Hans-Otto Schrader war stolz. "Wir konnten die Ergebnisse deutlichst verbessern", jubelte der Chef des Otto-Konzerns und feierte eine "sehr erfolgreiche Strategie" im Bereich E-Commerce. Beim Blick in die Details des Geschäftsberichts wird jedoch schnell klar, dass die traditionsreiche Handelskulisse mit Marken wie Baur, Bonprix und natürlich dem Otto-Versand zwar nach wie vor das Image des Konzerns prägt. Doch das Geld verdient er in den vergangenen Jahren mit einem gleichermaßen profitablen wie unbekannten Geschäftsfeld: Otto ist Deutschlands größter Schuldeneintreiber. Die Tochter EOS-Gruppe ist eines der weltweit führenden Inkasso-Unternehmen.
Egal, ob es um Außenstände in Albanien, Inkasso in Indien oder Schulden in China geht: EOS fordert und mahnt, pfändet und klagt vor Ort und schmückt die Otto-Bilanz mit stattlichen Zahlen. Während das Handelsgeschäft des Versandimperiums 2012 nur ein mageres Umsatzplus von 0,4 Prozent auf 10,07 Milliarden Euro verbuchte, ging es bei EOS mit zweistelligen Wachstumsraten nach oben - mal wieder. Innerhalb weniger Jahre hat die 9000-Mann-Mahntruppe ihre Erlöse auf über 500 Millionen Euro mehr als verdoppelt.
Entscheidender noch: EOS war in den vergangenen Jahren die Gewinnquelle des Otto-Konzerns und spielte regelmäßig Erträge ein, die mindestens auf dem Niveau des vermeintlichen Kerngeschäfts Versandhandel liegen. "Im Grunde ist Otto ein Finanz- und Inkassodienstleister mit angeschlossenem Handelsgeschäft", sagt Jörg Funder, geschäftsführender Direktor des Instituts für Internationales Handels- und Distributionsmanagement an der Hochschule Worms.
Doch wie springt die Otto-Tochter mit säumigen Zahlern um? Wie läuft das Geschäft mit den Schulden?
Der Selbstversuch beginnt am 17. September 2012: Otto findet mich gut. Gerade habe ich mich als Neukunde im Online-Shop registriert, schon geht die erste Bestellung raus: eine Babywaage der Marke Reer, weiß, mit beruhigender Musikfunktion zum harmonischen Wiegen des Säuglings. Ein paar Tage später überreicht der Hermes-Bote das Paket samt Rechnung über 69,99 Euro zuzüglich Versandkosten von 5,95 Euro "zahlbar innerhalb von 14 Tagen". Ich warte ab.
Hans-Werner Scherer sitzt in seinem Büro in der zwölften Etage der EOS-Zentrale in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs. Mit roter Krawatte, grauem Haar und einem stets griffbereiten Kugelschreiber in der Hemdtasche stellt sich der Mann vor, den jeden Tag wohl Tausende Schuldner verfluchen dürften, wenn sie ihre Briefkästen öffnen und Mahnungen von EOS herausfischen. Scherer leitet seit 2003 die Geschäfte und wirkt wie ein Gegenentwurf zum Klischeebild der Geldeintreiberzunft: ein fröhlicher Endfünfziger, der zum Firmenjubiläum schon mal in weißer Kapitänsuniform auftritt und in seiner Büro-Schrankwand Platz für ein Buddelschiff findet. Seit 28 Jahren ist Scherer bei EOS an Bord. Angefangen hat der Inkassoveteran als Leiter des Außendienstes.
Expansion im Ausland
Damals sorgte vor allem das Geschäft mit säumigen Otto-Kunden für Umsatz. Als bei dem Versandimperium Anfang der Siebzigerjahre das konzerneigene Mahnwesen immer mehr Kräfte band, wurde ein Teil der Rechtsabteilung outgesourct und durfte sich fortan ausschließlich um das Inkasso kümmern - der Vorläufer von EOS war gegründet. Inzwischen managt das Unternehmen "rund zehn Millionen Einzelforderungen in Deutschland, weltweit dürften es etwa 30 Millionen sein", sagt Scherer. "Nach Umsatz sind wir Deutschlands größter Inkasso-Anbieter."
Der Mutterkonzern spielt bei den Hamburger Rechnungslegern nur noch eine Nebenrolle. Zwar sei die Otto-Gruppe mit einem Umsatzanteil von rund acht Prozent noch immer EOS’ größter Einzelkunde, sagt Scherer, "dominiert aber nicht unser Geschäft". In den kommenden Jahren dürfte die Otto-Quote weiter sinken.
Zum einen expandiert EOS vor allem jenseits der deutschen Grenzen und fern des Versandgeschäfts. Zum anderen sei die Risikosteuerung im Neukundengeschäft von Otto "exzellent", lobt Scherer, es komme also schlicht zu weniger Ausfällen. Zudem verfügt die Versandsparte über ein eigenes Mahn- und Datensystem, das zum Einsatz kommt, bevor die EOS-Inkassotruppe beauftragt wird. "Dass EOS und Otto etwas miteinander zu tun haben, sehen Sie als Kunde erst, wenn Sie Ihre Rechnung lange Zeit nicht bezahlen", sagt Scherer.
26. November 2012: Zwei Monate nach der Bestellung trudelt die erste Mahnung ein. "Ist Ihnen etwas dazwischen gekommen?", fragt Otto besorgt. "Heften Sie Ihre Otto-Kontoauszüge am besten immer ab." Der Ordnungstipp kostet sieben Euro Mahngebühr. Ein paar Tage später trifft wieder Post aus Hamburg ein: "Nutzen Sie Ihre Chance", den Rückstand auszugleichen, empfiehlt der Versandhändler und lässt die Rechnung auf 92,94 Euro steigen. Im Januar wird der Ton rauer: "Sie wissen: Seit längerer Zeit ist Ihr Konto im Rückstand." Am 18. Februar 2013 um 9.20 Uhr klingelt mein Handy: "Ich rufe vom Otto-Versand an", flötet Frau L. ins Telefon. Es gehe um die offene Rechnung über 113,74 Euro. "Wir wollen Ihnen eine Ratenzahlung anbieten." Mit mindestens 25 Euro pro Monat soll ich meine Schulden abstottern. Ansonsten gehe die Forderung im März zum Inkassodienst. "Das würde ich Ihnen gerne ersparen", fügt Frau L. hinzu.
Jenseits des Otto-Konzerns zählen Versicherungen und Telefonanbieter, Autofinanzierer und Stromversorger zu den rund 20.000 Kunden von EOS. So lassen etwa der Energiedienstleister Techem und der Gaslieferant Linde Außenstände über den Hamburger Inkassodienstleister eintreiben.
Außerdem kauft EOS ganze Forderungspakete wie Konsumentenkredite von Banken oder anderen Großgläubigern auf, um diese auf eigene Rechnung zu verwerten - nicht nur in Deutschland. Vor allem in krisengeplagten Ländern wie Spanien und Griechenland verkauften Finanzinstitute in den vergangenen Monaten in großem Stil Forderungen an EOS.
Das Kalkül hinter dem Factoring genannten Geschäftsmodell: Der Verkäufer bekommt schnell Liquidität, vermeidet das Risiko von Zahlungsausfällen und erspart sich Ärger mit säumigen Kunden. Dafür verzichtet er auf einen Teil der Forderungssumme. Entsprechend steigt seit Jahren in allen Branchen das Interesse an Inkasso- und Factoringdienstleistungen.
Selbst Klinikchefs und Chirurgen geben Rechnungen für kostspielige Behandlungen in die Hände externer Dienstleister. EOS mischt im Gesundheitsinkasso über die Tochter Health AG mit. Zahnärzte, die Rechnungen für Brücken und Kronen hinterherlaufen, können ihre Forderungen ebenso an das Unternehmen abtreten wie Chiropraktiker, die um Honorare bangen.
Mit allen Registern
18. März 2013: Erstmals meldet sich EOS und appelliert an meine Zahlungsmoral: "Irren ist menschlich, vergessen auch", heißt es im Schreiben. "In der Hektik des Alltags haben Sie sicher vergessen, die offene Forderung unserer Auftraggeberin fristgerecht zu zahlen." Die Batterie der Babywaage ist mittlerweile fast am Ende, das anfangs schrille Gedudel nach Einschalten der Musikfunktion ist längst einem moderaten Geleier gewichen. Ein halbes Jahr ist verstrichen und die Forderung auf 145,84 Euro gestiegen.
Gelingt es EOS, das Geld bei den Schuldnern einzusammeln - egal, ob Autokäufer oder Klinikpatient -, kann das Unternehmen stattliche Gewinne verbuchen. Während es Otto im Handelsgeschäft, in dem die Spannen branchenweit niedrig sind, auf eine operative Gewinnmarge von 2,1 Prozent bringt, liegt der Wert im Finanzsegment bei 35 Prozent.
Dafür zieht EOS bei den Schuldnern alle Register. "Briefe und Anrufe sind Standard", sagt EOS-Chef Scherer. "Aber nach wie vor setzen wir auch auf Hausbesuche."
Vor-Ort-Inkasso? Das klingt nach stiernackigen Finsterlingen vor der Tür, nach Besuchen des Inkasso Team Moskau, jenem Anbieter, der vor Jahren mit dem Slogan für Schlagzeilen sorgte: "Ihr Schuldner muss kein Russisch können, er wird uns auch so verstehen."
Scherer wiegelt ab. Für ihn würden im Forderungsgeschäft zwei hehre Grundsätze gelten: "Wenn ein potenzieller Kunde einen Anschein von Unseriosität vermittelt, wollen wir kein Inkasso machen", sagt Scherer. Zudem müsse der Umgang mit den Schuldnern korrekt ablaufen.
Bei den rund 200 Außendienstlern im sogenannten "Field Service" handelt es sich überwiegend um Frauen, denen bei dem konfliktträchtigen Job meist mehr Fingerspitzengefühl attestiert wird. Ihre Mission: der Direkteinzug von überfälligen Leasing- oder Kreditraten. Sie "prüfen Objekte und führen Vor-Ort-Recherchen durch" oder "stellen Mobilien sicher", heißt es auf der Unternehmenshomepage. Soll heißen: Zahlt ein Kunde der Fiat Bank etwa seine Leasingraten für den Alfa Romeo nicht, rückt im Zweifel eine der EOS-Feldarbeiterinnen aus, um dem Schuldner Dampf zu machen - oder bei hartnäckigen Fällen von Zahlungsunwilligkeit das Fahrzeug zu konfiszieren. Knapp 300.000 Einzelaufträge pro Jahr erledigen die Hamburger mit ihrem Vor-Ort-Service.
Das Gros der Fälle wird jedoch per Brief und Telefon beackert. Rund 1,3 Millionen Telefonate mit Schuldnern führen die Callcenter-Kräfte des Unternehmens, 11,4 Millionen Schreiben an Schuldner verschickt EOS in Deutschland jedes Jahr.
11. April 2013: Frau B. von EOS ruft an und fragt: "Wie können wir das regeln?" "Hmm, weiß auch nicht", scheint nicht die richtige Antwort zu sein. Frau B. bleibt hartnäckig: "Wenn Sie es nicht auf einen Schlag schaffen, können wir eine Ratenzahlung vereinbaren." Mindestens 33 Euro pro Monat müsste ich zahlen. "Na gut", murmele ich. "Ich verlasse mich auf Sie", verabschiedet sich Frau B. Wenig später kommt die schriftliche Bestätigung des Deals. Die Rechnung hat sich inzwischen auf 178,10 Euro mehr als verdoppelt. Ich überweise die erste Rate.
Experten wie Christian Maltry, Schuldnerberater beim Landratsamt Main-Spessart, stören sich generell an den happigen Inkassogebühren, deren zulässige Höhe bisher nicht gesetzlich geregelt ist. In der Praxis orientieren sich die Kosten oft an den Sätzen von Anwälten, die Politik diskutiert derzeit über die Einführung von Obergrenzen, um unseriöse Anbieter künftig in die Schranken zu weisen.
Innerhalb der an schwarzen Schafen reich bestückten Inkassoherde gilt der Otto-Ableger bei Schuldnerberatern als ein Anbieter, über den es nur wenige Beschwerden gibt. Kritisch sieht Experte Maltry indes die Datendichte, über die die Hamburger verfügen. Nicht nur die Otto-Versandunternehmen und EOS tauschen Informationen aus. EOS ist auch am Wirtschaftsinformationsdienst Bürgel beteiligt.
Ähnlich wie die Schufa stellt Bürgel Unternehmen Informationen zur Kreditwürdigkeit ihrer Kunden und Geschäftspartner in spe zur Verfügung. Bürgel zieht Informationen zu Insolvenzen und Inkassoverfahren, aber auch Alters- und Wohnortdaten heran, um die Finanzkraft eines Kunden zu rastern, statistisch hochzurechnen und schließlich in einer Bonitätskopfnote zu verdichten: dem Scorewert. Je schlechter der Wert, desto höher ist laut Bürgel die Wahrscheinlichkeit, dass der Verbraucher seine Rechnung nicht zahlt.
Das statistische Verfahren kann reale Konsequenzen haben: Vermieter scoren Mietaspiranten, Softwareprogramme für Online-Shops entscheiden auf Basis des Scorewertes, ob ein Kunde seine Schuhe auf Rechnung kaufen darf, Vorkasse leisten muss oder überhaupt beliefert wird. Bei EOS heißt es dazu, dass der Datenschutz gewahrt werde und Informationen nur dann an Wirtschaftsauskunfteien wie Bürgel weitergegeben würden, wenn der Gläubiger dazu einen Auftrag erteilt hat.
Handel mit Daten und Konsum-Merkmalen
3. Mai 2013: Ich frage bei Otto nach, was mit meinen Daten passiert ist. Wenige Tage später kommt die Antwort: Adress- und Bonitätsdaten seien "ggf. an die Schufa" und an EOS weitergeleitet worden. Für Marketingzwecke wurden meine Daten zudem an die Otto-Töchter bonprix, Schwab Versand, Baur Versand, SportScheck und die Baur-Marke I’m walking übermittelt. Immerhin, die EOS-Beteiligung Bürgel scheint nichts von meinem Babywaagen-Bezahlrückstand zu wissen. "Bürgel liegen keine Negativinformationen vor", schreibt mir die Auskunftei und stuft die Wahrscheinlichkeit, dass ich Rechnungen begleiche, mit 95,9 Prozent ein. Allerdings durfte sich der Adresshändler Schober über meinen Datensatz aus dem Hause Otto freuen.
Die Beziehungen zwischen EOS und Schober mit Sitz in Ditzingen bei Stuttgart sind eng. Gemeinsam betreiben die Unternehmen das Joint Venture Schober Direct Media, das laut Selbstdarstellung über "eine der umfangreichsten Haushaltsdatenbanken Deutschlands" verfügt.
Schober ist einer der größten Anbieter für Dialogmarketing. Hinter dem Wort verbirgt sich der schwunghafte Handel mit Daten und Konsum-Merkmalen von Verbrauchern. Im Klartext: Die Adressen von Kunden, die bei Otto Accessoires oder Anzüge ordern, können andere Unternehmen bei Schober für ihre Werbesendungen kaufen. 50 Millionen Privatanschriften können Unternehmen, die nach potenziellen Neukunden fahnden, online durchforsten und nach Dutzenden Zusatzmerkmalen wie Altersgruppen, Geschlecht, Haushaltsgröße und Kaufkraft sortieren.
Ob EOS und Schober auf lange Sicht weiter eng zusammenarbeiten werden, ist fraglich. Während Online-Werbung boomt, hat das Interesse an Postadressen nachgelassen. EOS verdiene mit "Marketinginformationen zwar noch Geld", sagt Scherer, der Bereich sei aber "nicht das große Zukunftsgeschäft der EOS-Gruppe".
Entscheidend bleibt der Inkassomarkt, wo neue Wettbewerber den Platzhirschen EOS angreifen. Die Branche habe sich professionalisiert und industrialisiert, sagt Kay Uwe Berg, Geschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Inkasso-Unternehmen. Kleinere Anbieter werden geschluckt, weltweit agierende Inkassokonzerne entstehen. So hat Ende April die Bertelsmann-Tochter Arvato den norwegischen Inkassospezialisten Gothia Financial übernommen. Kurz zuvor hatte wiederum EOS den Inkassodienstleister SAF Forderungsmanagement von der Deutschen Telekom gekauft. Teil des Deals: Im Laufe der kommenden Jahre darf die Otto-Tochter nun einen Großteil der Telekom-Forderungen eintreiben.
14. Mai 2013: Der Hauck Shopper Sport 2011, ein Buggy-Kinderwagen für 59,99 Euro, soll es sein - gefunden auf Otto.de. Ich packe das Gefährt in den virtuellen Warenkorb, klicke auf das Kassensymbol und tippe Benutzernamen und Passwort in die Anmeldemaske. Statt der Bestellbestätigung leuchtet in roten Lettern eine Warnung auf: "Ihr Kundenkonto wurde an die Firma EOS Deutscher Inkasso-Dienst GmbH abgetreten. Wir können daher Ihren Bestellwunsch nicht mehr entgegennehmen." Im Klartext: Das Unternehmen hat mich rausgeschmissen, ein virtuelles Hausverbot verhängt. Otto findet mich nicht mehr gut.
(Quelle: Wirtschaftswoche)