Nichts Untypisches: Zwischen 5- und 15-mal pro Woche sitzt der CIO eines deutschen Wehrtechnikherstellers mit seiner IT-Mannschaft oder Kollegen anderer Abteilungen zusammen. Kein Tag vergeht ohne ein Meeting; oft sind es sogar drei Termine, die seinen Tagesablauf zerreißen. Produktiv sind längst nicht alle dieser Treffen - nicht der einzige Grund, weshalb der auf Effektivität zielende IT-Manager sie am liebsten abschaffen würde. "Desinteresse, Wichtigtuerei und Inkompetenz" hat er als typische Meeting-Plagen identifiziert. Je länger eine Sitzung dauere, klagt er, desto deutlicher würden die Defizite in der Planung und bei den Teilnehmern.
"Verschärfte Meetingitis" dürfte in vielen Fällen die Diagnose lauten, wenn man die Arbeitsprozesse deutscher Unternehmen unter die Lupe nimmt. Auch wenn nicht überall so viele Treffen auf dem Zettel stehen wie im beschriebenen Beispiel (als Durchschnittswert für europäische Unternehmen hat die Münchener Beratungsfirma Schell 3,2 pro Woche ermittelt), leiden doch fast alle Produktivkräfte mit starkem Termindruck unter dieser Geißel. Zumindest ergibt sich aus der Studie eine gewisse Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung: Leitende Angestellte wie CIOs sind im Mittel deutlich häufiger dran (mehr als viermal in der Woche) als einfache Mitarbeiter, die es knapp zweimal wöchentlich trifft.
Keine Erfolgsmessung
Mit durchschnittlich vier Zusammenkünften pro Woche liegen die Deutschen hinter Schweden (4,1) auf Platz zwei. Gunnar Jürgensen, Sprecher von TUI Infotec, tagt in diesem Zeitraum gar rekordverdächtige 15- bis 25-mal. Ab und an genehmigt er sich eine kleine Flucht: "Wenn es wirklich zu langweilig wird, sage ich schon mal, dass ich noch einen anderen Termin habe. Oder ich bringe meine Gedanken zu anderen aktuellen Aufgaben zu Papier; das sieht dann so aus, als würde ich fleißig mitschreiben", verrät er seine persönliche Überlebensstrategie.
Nur Anthropologen können sich über solche Zustände freuen: Die Meeting-Kultur ist eine der wenigen Bereiche, in denen sich Professionalität noch nicht durchgesetzt hat. Während Unternehmen in der Produktion um Minuten feilschen und bei der Logistik alles peinlich genau ausklügeln, gelten für Besprechungen andere Maßstäbe. Erfolgsmessung: Fehlanzeige. Die Masse der Teilnehmer hat resigniert. Meetings gelten als lästige Pflicht - schlimmer noch: als Zeitverschwendung und Ärgernis. Unpünktlichkeit einzelner Teilnehmer ist eine der Hauptursachen für den Frust, analysiert Luis Teuber, Geschäftsführer der Face Kommunikationsentwicklung. "Das nagt nicht zuletzt an der persönlichen Zufriedenheit. Denn wer zuerst kommt, der wird bestraft."
Bitter für Change-Manager: Die Zahl der Besprechungen nimmt durch neue Organisationsstrukturen mit flachen Hierarchien und einem Mehr an Team- und Projektarbeit eher noch zu. Immerhin: Besserung ist in Sicht. "In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen, wo alles auf Effizienz getrimmt wird, muss sich die Meeting-Kultur anpassen", betont Studienautor Alexander Schell von Schell Marketing Consulting.
Nicht kapitulieren
Bei BMW werden die Teilnehmer mittlerweile sehr gezielt eingeladen - getreu dem Motto "Weniger ist mehr". Eine feststehende Agenda und Entscheidungsvorlagen sollen die Treffen produktiver machen, konkrete Vereinbarungen zu den nächsten Schritten beschlossen werden. TUI Infotec bietet Führungskräften und Mitarbeitern im Rahmen von Seminaren Hilfe in Sachen Zeitmanagement. Auch der Mobile-Entertainment-Anbieter Handy.de hat aus etlichen Chaos-Meetings gelernt. Vorschläge werden heute auf einem Formblatt eingereicht und beim freitäglichen "Ideen-Meeting" der Geschäftsführung präsentiert. Angenommene Anträge finden sich mit einer Prioritätennummer im Produktionsplan wieder.Dass Meetings form- und damit auch folgenlos bleiben, ist so fast ausgeschlossen.
Diskutiert wurde das Thema Meeting-Kultur auch beim eingangs erwähnten Wehrtechnikhersteller - allerdings "nicht konstruktiv", wie der CIO bedauert. Dabei hätte er eine Reihe guter Ratschläge, um Meetings konstruktiver zu gestalten. So rät er anderen Führungskräften, sich zur Vorbereitung über Inhalte und Resultate vergangener Meetings zum selben Thema zu informieren, um den eigenen Wissensstand zu aktualisieren. Außerdem plädiert er dafür, nur Personen einzuladen, die etwas zur Lösung eines Problems beitragen können; auf Eitelkeiten sollte keine Rücksicht genommen werden. Ferner sei eine klare Gliederung der Tagesordnung Voraussetzung dafür, dass Teilnehmer, die nur zu manchen Punkten etwas beitragen, dies am Anfang tun können, um das Meeting anschließend zu verlassen.
Deutsche Mentalität
Der Halbleiterhersteller Infineon Technologies holte sich mit der Face Kommunikationsberatung sogar externe Berater ins Haus, um der Meeting-Flut Herr zu werden. 40 häufig fruchtlose Beratungen pro Woche hatte der Führungskreis des Unternehmens bis dahin über sich ergehen lassen müssen. "Irgendein Handy klingelte immer, fortlaufend haben sich Leute ausgeklinkt, oder zehn Mann am Tisch mussten während eines Telefonats minutenlang ruhig sein", erinnert sich Luis Teuber. Zusammen mit Infineon-Mitarbeitern entwickelte der Berater eine neue Meeting-Struktur. Die Regeln: keine Handys, keine Laptops. Ein vorher bestimmter Moderator bringt zielgerichtet Themen ein, organisiert das Gespräch und stoppt Monologe.
"Der Ruf der Zusammenkünfte in Deutschland ist schlechter, als sie es verdient haben", urteilt Schell. Im internationalen Vergleich sei die Unzufriedenheit der Deutschen dennoch am stärksten, denn nur 51,7 Prozent der Befragten hielten ihre Teamtreffen für produktiv. Spitze seien sie aber auch in einer positiven Kategorie: 91,1 Prozent der Teilnehmer brächten sich aktiv in Besprechungen ein; in Frankreich hingegen täten das nur 84 Prozent. Dass vor allem die Deutschen ihre Meeting-Kultur beklagen, ist laut Schell auch eine Mentalitätsfrage: "Die Franzosen kommen einfach zehn Minuten später, doch die Unpünktlichkeit stresst keinen. Die Deutschen sind pünktlich und ärgern sich, wenn doch jemand fehlt."