MÜNCHENER RÜCK

»ITIL ist einfach«

03.12.2005 von Horst Ellermann
Rainer Janßen, CIO der Münchener Rückversicherung, hat schon 1998 mit der IT Infrastructure Library (ITIL) angefangen. Nachdem er jetzt die Prozesse im IT-Betrieb sortiert hat, will er die Anwendungsentwicklung „industrialisieren“.

ES IST WIE MIT ALLEN DINGEN IN DER IT: Vor gerade einmal fünf Jahren – Mitte 2000 – hat die Münchener Rückversicherung ihre Prozesse im IT-Betrieb nach ITIL standardisiert. Zwei Jahre hat die Einführung gedauert. Und jetzt hält CIO Rainer Janßen das Erreichte selbst schon für selbstverständlich: „ITIL für den Betrieb war Vorschule“, sagt Janßen, korrigiert sich dann aber schnell: „Na, sagen wir mal Grundstudium.“

Je mehr er darüber nachdenkt, desto besser erinnert er sich an die Widerstände, die es beim Einführen der normierten Arbeitsverläufe gegeben hat: „Bei ITIL haben wir gelernt, was ein Veränderungsprozess ist“, grübelt Janßen: „Wir haben Menschen gezwungen, ganz anders zu arbeiten, als sie arbeiten wollen.“ Am deutlichsten habe sich das im Service gezeigt: „Da wollte keiner im Prozess arbeiten. Das haben alle nicht gewollt.“ Menschen, die Veränderungen anstoßen, hätten nun einmal selten die Neigung, ihre Ideen nach vorgefertigten Mustern abzuarbeiten. Folglich musste Janßen stark nachhalten und hat damit genau das erzielt, was er nicht wollte: „Nach zwei Jahren hatten die Mitarbeiter den Schalter völlig umgelegt.“ Keiner habe mehr selbstständig gedacht, sondern stur den Prozess nachvollzogen. Die Mitarbeiter hätten „zurückerzogen“ werden müssen. Janßens Argument: „Du bist immer noch Mensch, und als Mensch bist du dazu da, die Grauzonen in den Prozessen zu erkennen.“

Neben der Übererfüllung des normierten Arbeitens betont Janßen noch einen weiteren Nachteil: „ITIL produziert Overhead.“ Nach der Implementierung am Standort München steht nun der globale Roll-out des Servicemodells an. „Wir haben aber kleine Abteilungen mit weniger Mitarbeitern, als ITIL Prozesse hat“, gibt Janßen zu bedenken. „Da funktioniert das nicht.“ Hier den Punkt zu finden, an dem die Vorteile der durchgängigen Prozesse die kleinen Organisationen nicht „platt machen”, sei ebenfalls kein Vorschul-Problem, sagt der promovierte Mathematiker.

Dass Janßen ITIL trotzdem als einfach bezeichnet, erklärt sich aus zwei Gründen: Zum einen kann er im ITBetrieb Erfolge vorweisen, die seine Kritiker aus dem Jahr 2000 zum Schweigen gebracht haben und die im Nachhinein alles als einfach erscheinen lassen. Alle 10000 weltweiten Clients der Münchener Rück sind einheitlich und lassen sich somit viel einfacher betreuen. Keine Anwendung in der Versicherung ist älter als sieben Jahre, auch dies vereinfacht die Pflege. Und: „Von 800 Servern können wir 99,9 Prozent nach Standard verwalten“, meint der CIO, der dazu Openview von HP einsetzt: „Wir sind jetzt nach fünf Jahren so weit, dass wir ein durchgängiges Servicemanagement für die gesamte Infrastruktur haben.“

Entwickler sind Kunsthandwerker

Zum anderen nennt Janßen ITIL einfach, weil er sich gerade an einem viel schwierigeren Problem reibt. Der CIO hat sich in den Kopf gesetzt, die Anwendungsentwicklung (AE) zu „industrialisieren“, soll heißen: effizienter arbeiten zu lassen. Rund 200 seiner 370 Münchener IT-Mitarbeiter programmieren in der internen AE. Rund 400 weitere liefern von außen zu. Alle seien unterschiedlich zu behandeln, sagt Janssen. „Anwendungsentwickler sind Kunsthandwerker. Die zu Industriearbeitern zu machen ist viel schwieriger, als Mitarbeiter im IT-Betrieb zu verändern.“ Manche Dienstleister in der Entwicklung haben zwar ein Modell, um Software nach festen Prozessen zu entwickeln, aber es gibt keinen Standard. „In der AE gibt es so etwas wie ITIL nicht“, klagt der CIO. Außerdem sei die scharfe Rollentrennung bei vielen Entwicklern nicht beliebt: „Jeder macht gerne mal Architektur, ist mal Developer oder Kundenbetreuer. Da kann man sich dann immer dahinter verstecken, dass man gerade in ganz anderer Angelegenheit unterwegs sei.“

Um zu industrialisieren, will Janßen deshalb in einem ersten Schritt die Rollen innerhalb der AE schärfer trennen. Bislang denkt er an: a) fachliche Architekten, b) technische Architekten, c) Entwickler, d) Testmanager und e) Projektmanager. „Das ist aber noch nicht vollständig und auch noch nicht genau abgegrenzt“, schränkt der CIO ein. Bis zum Frühjahr will er sein Rollenmodell ausgefeilt haben, wenn die „Senior Managers Working Group“ der Münchener Rück zu diesem Thema tagt. Janßen ist Dauergast in diesem Lenkungsausschuss für Business-IT-Alignment.

Die Business-Vertreter interessieren sich für Anwendungsentwicklung, weil sie hier Potenzial für effizienteres Sourcing sehen. In welche Richtung dies gehen kann, ist im Augenblick jedoch noch offen. Das Beratungshaus Compass beispielsweise hat nach einem Benchmarking die Vermutung nahe gelegt, dass sich Insourcing bei der Münchener Rück lohne. „Das glaube ich denen aber nicht“, sagt Janßen. „Wenn ich einen Developer-Pool einrichte, werden die Guten in den Architekturbereich abwandern, und ich sammele sukzessive den Bodensatz. Da ist es immer besser, zu einer spezialisierten Firma zu gehen. “

Offshore nicht ausgeschlossen

So könnten die Sourcing-Überlegungen auch in die konträre Richtung zum Compass-Vorschlag führen – auch in Richtung Offshore. Janßen hält seine AE für durchaus geeignet: „Ich habe zwar keine CMM-Zertifizierung, aber ich würde mal schätzen, dass wir knapp unter Level 3 sind – und damit im Vergleich zu vielen Anwendungsentwicklungen in Deutschland weit vorne.“ Die höchste Stufe im Capacity Maturity Model sei für ein deutsches Unternehmen – besonders für ein Anwenderunternehmen – auch gar nicht erstrebenswert. „Das brauchen die Inder mit ihren häufigen Personalwechseln“, meint Janßen. „In Deutschland hilft es niemandem, auf Level 5 zu sein, weil weder Kunden noch Dienstleister so arbeiten wollen.“

Im Augenblick ist also noch offen, wie die „Industrialisierung“ der AE aussehen wird. Janßen wird auf den Hamburger Strategietagen im Februar 2006 berichten, zu welchem Schluss die Münchener Rück gekommen ist. Eins ist aber jetzt schon klar: Auf keinen Fall werde man die geistige Lufthoheit abgeben, sagt Janßen. „Ich will auch in zwei Jahren noch wissen, was der nächste Release, ein Technologiewechsel oder ein Change Request kosten darf.“ Welche Fertigungstiefe dabei zu wählen ist, hänge sehr stark von den Technologien (Microsoft oder SAP), aber auch von den jeweiligen fachlichen Themen ab. „Kompetenzen, die es überall zu kaufen gibt, muss ich nicht unbedingt intern besetzen“, erklärt Janßen. „Und in anderen Themen will ich gar kein externes Wissen aufbauen.”