Indien hat vor allem durch seine Software- und Ingenieursdienstleistungen in den vergangenen Jahren einen einzigartigen Boom erlebt. Die Stadt Bangalore, der Hauptsitz von SAP in Indien, gilt als IT-Hub des Landes. Sie behaupten hingegen, dass die Bangalore-Euphorie vorbei sei. Schneiden Sie sich damit nicht ins eigene Fleisch?
In Bangalore gibt es mittlerweile mehrere Tausend IT-Unternehmen. Es existiert definitiv eine Euphorie, die von vielen inzwischen aber differenziert gesehen wird. In der Stadt lastet durch das starke Wachstum ein hoher Druck auf der Infrastruktur, die nicht so schnell mitwachsen konnte. Das ist das Problem.
Wir bekommen das jeden Tag selbst zu spüren: Morgens kommt es oftmals zu immensen Staus, die Mitarbeiter brauchen teilweise zwei Stunden zur Arbeit. Die Wasserversorgung funktioniert nicht und auch der Strom fällt fast jeden Tag aus. Wir haben das durch eigene Generatoren gelöst. So sind wir von der öffentlichen Versorgung unabhängig und können bis zu sechs Wochen lang selbst Strom erzeugen.
Wie sieht die SAP-Lösung für das Anfahrtsproblem der Mitarbeiter aus?
Mit rund 100 Bussen fahren wir unsere Mitarbeiter von bestimmten Haltestellen, die in der ganzen Stadt verteilt sind, direkt vor die SAP-Tür. So benötigen sie eine Stunde für eine Strecke, für die man mit öffentlichen Verkehrsmitteln drei bis vier Stunden einplanen muss. Hinzu kommt, dass wir den Arbeitsbeginn auf acht Uhr vorverlegt haben, um nicht in die Rushhour zu kommen. In Indien fängt die Arbeit traditionell erst gegen zehn Uhr an.
Das klingt, als ob sie das Problem kurzfristig überbrücken, sich aber langfristig nach anderen Standorten umsehen.
Mittlerweile schauen wir uns nach anderen indischen Standorten um. Wir haben inzwischen Entwicklungszentren in Gurgaon und Chandigar, zwei Orte der zweiten Reihe, also keine Megastädte. Dort findet man noch relativ vernünftige Bedingungen. Die Schwierigkeiten, mit denen wir momentan kämpfen, beziehen sich hauptsächlich auf Bangalore.
Bisher erzielte SAP in Indien zweistellige Wachstumsraten. Wird diese Geschwindigkeit beibehalten?
Das Wachstum in Indien geht 2007 weiter, allerdings nicht mit der gleichen Geschwindigkeit. Wir haben dort vor acht Jahren angefangen und sind jedes Jahr um 50 Prozent gewachsen. Heute beschäftigen wir 4.000 Mitarbeiter in den Bereichen Software-Entwicklung und -service. Rund 3.500 dieser Beschäftigten arbeiten in Bangalore. Wenn man nun von weiteren 50 Prozent Wachstum ausgehen würde, müssten wir in diesem Jahr auf 6.000 Mitarbeiter wachsen. Das ist unrealistisch.
SAP öffnete 1998 sein erstes Entwicklungszentrum in Indien. Sie fertigten damals zusammen mit einem Kollegen die Standortanalyse für Asien an. Was hat SAP letztlich dazu bewogen, nach Indien zu gehen - und nicht nach China?
Der Fokus war in der Tat zunächst besonders auf China gerichtet - damals noch mehr als heute. Inzwischen hat Indien in der öffentlichen Wahrnehmung aufgeholt. Zum damaligen Zeitpunkt hatten wir in China aber sehr große Probleme mit den Englischkenntnissen der Software-Entwickler.
Über unsere Kundenkontakte hatten wir bereits festgestellt, dass dort fast alles nur in der Landessprache funktioniert. Bei SAP ist eine gemeinsame Sprache aber sehr wichtig, denn wir arbeiten eng verzahnt miteinander. Es gibt kaum Projekte bei denen niemand weiß, was der andere tut.
Sie müssen sich das so vorstellen: Eine Spezifikation wird losgeschickt und ein Stück Software kommt zurück. Kommunikation spielt da eine große Rolle - und die funktioniert nur, wenn beide Seiten die gleiche Sprache sprechen. Ich persönlich wäre sicher sehr gern nach China gegangen, unter anderem weil ich dort studiert habe. Aber man handelt ja nicht im eigenen Sinne, sondern in dem des Unternehmens.
Waren die Sprachkenntnisse der einzige Grund, warum Sie Indien China vorzogen?
Neumann: Nein. Indien hatte Ende der 90er Jahre einen sehr gesunden Arbeitsmarkt im Bereich IT. Es gab im Gegensatz zu Deutschland ein Überangebot an Fachkräften. Der eigentliche Auslöser, der uns nach Indien brachte, war der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland.
Gerade Ende der 90er Jahre lief das Geschäft sehr gut, und wir haben damals nicht mehr genügend Mitarbeiter in den mittleren Neckarraum locken können. Wenn man also die exzellenten Software-Entwickler nicht am Heimatstandort akquirieren kann, muss man zu ihnen kommen.
Kommt China heute als Standort von SAP infrage - auch als Alternative zu Indien?
Wir sind in China bereits vertreten und haben dort Mitarbeiter, die sehr tiefes Branchen-Know-how mitbringen, so dass wir dort viele Industrie- und auch Mittelstandslösungen entwickeln. Was die Sprachkenntnisse angeht, hat das Land gewaltig aufgeholt. Inzwischen gibt es dort englische Studiengänge.
Der Nachteil Chinas ist, dass es nur wenig geeignete Standorte gibt. Nur die ganz großen Städte sind attraktiv genug, um Arbeitskräfte anzuziehen. Im Wesentlichen sind das Shanghai als modernes, wirtschaftliches Zentrum und Peking als alte Wissenschaftshochburg. Dort sind die Kosten zwar höher als in Indien, es gibt jedoch in China viele Fachkräfte, um unsere Industrie- und Mittelstandslösungen weiterzuentwickeln.
SAP wird also weiterhin in beiden Märkten aktiv sein?
Wir würden nie alle Eier in einen Korb legen. Selbst wenn wir in China um 50 Prozent wachsen würden, wäre das bei heute rund 500 Mitarbeitern nicht viel. Wir können das Wachstum Indiens nicht einfach nach China verschieben. Man muss aber sagen: Das Arbeitskräftepotenzial ist vorhanden.
Hängt das auch damit zusammen, dass die Spitzenkräfte in Indien langsam zu teuer werden?
Ich möchte eher sagen, dass die Spitzenkräfte teurer werden im Verhältnis zu anderen so genannten Emerging Countries. Die Erwartungen in Indien sind hoch. Bei einer Gehaltserhöhung im niedrigen zweistelligen Bereich werde ich von den Mitarbeitern enttäuscht angeschaut. Das liegt unter anderem an der Presse, die die aktuellen Gehaltssteigerungen - gerade in der IT-Branche - immer wieder thematisiert. Wenn ständig Schlagzeilen von 18 Prozent Gehaltssteigerung zu lesen sind, können wir kaum noch mit zwölf Prozent kommen. In den letzten Jahren betrugen die allgemeinen Gehaltserhöhungen durchschnittlich 16 Prozent.
Der oberste Wissenschaftskoordinator Indiens meint, indische Gehirne würden zum Öl des 21. Jahrhunderts, deren Wert ständig steige. Stimmen Sie dem zu?
Die Ausbildung in Indien ist stark mathematisch orientiert. Kinder lernen sehr früh, mit großen Zahlen umzugehen. Mein vierjähriger Sohn muss beispielsweise schon bis 30 zählen und einfache Rechenaufgaben lösen können. Außerdem gibt es ausschließlich Ganztagsschulen, dort wird eindeutig mehr vermittelt.
Das indische Bildungssystem hat aber auch gewisse Nachteile. Der Druck auf die Schüler ist durch hohe Schulgebühren sehr groß. Die Gebühren betragen bis zu einem Drittel des Familieneinkommens, egal aus welcher Schicht jemand kommt. Somit geht vom Elternhaus ein großer Druck aus, dass die Kinder in der Schule erfolgreich sind. Aber natürlich können nicht alle zu den Besten gehören. Daher gibt es in Indien auch eine relativ hohe Selbstmordrate unter den Schulkindern, die dem Leistungsdruck nicht gewachsen sind. Zudem ist es extrem schwer, an der Universität angenommen zu werden.
Das heißt aber auch, dass die Absolventen sehr gut ausgebildet sind.
Neumann: Genau. Die Männer und Frauen, die direkt von der Universität kommen, beherrschen Informatik und mathematische Zusammenhänge sehr gut. Und sie sind äußerst jung. Das ist einerseits gut, bringt andererseits aber auch gewisse Schockfaktoren mit sich. In einem internationalen Unternehmen geht es eben anders zu als in indischen Universitäten. An der Hochschule werden die Jugendlichen geradezu darauf gedrillt, sich allein durchzusetzen. In der Uni zählt der Einzelne - bei der Software-Entwicklung das Team.
Kann man aus dem indischen Weg Lehren für das deutsche Bildungssystem ziehen?
Neumann: Ich denke, dass man in Deutschland früher anfangen muss. Als meine Tochter ihren Einschulungsbescheid von der deutschen Schulbehörde bekam, konnte sie ihn bereits selbst schriftlich in zwei Sprachen beantworten, weil sie das an einer indischen Schule gelernt hatte.
Hierzulande werden Disziplin und Lernwille der Kinder zu sehr auf die Schule abgewälzt. In Indien sind die Eltern viel stärker eingebunden. Ihre Verantwortung für den schulischen Erfolg der Kinder ist dort höher. Das wird so gefühlt und gelebt. In Deutschland gilt allzu oft das Motto "Was nichts kostet, zählt nichts". Ich halte es durchaus für richtig, dass Schule und Bildung auch etwas kosten können. Dadurch wird auch eine gewisse Ernsthaftigkeit in der Ausbildung erzeugt.
Ist die Indien-Euphorie für deutsche Unternehmen Risiko oder Chance?
Das kommt auf die Unternehmensgröße an. Für Unternehmen wie SAP, Siemens oder Bosch - also Firmen, die mehrere Tausend Mitarbeiter in der Software-Branche beschäftigen - ist Indien ein wichtiger Standort für Forschung und Entwicklung. Für Deutschland sage ich klar: Indien bedeutet Konkurrenz.
Gerade mittelständische IT-Unternehmen werden Schwierigkeiten haben, sich gegen die Inder durchzusetzen - wenn sie es nicht verstehen den Vorteil zu nutzen, den es definitiv auch gibt. Der liegt darin, Arbeit in Indien einzukaufen, die dort billiger ist und so hier konkurrenzfähiger zu werden.
Also müssen die Konzerne mitziehen, um wettbewerbsfähig zu bleiben?
Ja. Das ist wie in allen anderen Bereichen: Man muss die Kostenstruktur im Auge behalten. Da spielt Indien - zumindest für IT-Firmen - nun mal eine große Rolle.
Würden Sie deutschen Unternehmern heute noch empfehlen, den Schritt nach Indien zu wagen?
Neumann: Grundsätzlich ja, man muss aber viel genauer auswählen als früher. Unternehmer sollten keinem Trend hinterherlaufen, nach dem Motto: "Ich habe gehört, Bangalore ist ein IT-Mekka, deshalb muss ich auch unbedingt hin." Heute sollte man sich viel differenzierter mit dem Land beschäftigen.
Werden die Risiken unterschätzt?
Neumann: In gewisser Weise ja. Indien besitzt eine stabile, zentrale Demokratie, das ist ein Vorteil. Allerdings bestehen politische Risiken, beispielsweise der Konflikt mit Pakistan. Erst vor kurzem wurde in Bangalore ein Terrorist verhaftet, der in Pakistan ausgebildet und nach Indien zur IT-Ausbildung geschickt wurde. Auch innerhalb des Landes gibt es immer wieder terroristische Umtriebe, wie in Assam, wo vor wenigen Wochen 60 Menschen von einer Befreiungsbewegung erschossen wurden.
Ich sehe aber auch Risiken in der derzeitigen Umweltsituation. Die Ressourcen werden massiv ausgebeutet. In Bangalore hat beispielsweise jedes Haus seinen eigenen Brunnen, egal wie tief. Gerade Wasser hat in Südindien schon häufig zu Konflikten geführt. Wir mussten unser Büro mehrfach schließen, weil es in der Stadt zu Unruhen kam. Solcher Dinge sollte man sich bewusst sein, bevor man nach Indien geht.
Kann der Indien-Boom so weitergehen wie bisher?
Neumann: Ja. Indien kann sich in Zukunft nur selbst ein Bein stellen. Der große Vorteil des Landes sind seine engagierten Unternehmer und die motivierte Bevölkerung. Indien verändert sich extrem schnell und wird nie langweilig.
Dieses Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung von manager-magazin.de.