Immer wenn Marketingstrategen ihrer Zielgruppe klarmachen wollen, dass bei einem Thema nichts mehr wie vorher ist, dass ein epochaler Wandel kurz bevorsteht oder bereits stattgefunden hat, dann kommt die Allzweckwaffe Punkt-Null ins Spiel.
Angefangen hatte es mit "Web 2.0". Die Steigerung war notwendig geworden, nachdem die Vorgängerversion - also quasi das "Web 1.0" - durch den Crash der New Economy einen massiven Imageschaden erlitten hatte.
Für die nächste Stufe - die 3.0 - gab und gibt es inflationär viele Beispiele. Angefangen von Deutsch 3.0 des Goetheinstituts, dem Kongress Leben 3.0 oder dem technischen Standard USB 3.0. Und nicht zu vergessen: Im April verkündete die ARD, ab Sommer 2015 gebe es die Tagesschau 3.0. Gemeint ist damit die Verwendung von digitalen Avataren, die statt realen Menschen die Nachrichten vorlesen.
Vier Punkt Null will folglich noch einen draufsetzen, und "Industrie 4.0" suggeriert, man könne nicht nur das Internet, sondern auch die Warenproduktion komplett neu erfinden. Und zwar indem man sie intelligent mit IT-Lösungen und softwaregestützten Steuerelementen verknüpft. Sabine Pfeiffer von der Universität Hohenheim glaubt nicht, dass Herstellungsprozesse im Rahmen der aktuellen Diskussion gänzlich neu erfinden lassen. "Ökonomen und IT-ler unterschätzen die stoffliche Seite von Produktion."
Fast alles ist bereits automatisiert
Pfeiffer kennt diese Seite. Die gelernte Werkzeugmacherin und Professorin für Arbeits- und Industriesoziologie forscht seit Mitte der neunziger Jahre zum Wandel von Arbeit und zur Frage, was das Internet und neue Formen der Digitalisierung für Qualifikation und Beschäftigung bedeuten.
Im Rahmen der aktuellen Untersuchung "Der AV-Index. Lebendiges Arbeitsvermögen und Erfahrung als Ressourcen auf dem Weg zu Industrie 4.0" hat sich Pfeiffer gemeinsam mit ihrer Kollegin Anne Suphan der Frage gewidmet, wie gut Belegschaften auf Veränderungen in der Warenproduktion vorbereitet sind.
Wichtig ist ihr zunächst die Feststellung, dass keine Industrie in nächster Zukunft gänzlich ohne Menschen auskommen wird. "Anzunehmen, das Gros der aktuellen Tätigkeiten in einer Fabrik seien Stumpfe Routinejobs und deshalb wegrationalisierbar, ist ein Irrtum."
Denn fast alle Abläufe, die sich in einer Fabrik automatisieren lassen, seien bereits automatisiert, so die Soziologin. "Und geschehen ist das lange bevor es den Begriff Industrie 4.0 gab. In der aktuellen Diskussion wird dagegen oft so getan, als hätte es bisher keinen Wandel gegeben, als ständen wir jetzt plötzlich vor dieser sagenhaften Herausforderung."
Mit mehr Industrie besser durch die Krise
Davon kann in der Tat keine Rede sein: Gegen den Rationalisierungs- und Verlagerungssturm, den die deutsche Industrie in den 1960er und 1970er Jahren erlebte, sind die aktuellen Umwälzungen - jedenfalls was ihre quantitativen und gesellschaftlichen Effekte angeht -eher ein laues Lüftchen.
Folglich hält Sabine Pfeiffer "siebzig Prozent der Aufregung um den Begriff Industrie 4.0 für reinen Hype".
Neu allerdings sei das weltweit wiedererwachte Interesse an der Industrie. Jahrzehntelang galt das Mantra, dass wir uns unaufhaltsam in eine Dienstleistungsgesellschaft verwandeln und die Industrie als Phänomen vergangener Epochen bald gänzlich hinter uns lassen werden.
Doch die Finanzkrise ab 2007 sorgte für einen nachhaltigen Stimmungswandel, weil sich dabei herausstellte, dass Länder mit starker industrieller Basis - allen voran Deutschland - die Turbulenzen deutlich besser überstanden als andere.
Hype um Industrie 4.0 nützt vor allem Marketing-Interessen
Entscheidender Teil der viel diskutierten Wortkombination ist also "Industrie" und nicht etwa der Fortsatz "4.0."
Der nützt vor allem Beratern und Lösungsanbietern, die ein Interesse daran haben, anstehende Veränderungen und ihre Notwendigkeit zu überhöhen. Viele Chefs glauben ihnen - und unterschätzen zugleich die Vier-Punkt-Null-Fitness ihrer Belegschaft.
Sabine Pfeiffer ärgert dabei vor allem die gängige Defizitdiskussion: "Firmenchefs sagen: Mein Enkel kann mit dem Tablet umgehen, aber ob mein Facharbeiter das kann, da habe ich meine Zweifel. Das ist der völlig falsche Ansatz. Weil Computersteuerung und Digitalisierung in der Produktion schrittweise Einzug halten, machen die Mitarbeiter mit ihrem Erfahrungswissen vieles Neue automatisch richtig."
Im Rahmen der bereits angesprochenen Untersuchung hat Sabine Pfeiffer erforscht, wie viele Arbeitnehmer bereits heute täglich mit Elementen des 4.0-Wandels umgehen müssen.
Ergebnis: Über alle Branchen hinweg sind es 71, im Maschinenbau sogar 81 Prozent. Hinzu kommt: 67 Prozent der Beschäftigten verfügen mindestens über eine duale Ausbildung, haben also eine Lehre absolviert oder sogar ein Studium. Auch dadurch sieht Sabine Pfeiffer deutsche Arbeitnehmer besonders gut aufgestellt.
Dienstleistung verändert sich nachhaltiger
Dass sich für viele Beschäftigte durch Industrie 4.0 kurzfristig nicht so viel ändert, bedeutet allerdings nicht, dass Robotik und Digitalisierung keine Veränderungen bewirken. Nur wirken die sich eben weniger auf die tägliche Arbeit eines deutschen Fabrikarbeiters aus und mehr auf globale Unternehmensstrategien, so Sabine Pfeiffer. "Heute sind ganze Industrieparks zentral steuerbar, weil die Technik dazu preiswert ist und überall gleich funktioniert."
Deshalb ist es leichter denn je, eine ganze Fabrik in kurzer Zeit in ein anderes Land zu verlagern. Darüber hinaus wird Automatisierung dort nachhaltige Wirkung entfalten, wo sie noch nicht weit fortgeschritten ist, nämlich in der Dienstleistungsbranche. Man denke nur an den globalen Mitfahr- und Transportdienstleister Uber. Oder an Airbnb, den Vermittler von Privatunterkünften.
Durch die Kombination von Internet und Smartphone lässt sich eben so ziemlich alles auf der Welt skalieren, also ein standardisiertes Massengeschäft verwandeln. Und das wird die Welt vermutlich deutlich mehr verändern, als es Industrie 4.0 je vermag.