Claude Roeltgen tippt mit dem Finger auf eine Anzeigenseite von Hewlett-Packard (HP), die er gerade aus einer Wirtschaftszeitung herausgerissen hat: „Konfigurieren Sie 64 Server in 15 Minuten“ steht dort schwarz auf weiß. „Wissen Sie, was passiert, wenn ein CEO das liest?“, fragt Roeltgen, der gar nicht erst die Antwort auf seine Frage abwartet, sondern sie gleich hinterher liefert: „Er ruft die Hotline an und informiert sich, ehe er dann den CIO damit konfrontiert und fragt, warum denn im eigenen Haus immer alles so kompliziert ist.“
Mit seinem Buch „Eine Million oder ein Jahr“ greift Claude Roeltgen übliche Vorbehalte auf, IT sei teuer und dauere ewig. Seine Botschaft: IT ist kein Auto, in das man sich hineinsetzt, den Zündschlüssel umdreht und Gas gibt. IT sei auch keine Landschaft, schon gar keine blühende, sondern eher ein Biotop aus verschiedenen IT-Systemen, das immer für eine Überraschung gut sei. Gerade die Schnittstellen zwischen verschiedenen Systemen seien ein leidiges Thema, das vor allem auch langwierig sei und viel Betreuung erfordere.
Das sind verständliche Worte – zunächst an seinen Vater adressiert, der sein Leben lang mit Computern nur am Rande zu tun hatte. „Was machst Du eigentlich genau?“, fragte der Mann. Bei einer Bank irgendwas mit Computern: Das war klar. „Ich schreibe es Dir auf “, sagte der Luxemburger CIO daraufhin. Eine der wichtigsten Botschaften: „Es funktioniert nichts auf Knopfdruck“, weiß Roeltgen aus 18 Jahren Erfahrung als Banken-CIO. Das ist auch für viele Mitarbeiter der Bank neu.
Die Ursachen dafür sind so vielseitig wie beispielsweise die Beziehungen zwischen Schilfen, Algen, Kröten, Libellen und Wasserläufern in einem Tümpel. Keiner weiß, ob durch eine neue Tier- oder Pflanzenart ein Mehrwert geschaffen oder das Gleichgewicht zerstört wird, schreibt der Wirtschaftsinformatiker. Hinzu kommt, dass Dienstleister ihre Software in einem eigenen Biotop präsentieren, das Hauptbiotop im Unternehmen allerdings wesentlich größer und erheblich komplexer sei.
Letzteres weiß Roeltgen spätestens seit der Einführung einer Portfolio-Management-Software für das Privatkundengeschäft: „Die hätte uns fast gekillt“, sagt der Leiter der 18-Mann-IT-Abteilung in Luxemburg. Die Präsentation des namhaften Anbieters war überzeugend. Doch dann stellte sich heraus, dass das Tool „miserabel entwickelt“ und der „Support schlecht“ ist, kommentiert Roeltgen. Nach Krisensitzungen, zurückgehaltenen Zahlungen und vielem Hin und Her gab es nach zwei Jahren zäher Entwicklungsarbeit schließlich eine Version für die 25 Kundenberater, die daraufhin jeden Morgen 20 bis 30 Minuten auf ihre Kundendaten warten mussten, da das System das Netzwerk fast lahm legte. Heute läuft das Programm. Von einem Folgevertrag sah man jedoch zunächst ab. Und Roeltgens Hoffnung, dass aus diesem Prototyp eine konzernweite Lösung werden könnte, schien in weiter Ferne zu sein. Doch vor wenigen Tagen verkaufte der damalige Anbieter seine Software. „Das könnte die Situation schlagartig ändern“, so Roeltgen.
Während der Krise hielt der CEO der Luxemburger Bank mit 240 Mitarbeitern immer an Roeltgen fest. Der Grund: Mit Problemen geht Roeltgen offen um, er verschickt sogar regelmäßig Newsletter, in denen er etwa Softwareproblemen auf den Grund geht und den Mitarbeitern erläutert, warum es dafür keine Lösung gibt.
Damit schlägt Roeltgen einen offensiven Weg ein, den andere IT-Manager in leitenden Funktionen noch nicht wagen. Zu verbreitet ist besonders im Nicht-IT-Management die Meinung, Fehler dürfe es nicht geben. Ein Leser kam regelrecht in Gewissensprobleme, als er Roeltgens Buch in der Hand hielt. „Das kann ich meinem Chef nicht zum Lesen geben“, so der IT-Manager, „für ihn ist die IT perfekt beherrschbar – und in dem Glauben will ich ihn lieber lassen“.
Das ändert nichts an einem Problem, das in Roeltgens Buch einen hohen Stellenwert genießt – schlecht entwickelte Software. Warum, fragt Roeltgen, gibt es für Software eigentlich keine neutralen Qualitäts-Checks – etwa ähnlich den klinischen Studien von neuen Medikamenten in der Pharmaindustrie? Da werden Programme auf die Unternehmen losgelassen, die wirklich nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen seien. Solche provokative Thesen mag Roeltgen. Mit 23 Jahren Erfahrung als IT-Mann für Banken, davon 18 Jahre als CIO, kann ihm kaum noch jemand was vormachen.
Tacheles Reden über SOX, ITIL und Co
Warum also nicht endlich mal die Wahrheit sagen? Etwa über den Sarbanes-Oxley Act („Die Idee war, dass es zwar Kontrollen gibt, dass aber die Kontrollen nicht kontrolliert werden“): „Auditoren kontrollieren Dinge, die oft an der Realität vorbeigehen, und etliche Informatiker machen das einfach mit. Das ist haarsträubend“, ergänzt der Banken-CIO. Als nächstes Beispiel dient die Information Technology Infrastructure Library ITIL: „Es wird oft vergessen, dass ITIL unglaublich gefräßig in puncto benötigte menschliche Ressourcen ist“, zudem einige Unternehmen ITIL „à la lettre“ umsetzten, also dogmatisch nach Vorschrift, was wiederum die Anwender in höchstem Maße frustriere.
Auch Outsourcing könne ein Problem werden. Etwa wenn der Betrieb von Applikationen an einen externen Dienstleister abgegeben wird. Roeltgen nennt das Phänomen „Comeback des Enduser-Computing“ und meint damit, dass Anwender wieder beginnen, selbst zu programmieren, weil der Dienstleister oft träger ist als ein interner IT-Service und die Lösung schlicht schneller da sein muss.
Gewagt (aber weise) ist seine Einschätzung zum Thema Zentralisierung oder Dezentralisierung. Hier hat Roeltgen im Laufe der Jahre eine gewisse Gelassenheit gewonnen: „Wenn eine Strategie einem nicht gefällt, braucht man nur abzuwarten, bis festgestellt wird, dass sie sich nicht bewährt hat, und schon geht es wieder in die andere Richtung.“
Das heißt jedoch nicht, dass er seine eigenen Prozesse dem Zufall überlässt. In einer Kundenzufriedenheitsanalyse aus dem vergangenen Jahr stellte der CIO fest, dass Services zwar recht gut bewertet werden, aber es gab Überraschungen. Daraufhin initiierte Roeltgen Workshops, in denen er den Dingen auf den Grund gehen wollte. „Die Mitarbeiter hatten überhaupt keinen Überblick über das IT-Framework“, stellt Roeltgen dort fest. Auch hier gingen viele Mitarbeiter davon aus, dass IT wie ein Auto funktioniert.
CEO verschenkt Buch an Mitarbeiter
Damit die das schließlich auch verstehen, was die Unternehmens-IT kann und auch nicht kann, hat der CEO nun allen 240 Mitarbeitern der Luxemburger Dependance das Biotop-Buch geschenkt. Für Werbesprüche à la HP ist er sowieso nicht empfänglich.
Das ist nicht in vielen Unternehmen so: Zu oft gibt es noch eine Kommunikationslücke zwischen Business und IT. Und dann heißt es wieder: „Warum ist bei uns alles so kompliziert? Es geht doch alles viel einfacher.“ Mit diesen Anrufen aus dem Chefbüro ist nach der Lektüre von „Eine Million oder ein Jahr“ wohl nicht mehr zu rechnen.
Ebenso nicht mehr mit den üblichen genervten Sprüchen der Mitarbeiter über ein lahmes Internet, funktionsunfähige Mail-Server oder einen löchrigen Spam-Filter. Zwar ist nicht für alles eine Erklärung da (Key-Learning: Es gibt ja auch nicht immer eine), dafür gibt es jetzt einen neuen Generalschuldigen – das ITBiotop. Und das ist ganz schön komplex.