Vor 15 Jahren passierte in Karlsruhe etwas Unglaubliches: Auf einer gerade mal zehn Megabit schnellen Leitung übertrug der C3-Professor Gerhard Schneider zusammen mit seinen Studenten auf einem "gigantischen" 19 Zoll großen Bildschirm Sprache und Video über das Internet. Zwischen Freiburg und Karlsruhe hin und her - von Uni zu Uni. "Damals hat keiner geglaubt, dass das möglich ist", sagt der heutige IT-Chef der Universität Freiburg. Jetzt greift Schneider das Thema wieder auf: "Zwangsläufig, denn die alte Telefonanlage war nicht mehr erweiterbar, und wenn man sich die Kosten anguckt, kommt man schnell auf andere Ideen." Zum Beispiel Voice over IP (VoIP) - telefonieren über das Universitätsnetzwerk.
Zunächst war eines klar. "Die kommen mir nicht mehr rein", sagte Schneider an die Adresse von Siemens, das die "Hicom 300" im Einsatz hatte. Zwar erweiterten die Erlangener inzwischen ihre klassische Anlage um VoIP, doch nicht zur Zufriedenheit des Freiburger IT-Chefs: "Zu teuer, pro Telefon eine Leitung, proprietär - VoIP über die Hicom war akademisch gesehen einfach nicht befriedigend", lautete sein Kommentar. "Ich kann den Studenten doch nicht in den Vorlesungen was von offenen Standards erzählen und dann eine solche Lösung einsetzen." Außerdem muss sich ein altes Bakelit-Telefon übergangsweise auch mit einem modernen IP-Telefon verständigen können.
18.000 Anschlüsse in über 150 Gebäuden sollten in der 550 Jahre alten Universität hall- und ruckelfrei verbunden werden. Jeder Mitarbeiter verfügt heute über ein Glasfasernetz mit einer Maximalgeschwindigkeit von zehn Gigabit - 1.000 Mal schneller als damals in Karlsruhe. Das waren gute Voraussetzungen für die VoIP-Telefonie, da so auf das lästige Bandbreiten-Management verzichtet werden konnte. Schließlich führen die Uni-Mitarbeiter täglich etwa 50.000 interne und 5.000 externe Gespräche.
Erschüttert über die klare Absage an künftige Aufträge ließ Siemens jedoch nicht locker. Inzwischen war die Sektion Siemens Enterprise Communications entstanden. "Eigentlich aus reiner Höflichkeit", wie Schneider heute sagt, ließ er den Siemens-Mann hinein, der ihm eine völlig neue Technologie zeigen wollte - basierend auf offenen Standards. Nach einer Stunde wunderte sich der Uni-Prof ("sieht gut aus"), nach drei Stunden war er schon fast überzeugt ("geht wirklich"), und nach vier Stunden war der Vertrag mit Siemens geschlossen.
Höflichkeitsgespräch mit Siemens
Gegenstand der Überzeugungstat war die Highpath 8.000 genannte VoIP-Anlage von Siemens. Eine reine Open-Source-Lösung kam nach kurzer Erwägung nicht in Frage, da man mit dem Hersteller Siemens jederzeit jemanden zur Rechenschaft ziehen kann: "Das gibt Ruhe und Verhandlungssicherheit". Zudem gab Siemens kürzlich bekannt, sich von 7.000 Mitarbeitern aus der Sparte Siemens Enterprise Communications zu trennen, die neben der potenziell fortschrittlichen Hipath 8.000 auch jene Anlagen im Angebot hat, die Schneider so kategorisch ablehnte.
Die Nachteile: Es gab keinerlei Referenzen, und das Produkt war "noch nicht ganz fertig". Für Schneider war das offenbar kein wirkliches Problem, denn er ist davon überzeugt, dass man "die Mitarbeiter geistig frisch hält, wenn man sie mit nicht ganz fertigen Produkten konfrontiert". Vom finanziellen Entgegenkommen mal ganz zu schweigen. Und so ist der Einsatz der neuen Geräte auch als partnerschaftliches Projekt zu verstehen. Das Münchener Unternehmen liefert die Technik, und zusammen mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Uni und seinen eigenen Leuten verbessert es das Produkt.
Bestes Beispiel dafür: Bei einer Installation zeigte das IP-Telefon auf dem digitalen Display immer die Landesvorwahl mit an, was die Freiburger störte. Deshalb schleusten sie sich mit einer auch "Sniffer" genannten Software in das Netzwerk ein, schauten sich - dank offener Standards - die Daten und Codes etwas genauer an und "verbesserten" die Anzeige der Anrufer - verzichteten also auf die vier Ziffern der Landesvorwahl. "Sie hätten die Gesichter der Ingenieure von Siemens sehen sollen", freut sich Schneider noch heute.
Der Einstieg in Voice over IP beginnt mit zunächst 500 Geräten für einen Neubau für die Mikrobiologen und Zellforscher. Die bestehende Telefonanlage bekommt einen zweiten Anschluss, der den Empfang von Daten aus dem IP-Netz möglich macht. Der Telefonverkehr wird somit transparent abgewickelt, ein Nutzer merkt nicht, aus welcher Welt der Anruf kommt. Wer will, kann sich die neuen IP-Telefone anschaffen und sich von überall in unser Netz einwählen. "Dann merkt man auch nicht, wenn jemand von zu Hause aus arbeitet", so Schneider. Es ist aufgrund der offenen Standards auch technisch möglich, sich etwa auf dem Hamburger Universitätsgelände in das Funknetz einzuwählen und mit der Freiburger Nummer zu telefonieren, sofern man über die entsprechenden Sicherheitsberechtigungen in Freiburg verfügt.
Dass man nicht die gesamte Universität auf einen Schlag mit IP-Telefonen ausstatten kann, war allen Beteiligten im Rektorat sofort klar. Bei mindestens 150 Euro pro Telefon plus Lizenzen von einmalig etwa 70 Euro pro Telefon, und das bei 18.000 Anschlüssen, wäre eine Summe zusammengekommen, die der Universitätshaushalt nicht verkraftet hätte.
Umstellung auf VoIP bis 2012
Also musste ein Finanzierungskonzept her, das man als Konzept der kleinen Schritte bezeichnen könnte und folgendermaßen funktioniert:
Nicht die Zentrale bezahlt die große Umstellung auf IP. Die IT sorgt für die Software und die Betreuung des Netzwerks. Die Investitionen für die IP-Telefone (vom Typ OpenStage) übernehmen jedoch die einzelnen Lehrstühle selbst, wenn sie nicht bis 2012 warten wollen. "Das Geld wird beispielsweise aus Drittmitteln aufgebracht", meint Schneider. So hat etwa ein Lehrstuhl für Informatik 30 Telefone bestellt. Als Nächste haben die Biologen und Physiker Interesse angemeldet. Bei Neubauten erübrigt sich die Diskussion, da mit den IP-Telefonen in der täglichen Nutzung keine Wartungskosten anfallen und die Neuanschaffung der IP-Telefone in den Baumitteln enthalten ist. Rund 100.000 Euro gibt Schneider derzeit jährlich für die Wartung des Telefonparks aus. Zu guter Letzt versucht Schneider, sogenannte Meinungsbildner auf dem Campus für sich zu gewinnen, die ihr Institut oder ihre Fakultät von der Technik überzeugen. Auf diese Weise rechnet der Informatik-Prof, dass 2012/13 auf den meisten Schreibtischen ein modernes Telefon steht.
Die nächste Klippe ist in der Regel der Betriebsrat, in den Universitäten der Personalrat. Befürchtungen, dass der Chef abends in die Büros seiner Mitarbeiter streicht und sich die Liste der Anrufe des Tages anschaut, hat Schneider einen Riegel vorgeschoben. Sämtliche Apparate sind PIN-geschützt und können so programmiert werden, dass niemand Einsicht in die Nummern nehmen kann. "Wer Sorgen hat, programmiert um." Zu Hilfe kam dem IT- und auch Rechenzentrumschef ein Kollege aus dem Rechenzentrum, der auch im Personalrat aktiv ist und in alle Entscheidungen eingebunden werden konnte - und der auch darüber froh war, dass die Mitarbeiter der Telefonzentrale, die mittlerweile im Rechenzentrum integriert sind, mal was technisch Neues machen können. Da wurden die Ängste schnell beiseite geschoben.
Jetzt sind die ersten paar hundert IP-Telefone mit offenen Standards im Einsatz. Und auf den Hamburger Strategietagen Mitte Februar bekam Schneider von Kollegen wieder diese Frage gestellt, die er schon vor 15 Jahren zu hören bekam, als man ihn ungläubig anschaute und wissen wollte, ob man Sprache über das Netz übertragen könnte: Klappt es wirklich?