Nicht immer, aber immer öfter finden sich Artikel über den Wert der Intuition im Berufsleben. Das ist gut. Weniger gut ist, dass dabei meist nur das Hohelied der Expertise erklingt. So lautet innerhalb dieser äußerst begrenzten Sichtweise der Rat jedes Mal: Ja, sie dürfen Ihrer Intuition oder der anderer vertrauen, sofern Sie oder die anderen über einen ausreichenden Erfahrungsschatz im relevanten Entscheidungsbereich verfügen. Aber sie sollten besser - und da ist der Konjunktiv wichtig - der Intuition nicht vertrauen, wenn kein langjähriger Erfahrungsschatz vorhanden ist.
Dieser wissenschaftliche Ratschlag ist ebenso richtig wie falsch. Und das hat folgenschwere Konsequenzen in der beruflichen Praxis.
Intuition von Experten
Richtig ist die Aussage insofern, als das wir seit mehreren Jahrzehnten wissen, dass Experten über ein zunehmendes Maß an Intuition verfügen. Der Grund ist einfach: Unsere bewusst erzielten Erfahrungen sacken mit den Jahren in unser Unbewusstes ab und bilden dort einen immer größer werdenden Pool an Informationen, wie wir in bestimmten Situationen Erfolge und Misserfolge erreicht haben.
Wer nach ungefähr 10 Jahren intensiver Auseinandersetzung mit einem Thema vor einer Entscheidungssituation in seinem Fachgebiet steht, führt unbewusst einen Mustervergleich durch: Die augenblickliche Situation wird unbewusst in parallelen Informationsverarbeitungen, die deutlich schneller verlaufen als aufeinander folgende, bewusste Informationsverarbeitungen, mit früheren Situationen verglichen. Der Experte weiß dann häufig intuitiv, was zu tun ist.
Tacit Knowledge
Dieses Modell des "Erfahrungswissens" (tacit knowledge) erklärt hervorragend, warum Experten schneller, eleganter und oft treffsicherer zu Entscheidungen kommen als Anfänger. Das klassische Beispiel zur Illustration sind Schach(groß)meister, die den nächsten Zug und ihre Strategie wesentlich weniger durchdenken müssen als Anfänger. So wird auch schnell plausibel, warum Schachexperten in Synchronspielen gegen mehrere schwächere Gegner trotzdem häufig gewinnen können.
Was bei diesem Erklärungsmodell, das durchaus plausibel ist, jedoch so gut wie immer verschwiegen wird: Experten unterliegen naturgemäß häufiger der Erfahrungs- oder Erfolgsfalle als Anfänger. Wiederum ist der Grund simpel: Die aktuelle Erfahrung muss keineswegs deckungsgleich mit einer gespeicherten Erfahrung sein. Das führt dazu, dass die aktuelle Situation über die Klinge alter Erfahrungen geschoren wird. Sprich: Bedeutsame Unterschiede, die ein anderes Vorgehen als das bereits einmal oder mehrmals erlebte erfordern, werden übersehen. Die aktuelle Situation führt beim Experten dann zu derselben Entscheidung, die bereits einmal oder mehrmals erfolgreich war.
Expertise kann des Weiteren dazu führen, dass sich Experten ihrer Sache zu sicher sind. Es entsteht, was Nassim Nicholas Taleb, der Autor des Weltbestsellers Der Schwarze Schwan als epistemische Arroganz bezeichnet hat. Wir neigen auch als Experten dazu, unser Wissen und Können zu überschätzen, unser Nichtwissen jedoch zu unterschätzen.
Unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
Ausgesprochen falsch ist das Hohelied der Expertise, wenn sie zu dem Rat führt, Anfängerintuitionen nicht ernst zu nehmen. Denn neben dem Erklärungsmodell des Erfahrungswissens gibt es noch das genauso fundierte Erklärungsmodell der unbewussten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Es ist mittlerweile unstrittig, dass wir unbewusst wesentlich mehr Daten wahrnehmen und zu Informationen weiterverarbeiten als bewusst. Und zwar immer. Unabhängig davon, ob wir in einem Gebiet schon Experte sind oder nicht.
Ein über 30 Jahre zurückliegendes wissenschaftliches Experiment illustriert diesen Mechanismus: Probanden wurden einige der Regeln einer sogenannten "künstlichen Sprache" beigebracht. Danach wurden ihnen Zeichenkombinationen gezeigt (zum Beispiel: XCAAF) und sie sollten spontan entscheiden, ob diese Zeichenfolge richtig oder falsch ist, also den Regeln entspricht. Das überraschende Ergebnis: Obwohl die Testpersonen nur einen Teil der Regeln zuvor bewusst erlernt hatten, antworteten sie weit überzufällig richtig (was unmöglich gewesen wäre, wenn die Testpersonen nur über die bewusst erlernten Regeln verfügt hätten).
Noch interessanter war allerdings das Ergebnis der dritten Phase des Experiments: Nach ihrer Entscheidung ob richtig oder falsch, sollten sie erklären, warum die Zeichenfolge richtig oder falsch ist. Nun antworteten überzufällig viele der Teilnehmer falsch. Das heißt: Sie hatten sich zwar richtig entschieden, wussten aber nicht warum! Der amerikanisch-ungarische Chemiker und Sozialwissenschaftler Michael Polanyi brachte dies wunderbar auf den Punkt: "Wir wissen mehr, als wir sagen können." Selbstverständlich wurde dieses Experiment in allen möglichen Variationen immer wieder durchexerziert. Die Ergebnisse zeigten immer wieder denselben Fakt, dass wir unbewusst mehr Daten wahrnehmen und verarbeiten, als bewusst.
Intuition von Anfängern
Es ist aber auch jenseits psychologischer Testlabors reichlich plausibel, dass wir als Anfänger durchaus wertvolle Intuition haben können, die wir in unseren Entscheidungsprozess einbeziehen sollten. Wie entscheiden zum Beispiel Unternehmer, die einen neuen Markt erschließen oder ein neuartiges Produkt entwickeln und vermarkten? Qua Definition haben weder diese Menschen noch sonst jemand langjährige Expertise in dem jeweils relevanten Bereich. Es handelt sich schließlich um Neuland. Und das ist weder vermessen noch kartografiert. Würden Unternehmer auf das ewig gleiche, mittlerweile ziemlich eintönige Mantra der Expertise hören, wären sie vollständig unfähig, zu entscheiden. Fortschritt wäre unmöglich.
All dem zufolge ist es sinnvoll und zieldienlich, nicht nur auf Expertenintuition zu achten, sondern auch auf die Eingebungen von Anfängern. Egal, ob man selbst der Anfänger ist oder die Mitarbeiter. Was übrigens keineswegs heißt, dass wir diesen Intuitionen reflexhaft folgen sollen. Es empfiehlt sich aber, sie gleichberechtigt neben unser bewusst rationales Kalkül zu stellen und erst dann zu entscheiden. Ansonsten verschenken wir den Schatz der unbewussten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Was in Zeiten von Big Data ausgesprochen sonderbar wäre.
Andreas Zeuch promovierte in Erwachsenenbildung über das Training professioneller Intuition. Er arbeitet seit dem Jahr 2003 als freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker mit dem Schwerpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Managementinnovation. (CFOworld)