Wer es bis jetzt nicht glaubte, dem dürfte ein Messerundgang über die diesjährige Hannover Messe Industrie (HMI) die Augen öffnen. Es ist keine Frage mehr, wann und ob Industrie 4.0 oder IoT (Internet of Things) in der Fertigungsindustrie ankommen - diese Themen sind bereits da. So gibt es kaum einen Messestand ,auf dem nicht eines der beiden Themen adressiert wird.
IOT: IT trifft OT
Dabei ist im Zusammenhang mit IoT auf der Messe folgendes Wortspiel beliebt: IT trifft OT, also die Information Technology trifft auf die Operation Technology. Dieser harmlose Satz verbirgt einen Konflikt, der sich hinter den Kulissen beziehungsweise unterschwellig auf der Hannover Industrie Messe abspielte: Der Clash of Cultures. Denn auf dem Weg der Digitalen Transformation ist noch nicht ausgemacht, wer das Rennen macht und künftig den Ton angibt: Die IT-Industrie mit ihrem Know-how in Sachen Data oder die Hersteller von Fertigungsanlagen mit ihrem Prozesswissen. Dabei dürften auf beide Segmente Umwälzungen zurollen wie vor etwa über zehn Jahren bei der Einführung von Voice over IP (VoIP) - die neue Technik vernichtete damals die einst so stolze deutsche TK-Industrie, da diese die Herausforderungen nicht annahm und die erforderlichen Transformationsprozesse verschlief. Noch ist es auf Herstellerseite offen, wer diesmal das Rennen macht.
Losgröße 1 wird Realität
Und der Einzug dieser Techniken bedeutet für die Unternehmen einen fundamentalen Wandel - klassische Produktionsprozesse reichen nicht mehr, um im globalen Wettbewerb zu überleben. Und die Kundenbeziehungen von einst werden auf einen neuen Level gestellt, bei dem sich das Verhältnis zwischen Kunde und Hersteller komplett umdreht: B2C war einmal, das neue Credo des 21. Jahrhunderts heißt nun C2B. Oder anders formuliert, ein Unternehmen entwickelt und produziert nicht mehr ein Produkt, das es auf dem Markt offeriert - sondern jetzt bestimmt der Kunde, welches Produkt der Hersteller produziert. Die sprichwörtliche Losgröße 1 wird also Realität.
Von der Smart Factory zur kognitiven Fabrik
Wer in diesem Szenario überleben will, kommt also nicht umhin seine Produktion zu flexibilisieren und gleichzeitig eine Qualitätsprüfung eklatant zu verbessern, da in der Smarten beziehungsweise Digitalen Fabrik die Fehlerrate gegen Null tendiert. Für viele Aussteller auf der HMI war die Smart Factory allerdings bereits kalter Kaffee. Sie propagieren bereits - wie etwa IBM - die kognitive Fabrik. Diese Fabrik analysiert Fehler/Probleme in der Produktion selbst und hilft den Beschäftigten bei der Lösung von eventuell auftretenden Schwierigkeiten. Für diese intelligente, automatisierte Hilfestellung wird Watson-Technologie genutzt. Und das Ganze ist keine Zukunftsmusik mehr. Seit Anfang Januar wird das Konzept einer smarten/kognitiven Fabrik im Mannheimer Werk des Traktorenherstellers John Deere realisiert. Die Einführung erfolgt dabei nicht nach einem starren Projektplan, sondern in einzelnen Agile-Sprints, die durchschnittlich sechs Wochen dauern.
Wem gehören die Daten?
Bevor jedoch mit der Realisierung solcher Projekte begonnen werden kann, haben die Unternehmen eine Grundvoraussetzung zu erfüllen: Sie benötigen einen einheitlichen Daten-Backbone - sprich alle Daten müssen in einem Format vorliegen, das im Office, in der Produktion und bei den Zuliefern gelesen und verarbeitet werden kann. Die Kardinalfrage dabei ist, wer diese Daten verarbeitet: das Anwenderunternehmen selbst, einer der Player aus dem IT-Umfeld oder Fertigungshersteller wie Kuka. Der Anbieter von Robotern gab auf der HMI eine Partnerschaft mit Salesforce bekannt. Das Unternehmen will künftig über die Cloud die Daten seiner Roboter erfassen und so die Kunden in Sachen Wartung unterstützen. Gleichzeitig denkt man bei Kuka über neue Geschäftsmodelle nach: Es wird nicht mehr der Roboter verkauft, sondern eine Anzahl X von Schweißpunkten beziehungsweise Schweißnähte als Service.
Zum Video: IoT ist in der Produktion angekommen
Wird OPC das IP der Produktion?
Eine Grundlage für ein einheitliches Kommunikationsformat legt die Branche derzeit mit OPC UA (Open Protocol for Communication Unified Architecture). Es soll eine einheitliche Kommunikation vom Sensor über Gateways etc. bis hin zu den verarbeitenden IT-Systemen im Backend beziehungsweise in der Cloud ermöglichen. Setzt sich OPC durch, könnte das in der Fertigung ähnliche Auswirkung haben wie damals die Einführung von IP in der Computerwelt als etwa Protokolle wie Novells IPX/SPX oder Microsofts NetBEUI in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Ähnlich könnte es den diversen Bus-Systemen ergehen, die derzeit noch das Bild in den Fabrikhallen prägen. Allerdings dürfte hier die Übergangszeit wohl bei rund zehn Jahren liegen.
Für die wachsende Bedeutung von OPC UA im Industrieumfeld spricht unter anderem, dass Microsoft das Protokoll nun in seiner Azure-Cloud unterstützt. Auf diese Weise können Industriemaschinen über die Cloud miteinander verbunden, über eine verschlüsselte Verbindung zentral gesteuert und an Businesssoftware wie ERP- und CRM-Systeme angebunden werden. Außerdem stellt Microsoft eine Windows-10-kompatible Version der OPC-UA-Referenzimplementierung zur freien Nutzung auf Github zur Verfügung. Auf diese Weise können künftig alle Windows-10-Geräte über das Protokoll mit anderen IoT-Devices kommunizieren.
Alles eine Frage der Security
Die digitale Transformation mit IoT hat für die Unternehmen noch eine weitere Konsequenz: Sie müssen ihre Netze öffnen, denn damit die Smart Factory funktioniert, ist es erforderlich, dass etwa der Roboter mit dem Zulieferer kommuniziert oder der Roboterbauer Zugriff auf seinen Roboter erhält, um Updates aufzuspielen oder eine Predictive Maintenance zu realisieren. Als naheliegendste Security-Lösung halten jetzt die aus der IT-Welt bekannten VPNs verstärkt im Produktionsumfeld Einzug. Hochspezialisierte Firmen wie etwa Wibu Systems aus Karlsruhe arbeiten bereits daran IT-Features wie Zertifikate, Digitale Signatur, Verschlüsselung und Authentifizierung in der Produktionswelt einzuführen. Eingebaut in den Controllern etc. soll so sichergestellt werden, dass die Kommunikation von Anfang bis Ende geschützt verläuft und nicht etwa Hacker die Produktion übernehmen. Die größte Angst haben die Hersteller dabei vor stillen Angriffen: Etwa wenn ein Hacker, ohne dass es weiter auffällt, stillschweigend die Lackmenge in einer Autofabrik ändert. Im worst-case-Szenario würde dieser erfolgreiche Angriff erst einige Jahre später bemerkt, wenn die entsprechenden Fahrzeuge auf einmal rosten. Für das betroffene Unternehmen wäre dies ein Millionen- wenn nicht Milliarden-Schaden.
Diese Gefahren - aber auch die oben angesprochenen Grundsatzentscheidungen, die zu fällen sind - zeigen, dass IoT, Industrie 4.0 und Smart Factory strategische Grundsatzentscheidungen sind. Und diese sollten, so war man sich auf der HMI unisono einig, auf Geschäftsführer- oder CEO-Ebene getroffen werden. Dabei sollten aber die Mitarbeiter nicht vergessen werden, denn mit IoT und Smart Factory verändert sich auch die Arbeitswelt radikal.
Zum Video: IoT ist in der Produktion angekommen
Industrie 4.0 braucht Arbeit 4.0
So bot die Hannover Messe mit Blick auf die Zukunft der Arbeit in der Produktionsindustrie ein gemischtes Bild. Darüber konnten auch Scharen von Berufsschulklassen und Dutzende von Jobständen nicht hinweg täuschen. Zwar hatte der Bitkom im Vorfeld der HMI eine Umfrage präsentiert, die andeutete, dass mit Industrie 4.0 nicht unbedingt ein massiver Stellenabbau erfolgen wird. Dass nur sieben Prozent der Befragten angaben, in diesem Jahr Mitarbeiter infolge der Nutzung von Industrie 4.0 entlassen zu wollen und nur sechs Prozent aus diesem Grund 2015 Jobs strichen, sagt allerdings nicht sehr viel über die Pläne für die weitere Zukunft aus. Nicht zuletzt verfolgen laut Bitkom-Umfrage knapp ein Fünftel der Unternehmen das Ziel, mit Industrie 4.0 Personalkosten zu senken.
Zum Video: IoT ist in der Produktion angekommen
Doch wenngleich die konkreten Auswirkungen auf die Menge der benötigten Jobs noch nicht klar erkennbar sind - für Professor Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), ist es absehbar, dass sich mit den Produktionsabläufen auch die Arbeitsplätze in den Fabriken verändern - ähnlich wie in den Büros, wo die digitale Arbeitsweise bereits angekommen ist. Dennoch stehe aus seiner Sicht der Mensch in der Arbeitswelt der Zukunft weiter im Vordergrund, es gelte nur, die Vorteile von Mensch und Maschine zum Tragen zu bringen. Während für den Maschineneinsatz Stärken wie physische Kraft, Wiederholbarkeit, Genauigkeit, Ausdauer oder die Fähigkeit zum Multitasking sprechen, verfüge der Mensch über Dinge wie Kreativität, die Fähigkeit zur Beurteilung und Entscheidung, Lösungskompetenz, Intuition, Gefühl, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit und soziale Kompetenz.
"Es gibt sehr viel, was Menschen sehr gut können und das auf absehbare Zeit auch weiter tun werden", konstatierte Bauer in einer Veranstaltung zum Thema "Digitalisierung in der Automobilproduktion" auf der HMI. Bei allen Vorteilen der Automatisierung sei es daher wichtig, die Menschen für das digitale Arbeiten zu qualifizieren. "Wir müssen Anwendungen menschengerecht gestalten, die Nutzer in Design und Entwicklung miteinbeziehen und eine sozioökonomische Forschung etablieren, die die Technik miteinbezieht", so Bauer. Sein Fazit: Die Arbeit verändert sich etwas, aber im positiven Sinne.
Rund um das Thema Produktionsarbeit der Zukunft hat das Fraunhofer IAO zahlreiche Anwendungsbeispiele und Einsatzszenarien entwickelt, die auf der HMI gezeigt werden. Im Forschungsprojekt KapaflexCy (Infoblatt - PDF) etwa wurde eine selbstorganisierte Steuerung entwickelt, die es Unternehmen erlaubt, ihre Produktionskapazitäten unter direkter Beteiligung der ausführenden Mitarbeiter hochflexibel, kurzfristig und unternehmensübergreifend zu steuern. Die Arbeitszeiten folgen dem Bedarf, die Mitarbeiter stimmen ihre Einsatzzeiten per Smartphone-App ab - untereinander und unter Berücksichtigung privater und beruflicher Interessen.
Um die Unterstützung des Menschen durch Maschinen wiederum dreht sich das Fraunhofer-Projekt Robokoop. Ziel des Forschungsprojekts ist ein Montagesystembaukasten, mit dem auch kleinere Unternehmen schnell und kostengünstig eine Automatisierungskomponente durch Leichtbauroboter in ihren Produktionsablauf einfügen können. Solche kooperativen Montageumgebungen sollen es dann durch die Assistenz von Robotern ermöglichen, Auftragsspitzen und Personalengpässe aufzufangen.