"Prognosen sind eine schwierige Sache - vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen." Das wusste schon der amerikanische Schriftsteller Mark Twain Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Unternehmensverantwortlichen der Müller Ldt. & Co. KG können es sich allerdings nicht leisten, Vorhersagen rein humoristisch zu betrachten. Für das süddeutsche Handelsunternehmen ist es geschäftsentscheidend, heute zu wissen, was die Kunden morgen kaufen.
Müller ist die nach Bruttoumsatz drittgrößte deutsche Drogeriekette. Das Sortiment hat wenig mit den statischen Einheitsangeboten von Mitbewerbern wie den großen Ketten Rossmann und Schlecker gemein. "Wir kommen aus dem Drogeriebereich, betreiben aber faktisch Kaufhäuser mit 4000 Quadratmetern Verkaufsfläche und 190 000 Artikeln", sagt Jürgen Lichtblau, Projektleiter Warenwirtschaftssystem bei Müller.
Umfangreiche Lager- und Regalbestände kosten Platz und binden Kapital. Zu knapp bestückte Regale sind dagegen schnell leer gekauft, die Kunden sind frustriert, und Umsatz geht verloren. Welche Bestandsmengen wirklich benötig werden, wenn zum Beispiel für eine Weihnachtsgeschenkaktion neue Parfüms angeboten werden, können klassische Warenwirtschaftssysteme nur schwer prognostizieren. Anhand von Vorjahres- und Kassenverkaufsdaten lassen sich zwar saisonale Trends vorhersehen. Doch stehen bei den großen Handelsunternehmen bis zu zehn Prozent der Regalfläche leer, schätzt Armin Schwanke, Entwicklungsleiter für den Bereich Retail beim Softwarehersteller Carus in Norderstedt.
Biertrinker kaufen Windeln
Ein Grund für den Leerstand liegt darin, dass vieles bei der Disposition unberücksichtigt bleibt. Ein Beispiel: Statistisch ist erwiesen, dass Bier-Sonderangebote mit großen Windelverkäufen einhergehen. "Die Ehefrau sagt, 'Bring Windeln mit, wenn du Bier holst' ", sagt Schwanke. Um Vorhersagen zu verfeinern, müsste eine Dispositionslösung solche Faktoren anders als bisher mit einkalkulieren. Doch so weit sind die wenigsten Unternehmen. "Wenn ein Lieferant wie Ferrero zum Beispiel im Herbst eine Kampagne zur Wiedereinführung der goldenen Rocher-Kugeln startet, wird oft mit Excel oder mit der Hand nachgerechnet, welche Auswirkungen das auf den Verkauf und die Bestellungen hat", sagt Schwanke.
Das galt lange auch für die Müller-Disposition. Die Warenwirtschaft lenkt den Warenfluss von bis zu 1,4 Millionen Artikelbewegungen täglich. Basis sind die Verkaufsdaten der Filialkassen, die die Filialserver einmal täglich via Virtual Private Network an die zentrale Sybase-Datenbank liefern. Der zentrale Einkauf konnte dabei aber nicht im Detail auf die realen Bedingungen in allen 400 Filialen eingehen. Die Folge: Obwohl Lager und Lieferkapazitäten ständig ausgelastet waren, fehlten trotzdem immer wieder Artikel in den Regalen.
Vor sechs Jahren begannen die Ulmer, die Neugestaltung sämtlicher Warenflussprozesse zu planen. Disposition, Logistik, Rechnungswesen und das Data Warehouse sollten enger als bisher miteinander verzahnt werden. Standardlösungen von SAP oder JD Edwards überzeugten das Unternehmen nicht, weil sie sich nicht genau genug auf die Müller-Bedürfnisse anpassen ließen. Dazu kam, dass Müller zur Steuerung der Warenströme mehr Parameter als andere Unternehmen beeinflussen wollte. "Es gibt eine Beziehung zwischen der Bestandssituation in den Filialen, den Fehlmengen und dem Aufwand, Waren in Filialen zu bekommen", erklärt Lichtblau.
Die Faktoren Warenbestand, Stock-out-Rate und Liefermengen sind in der Praxis schwer voneinander zu trennen, weil sie sich gegenseitig beeinflussen. Müller betrachtet eine Lösung als Wettbewerbsvorteil, die wenigstens mathematisch die Faktoren sauber voneinander trennt und so ermöglicht, alle Bereiche unabhängig voneinander zu steuern und zu optimieren. "Aber bislang hielt es noch niemand für nötig, eine Software zu programmieren, in der einer dieser Faktoren geändert werden kann, ohne dass die beiden anderen davon beeinflusst werden", sagt Lichtblau.
Zeitaufwand sank um zehn Prozent
Zusammen mit dem Softwareanbieter Carus begann Lichtblaus Team deshalb im Jahr 2000, selbst ein System zu entwerfen. Vier Jahre Entwicklung stecken heute in dem hochkomplexen Zusammenspiel der drei voneinander getrennten Zahlenbereiche. Der Zeitaufwand für Wareneingang und Einräumen der Artikel in den Filialen sank dadurch um zehn Prozent.
Das inhaltliche Kernstück der neuen Disposition, die Demand-Forecasting-Lösung, lieferte der Kölner Prognosespezialist Forseason. Herkömmliche Dispositionssysteme orientieren sich - grob gesagt - am Befüllungsgrad der Regale. Doch welche Folgen hat es, wenn Markenhersteller gerade TV-Spots senden? Wie wirken sich Ereignisse wie die Tatsache, dass 2004 der Heiligabend auf einen Freitag fiel, auf das Kaufverhalten aus? Sogar die Wettervorhersage spielt eine Rolle: Wetterdaten werden eingekauft und die Angaben in Zahlenwerte umgewandelt, die möglichst genau den Einfluss auf das Kaufverhalten bewerten.
Die Demand-Forecasting-Lösung nutzt intelligente Algorithmen, die sich nach dem Prinzip neuronaler Netze gegenseitig beeinflussen. Durch kontinuierliches Auswerten der neuen Daten soll das selbst lernende System in seinen Vorhersagen immer genauer werden. "Wir wandeln auf einem schmalen Grat zwischen Hellseherei und Mathematik", sagt Lichtblau. "Wir versuchen, die berühmte Glaskugel umzusetzen."
Die händischen Prognosen, das Bauchgefühl und die Erfahrung der Einkäufer durch eine Software zu ersetzen ist allerdings riskant. Wenn die IT danebenliegt und die Lieferketten stocken, kann das Millionen kosten. "Das ist wie eine Operation am offenen Herzen des Unternehmens", sagt Softwareexperte Schwanke.
Start mit 470 Millionen Artikelbewegungen
Beim Systemstart griff die Forecast-Lösung zunächst auf 470 Millionen Artikelbewegungen aus der Verkaufshistorie zurück. Anhand ausgewählter Waren errechnete die Prognoselösung zunächst, wie sich die Bedarfe in bestimmten Bereichen entwickeln würden. Diese Ergebnisse wurden mit den tatsächlichen Verkäufen abgeglichen. Darauf wurde das System im Echtbetrieb in einigen Pilotfilialen eingesetzt und verglichen, ob in diesen Häusern die Bestände höher oder geringer als anderswo sind oder Ware in den Regalen fehlt.
Die Ergebnisse waren so ermutigend, dass Müller im Juni 2002 die ersten Filialen an die neue Disposition anschloss. Die Drogeriekette wählte zunächst eine regionale Filialgruppe, um aus den Wechselbeziehungen zu lernen und die Software schrittweise mit immer mehr Echtdaten zu füttern. Jede neue Artikelbewegung verbessert die selbst lernenden Algorithmen.
Die Unternehmenslenker entdecken mit Hilfe der Software zum Beispiel, dass die meisten Schokoladeneier nicht an Ostern verkauft werden. Häufiger als im Nest des Osterhasen landen die Schokoladenkugeln in der Einschulungswoche in den Schultüten der Erstklässler. Müller bestellt also entsprechend mehr Schokoeier, um diese Absatzchance effizienter als bisher wahrzunehmen.
Heute erkennt das Prognose-Modul bis zu einem Jahr im Voraus die Verkäufe und berechnet Bestellvorschläge, die 18 Wochen in die Zukunft reichen. Dabei errechnet es auf Grundlage der drei fein abgetrennten Grundprozesse jeweils das beste Kosten-NutzenVerhältnis zwischen Stock-out-rate, Lager- und Filialbestand und dem logistischen Aufwand. Artikelrestriktionen und Lieferantenkonditionen wie Lagerort und Liefertermin des Herstellers oder Rechnungsdatum sind bereits berücksichtigt.
Inzwischen wurde die neue Disposition in 185 Filialen implementiert. Grafische Benutzeroberflächen erlauben es den Einkäufern, Bestellvorschläge zunächst in Echtzeit zu simulieren und sowohl grafisch als auch tabellarisch die entsprechenden Auswirkungen zu kontrollieren. Mit diesen Daten organisiert die angegliederte Zentrallogistik den realen Warenfluss. Quasi per Knopfdruck kann das Lager erkennen, bei welcher Artikelzusammenstellung es sich besonders lohnt, die Lkws rollen zu lassen.
Durch die Prognose kann das Zentrallager bis zu einen Tag früher Lieferungen planen und zusammenstellen. Außerdem vergrößerte Müller durch frei gewordene Regalkapazitäten bei gleicher Verkaufsfläche das Warensortiment. Die konsumorientierte Lieferung schließt nach Angaben der Projektbeteiligten die Präsenzlücken drastisch und steigert so den Umsatz um bis zu zehn Prozent. Weitere fünf Prozent Umsatzsteigerung erzielt die Sortimentserweiterung, die durch freie Regalkapazitäten möglich wird. Die Einführungskosten haben sich deshalb nach nur drei Monaten amortisiert. Ende 2004 hatte Müller alle deutschen Filialen an die neue Disposition angeschlossen. 2005 will das Unternehmen die Lösung auch in den Häusern in Österreich, Slowenien, Kroatien und Mallorca implementieren.