Deutschlands Industrie sieht sich in einer ungewohnten Rolle. Sie muss Rückstände einräumen und eingestehen, dass die USA auf einem Zukunftsfeld dominieren. Es geht um die Digitalisierung der Wirtschaft und um den Siegeszug des Internets mit seinem Einfluss auf die Fabrik von Morgen. "Deutschland verliert den Anschluss an die Weltelite", warnt BDI-Chef Ulrich Grillo. Elektrotechnik-Präsident Friedhelm Loh gesteht: "Wir wissen, dass die Amerikaner uns bei der technischen Software überlegen sind." Und selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel rät der deutschen Industrie: "Hängen Sie nicht zu sehr an Ihren alten einzelnen Branchen."
Die Vernetzung der Industrie verändert das weltweite Kräfteverhältnis. Smarte Anlagen und intelligente Maschinenparks gelten als vierte große industrielle Revolution nach Dampfmaschine, Massenproduktion und Automation. Und bei dieser Industrie 4.0 stottert ausgerechnet der Innovationsmotor Deutschland. IT gilt als Stärke der USA. Das Feld für die Revolution ist riesig. Eine Fraunhofer-Studie hat eine Zahl dazu: "Im Jahr 2020 werden weltweit 50 Milliarden vernetzte Geräte dazu führen, dass die Produktion anders aussieht als heute."
"Die großen Häuser für mechanische Software sind nun einmal in den USA", sagt Branchenvertreter Loh und räumt ein: "Von daher haben die Amerikaner, weil sie auf der Seite wesentlich stärker sind als wir, als Ausgangspunkt mindestens eine bessere Chance."
Beispiel Autoindustrie, Deutschlands Vorzeigebranche: Einige deutsche Autobauer kooperieren bereits eng mit Google - es könnte am Ende um das Betriebssystem fürs Auto gehen. Continental arbeitet mit Cisco und IBM.
Franz Gruber, Chef des deutschen 4.0-Pioniers Forcam, sagt: "Die Hoheit der USA bei Standard-IT-Services wie Social Networks, Suchmaschinen, Online-Versand oder Smartphones droht sich auch auf den industriellen Bereich auszuweiten." Die Weichen haben die USA schon an höchster Stelle gestellt: Präsident Barack Obama treibt als Vorzeigeprojekt die "Renaissance der Produktion" voran. Die klassische Industrie soll wieder wachsen, gepaart natürlich mit dem Heimspiel der digitalen Stärke.
Der 4.0-Fokus in den USA reiche weiter als die deutschen Pläne, sagt US-Professor Jay Lee. Er forscht zum Thema an der Universität in Cincinnati, eine der größten Fabrikstädte Amerikas, und arbeitet fürs Weiße Haus an einem Programm zur digitalisierten Fabrik. Was Deutschland plakativ 4.0 nennt, heißt laut Lee in den USA vor allem "Cyber-Physikalisches-System" (CPS). Es beschreibt die Echtzeitabbildung realer Fabrikprozesse im virtuellen Raum. Lee sagt: "Der Ansatz der USA erstreckt sich über weit größere Areale als nur auf die bloße Produktion, während man in Deutschland CPS vor allem dem Thema Produktion zuschreibt."
Lee hat auch ein klares Urteil über den Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, den die deutsche Wirtschaft vor einem Jahr der Politik übergab: "Dem Bericht mangelt es an Beispielen und Fallstudien, was es sehr schwierig macht, die Industrie vom Sinn der Umsetzung zu überzeugen."
Ein Beispiel für den Heimvorteil der USA ist das US-Konsortium für ein Industrie-Internet. Die Gründungsmitglieder sind eine Ansage für sich: IT-Urgestein IBM, Chipgigant Intel, Netzausrüster Cisco, der Elektrokonzern General Electric und der Telekommunikationsriese AT&T.
Forcam-Chef Gruber meint, die Amerikaner sähen eine Riesenchance, ihre Nachteile im Hardware-Bereich durch Software zu kompensieren. Der 4.0-Dienstleister Forcam wurde 2001 von Ex-SAP-Managern gegründet. Die softwarebasierten Lösungen verbessern inzwischen weltweit gut 50 000 Maschinen. Kunde ist vor allem die Autoindustrie; etwa Audi, BMW oder Daimler. Sie alle fürchten Pannen wie das jüngste Zündschloss-Debakel bei GM oder Toyotas Riesen-Rückruf wegen festklemmender Gaspedale.
Bundesforschungsministerin Johanna Wanka sieht in 4.0 einen Hebel, um "das hohe deutsche Wohlstandsniveau" abzusichern. Die Forschung könne das zwar begleiten. "Aber genauso wichtig ist es, dass diese Ergebnisse auch schnell in den Alltag der Unternehmen einziehen." (dpa/rs)