Peter Kraus lupft seine buschigen Augenbrauen: "Heute morgen dachte ich kurz, ich bin bescheuert." Das war auf dem Weg zum ersten Flieger von Friedrichshafen nach Hannover - früh, sehr früh. Kraus will als Ex-CIO von ZF eigentlich nicht mehr so früh aufstehen. Sein Nachfolger Jürgen Sturm soll das jetzt machen. Kraus schmökert morgens lieber in der Zeitung: "Auch mal einen Artikel auslesen", schwärmt er - sich auch mal um Zukunftsthemen kümmern. Genau dafür ist er an diesem Messe-Dienstag aus den Federn gekrochen: Im "Global Industry Club" diskutieren rund 100 Manager das Thema Industrie 4.0. "Ist schön, die alten Kollegen wiederzusehen."
Aber es sind gar nicht nur CIOs und Ex-CIOs, die ihre Liebe zur Produktion entdecken - dann hätten sie ja auch auf der CeBIT bleiben können. Der Zuspruch von der Business-Seite ist genauso groß. Bernd Kuntze, CIO von Haas Food Equipment und Mittelstands-CIO des Jahres 2012, hat nicht nur einen Nicht-IT-Kollegen in den Global Industry Club mitgebracht, sondern auch gleich den Firmeneigentümer. Das Interesse an Industrie 4.0 oder dem "Industrial Internet" ist besonders groß bei denjenigen, die mit ihrem eigenen Geld bezahlen, wenn in der Produktion die Dinge eben nicht so zusammenlaufen, wie sie es eigentlich könnten.
"Ich bin kein Experte - deshalb bin ich hier"
Marcus Wallenberg, Eigentümer des gleichnamigen schwedischen Banken- und Industriekonzerns, sagt: "Ich war schon viele Male auf der Hannover Messe. Aber gerade ist es besonders spannend zu sehen, was in Deutschland passiert." Wallenberg, gerade zurück aus dem Silicon Valley, nennt zunächst bekannte Beispiele: Amazon und Alibaba sind die weltgrößten Retailer - ohne einen Laden zu besitzen, Uber ist das weltgrößte Taxiunternehmen, ohne ein Auto zu besitzen, Airbnb ist die weltgrößte Hotelkette, ohne ein Bett zu besitzen.
Wenn nun also die Services wichtiger werden als die Produkte, dann sollte sich die Industrie diesem Trend stellen. Wallenberg glaubt, dass sich auch ABB, Ericsson, Elektrolux oder Atlas Copco - um nur einige seiner Beteiligungen zu nennen - ändern müssen. Allerdings: Wie weit Industrie 4.0 ihm dabei schon konkret helfen kann, da ist er sich auch noch nicht ganz sicher: "Ich bin kein Experte - deshalb bin ich hier."
IIC noch in der Findungsphase
Experte ist Richard Soley, Executive Director des Industrial Internet Consortium (IIC), das sich zum Ziel gesetzt hat, Maschinen besser mit Maschinen kommunizieren zu lassen. "Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat geschrieben, wir seien auf Standards fokussiert", sagt Soley: "Aber so weit sind wir noch gar nicht." Im IIC gehe es erst einmal darum, die richtigen Player an einen Tisch zu bekommen - "solche, die disruptiv sein wollen". Dabei ist das Konsortium erfolgreich: 157 Mitgliedsunternehmen hat das IIC seit gut einem Jahr gesammelt, darunter jüngst auch Siemens.
Gründungsmitglieder sind indes AT&T, Cisco, GE, IBM und Intel - was dem IIC den Ruf eingetragen hat, eine amerikanisch dominierte Veranstaltung zu sein. Soley ärgert das, denn sein Anspruch ist ein globaler - und mit Bosch und Siemens hat er ja auch gute Belege dafür. Trotzdem bleibt der Verdacht. Und den nutzen die regionalen Interessenvertreter, um sich erst einmal in kleineren Netzwerken zu sortieren. 17 Initiativen zählt die Europäische Kommission allein in der EU. Dabei ist allen klar, dass das Industrial Internet eine weltweite Angelegenheit ist. Trotzdem versuchen alle, in kleinen Kreisen Einigkeit herzustellen, denn es geht am Ende um die Frage: Wer verschafft sich einen Standortvorteil durch für ihn passende Standards?
Politik lässt sich nicht lumpen
So müht sich auch die Bundesregierung, eine Interessenvertretung für alle Deutschen zu bilden. Auf der Hannover Messe gaben Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Bundesforschungsministerin Johanna Wanka um neun Uhr morgens den offiziellen Start der Plattform Industrie 4.0 bekannt. Mit dabei: Bitkom, VDMA, ZVEI, die Fraunhofer-Gesellschaft und die IG Metall. "Wir müssen gerade beim Thema Industrie 4.0 an unsere vorhandenen Stärken in Deutschland anknüpfen", erklärte Gabriel. Bis zum nächsten IT-Gipfel im November soll ein neues Papier erstellt werden, wie dieses Ziel zu erreichen sei.
An Papier mangelt es generell nicht beim Thema Industrie 4.0. Die Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) rund um den ehemaligen SAP-Vorstand Henning Kagermann legt seit drei Jahren reichlich vor. Beim Vorabend-Event zur Ministerrunde klopften sich Kagermann und die Vertreter von Siemens, SAP und Accenture tüchtig auf die Schultern. Konsens, dass es gut wäre, wenn Maschinen mit Maschinen reden, herrscht überall. Dass sie es auch außerhalb der Produktion noch tun sollten, wenn beim Kunden Services zu erbringen sind, finden auch alle richtig. Auf der Meta-Ebene ist eigentlich alles klar. Nur im Konkreten …
Pragmatiker wie Peter Kraus erscheinen erst nach der Ministerkonferenz auf der Messe. Früh ist ja okay, aber so früh muss es nun wirklich nicht sein. Kraus kommt zur Ständetour des Global Industry Club, die um 10.30 Uhr auf dem pompösesten Stand der ganzen Messe beginnt: Siemens zeigt, was unter anderem die 17.500 Softwareentwickler des Konzerns ersonnen haben.
"Im Geschäftsjahr 2014 haben wir rund vier Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert, also rund sechs Prozent vom Umsatz", erklärt CTO Siegfried Russwurm: "2015 werden es 4,4 Milliarden sein." Und - anders als auf der CeBIT, wo die Besucher virtualisierte Server und Cloud-Lösungen erahnen können - gibt es bei Siemens tatsächlich Dinge zu sehen und anzufassen. Russwurm sitzt als Vorstand auch in allen erdenklichen Gremien zum Thema Industrial Internet. Für ihn geht es ums Sondieren, vor allem beim IIC mit dessen amerikanischen Gründern.
Da diese vor allem auf den Consumer-Markt fokussieren, hätten sich zum Beispiel die Ciscos bei den Frequenzstandards für WLAN durchgesetzt - super, um Unterhaltungsdaten zu transportieren. Nicht so super, um Maschinen zu steuern. Bei Siemens als Weltmarktführer in der Automatisierungstechnik haben sich die Prioritäten mittlerweile mehr in Richtung Sicherheit und Zuverlässigkeit verschoben.
Vielleicht sind ihm deshalb Partner näher, die sich auf B2B konzentrieren. Siemens und SAP haben auf der Hannover Messe eine enge Kooperation im Bereich Industrie 4.0 angekündigt. Zusammen hätten sie vielleicht das Potenzial, weltweite Standards zu setzen.
Wenngleich: Siemens schlachtet als Marktführer für Product-Lifecycle-Management (PLM) das Thema Industrie 4.0 für sich aus. SAP macht das Gleiche von der Finanz- und Controlling-Seite. Wie kooperativ und neidlos beide Partner auf dem neuen Geschäftsfeld zusammenarbeiten, bleibt abzuwarten. SAP steuert ebenso wie Siemens Maschinen, die sich darüber unterhalten, was sie jetzt produzieren wollen.
Wie die Ständetour zeigt, funktioniert das bis runter zur Losgröße eins. Fasziniert steht Johannes Helbig vor den Festo-Fertigungsstraßen und guckt zu, wie die Roboter, von SAP-Software gesteuert, Einzelstücke basteln. "Haben Sie früher auch mit Fischertechnik gespielt?", fragt der Ex-CIO der Deutschen Post.
"Industrie 4.0 klingt zu sehr nach Revolution"
So wird es wohl laufen: Viele kleine Einzelentwicklungen treiben die Industrie 4.0, ein Begriff, den Soley vom IIC übrigens gar nicht mag: "Klingt zu sehr nach Revolution", sagt der Amerikaner. Anders als bei den technischen Revolutionen von Google oder Apple werde es beim "Industrial Internet" kein einzelnes Unternehmen schaffen, die Standards zu setzen und somit revolutionär zu wirken. Eine neue Studie der RWTH Aachen im Auftrag des indischen Anbieters Infosys kommt zum selben Ergebnis.
Die Forschungseinrichtung FIR von Professor Günther Schuh hat untersucht, wie weit 500 Industrieunternehmen aus USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und China mit der Vernetzung ihrer Maschinen fortgeschritten sind. Demnach verfolgen nur 14 Prozent einen ganzheitlichen, analytischen Ansatz, um Fehler und Stillstände in der Produktion zu vermeiden. Ganz hinten liegt Großbritannien mit nur sechs Prozent.
In Deutschland und den Vereinigten Staaten schaffen es immerhin 15 Prozent der Unternehmen. Und China führt mit 16 Prozent. Über die genauen Ursachen mag sich Schuh noch nicht äußern. Im Mai sollen alle Daten der Untersuchung ausgewertet sein. Aber schon jetzt drängt sich eine Erklärung auf.
Die Chinesen legen einfach los
Die chinesischen Unternehmen gehen einfach voran. Während Amerikaner im IIC über das Industrial Internet diskutieren und Deutsche beim Thema Industrie 4.0 einen breiten gesellschaftlichen Konsens schaffen wollen, legen die Chinesen schon mal los. Auch sie haben natürlich einen Verband, der kurioserweise auch die deutsche Bezeichnung Industrie 4.0 als Titel gewählt hat. Der deutsch dominierte Global Industrie Club hat ihn gerade mit einer kleinen Delegation unter Leitung von Schindler-CIO Michael Nilles in Shanghai besucht.
Dabei ging es aber eher um Best Practices in Unternehmen, nicht um programmatische Ziele oder Standards. Wer auf den großen Wurf wartet, verliert wahrscheinlich einfach nur Zeit. So viel hat die Messe deutlich gemacht: Es gibt eine Menge kleine Lösungen, eine ideale Annährung an Industrie 4.0 wird es aber nicht geben.
Der Global Industry Club
Der Global Industry Club (GIC) ist eine Plattform für Executives aus den Bereichen IT, Produktion und Logistik. Gemeinsam mit Vertretern aus Wissenschaft und Politik entwickeln sie praxisnahe Lösungen. GIC ist eine Erfindung von Gabriele Rittinghaus, vielen CIOs als ehemalige Geschäftsführerin von Finaki und somit auch des IT-Management-Kongresses Inkop in Erinnerung.