünf Minuten einen genauen Überblick darüber, wo jeder einzelne geliefert Joghurtbecher steht", staunt Bosch-Manager Ferber. |
Silodenken bremst die Umsetzung
Die Projekte zeigen, dass schon mit den heute verfügbaren Mitteln vieles umzusetzbar ist. Die Technik für die Vernetzung von Produkten, Lieferketten und Lieferanten ist vorhanden, Schwierigkeiten bereitet vielen Unternehmen, die Prozesse zu gestalten, weil neue Abläufe häufig Abteilungs- und Unternehmensgrenzen überschreiten und unterschiedliche Datenquellen anzapfen. Noch schwieriger wird es, wenn unterschiedliche Branchen sich auf Schnittstellen für den Informationsaustausch einigen müssen. Wie aufwändig ein solchen Unterfang werden kann, zeigen gerade die Energieversorgungs- und Automobilindustrie. Bislang ist es ihnen nicht gelungen, die Elektromobilität und die erneuerbare und dezentrale Energiegewinnung zusammenzuführen.
Deutsche Fertiger bauen auf Industrie 4.0
Solche Hindernisse müssen überwunden werden, weil die Vernetzung von Produkten, Maschinen und IT-Systemen enormes Potenzial verspricht. Unter dem Stichwort Industrie 4.0 hat sich die deutsche Maschinenbau- und Logistikbranche das Thema auf die Fahnen geschrieben. Der Begriff beschreibt nicht nur die intelligente Produktion, sondern auch die Expansion der Fertigungsunternehmen in den Servicemarkt. Es geht darum, physikalische Produkte mit Dienstleistungen so zu ummanteln, dass neue Geschäftsmodelle entstehen. Industrie 4.0 ist das Pendant zum Internet der Dinge im produzierenden Gewerbe.
Stefan Ferber von der Bosch Software Innovations GmbH nennt im Video-Interview die wesentlichen Herausforderungen für Industrie 4.0.
Zum Video: Industrie 4.0 ist das Internet der Ingenieure
Das Thema genießt höchste Priorität, weil es eine gute Gelegenheit für den Standort Deutschland ist, sich an vorderster Front der Entwicklung zu profilieren. Die drei Branchenverbände Bitkom, VDMA und ZVEI haben dazu eine gemeinsame Initiative gestartet, um sowohl Mitgliedsfirmen als auch Politik zu begeistern. Treibende Kräfte dahinter sind Ex-SAP-Chef Henning Kagermann, heute Präsident der Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V. (Acatech), sowie Siegfried Dais, bis Ende 2012 Mitglied der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH.
Paradebeispiel Predictive Maintenance
Die Möglichkeiten von Industrie 4.0 zeigen sich etwa in der vorausschauenden Wartung (Predictive Maintenance), um Maschinenlaufzeiten länger und effizienter zu gestalten. Dazu müssten Echtzeitendaten der verschiedenen Komponenten einer komplexen Maschine zentral erfasst, korreliert und regelbasierend ausgewertet werden. Doch oft existiert das Wissen darüber, wie lange einzelne Maschinenelemente halten, nur in einzelnen Wissens-Silos und der Zugang zu den Daten gestaltet sich mitunter schwierig, weil er unter Umständen Unternehmensgrenzen überschreitet. Schon innerhalb eines Hauses bereitet die Zusammenführung Schwierigkeiten, wenn etwa Garantiebestimmungen, Ersatzteillisten und Ansprechpartner in unterschiedlichen Systemen abgelegt wurden. "Die größte Hürde ist, die Wartungsprozesse anzupassen", berichtet Ferber aus seiner Erfahrung. "Wer fällt die Entscheidung darüber, wann eine Maschine zur Wartung gestoppt und welcher Kundenauftrag verschoben wird?"
Industrie 4.0 ist ein deutsches Thema, doch die hiesige Industrie verfolgt die dahinterstehende Entwicklung keineswegs exklusiv. Weltweit wird der Trend zur vernetzten Fabrik sowie zur dienstleistungsorientierten Fertigung unter dem Begriff "Smart Industries" vorangetrieben. Die Folge für die Wirtschaft und Gesellschaft sind heute nicht absehbar. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Warren G. Bennis skizzierte die Aussichten für die morgige Arbeitswelt folgendermaßen: "Die Fabrik der Zukunft wird zwei Beschäftigte haben: einen Mann und einen Hund. Die Aufgabe des Mannes wird sein, den Hund zu füttern. Der Hund wird die Aufgabe haben, den Mann davon abzuhalten, die automatisierten Systeme anzufassen."
Ob und wann es so kommen wird, weiß heute niemand. Sicher sind sich die Experten, dass es künftig mehr autonome, sich selbst organisierende Systeme geben wird. "Die Menschen werden in vielen Bereichen die Kontrolle darüber verlieren, wie Systeme arbeiten", vermutet EU-Manager Friess. Damit ergeben sich allerdings wieder völlig neue, offene Fragen, etwa in der Rechtssprechung. Wenn ein autonomes System Schaden anrichtet, weil es falsche Entscheidungen getroffen hat, wer haftet dann? (Computerwoche)