"Softwareentwicklung ist ein kreativer Prozess und funktioniert besser in kleinen Schritten. Ein 500 Seiten starkes Pflichtenheft umzusetzen kann Jahre dauern, bis dahin sind die Features schon wieder veraltet", weiß Martin Giebel von Andrena Objects. Giebel ist Agile Coach und leitet den Münchner Standort des Karlsruher Unternehmens, das nach der Scrum-Methode arbeitet und mit seinen 120 Mitarbeitern Firmen unterstützt und berät, die ihre Entwicklungsabteilungen nach agilen Prinzipien neu organisieren wollen. "Um mit dem Markt Schritt zu halten, müssen Firmen ihre Produkte schneller entwickeln. Die Qualität darf darunter nicht leiden", beobachtet Giebel.
Auch die Software AG in Darmstadt mit ihren weltweit rund 850 Entwicklern spürte diesen Druck. 2009 begannen dort die Diskussionen, wie ein Wechsel aussehen könnte. "Wir haben ganz viele Gespräche mit unseren Führungskräften geführt", sagt Christian Gengenbach, Vice President R&D Application Modernization. Jahrzehntelang folgte das Unternehmen dem Wasserfallmodell mit Hauptprojektleitern, starrem Projektplan und Vorgesetzten, die ihren Mitarbeitern sagten, was sie tun sollen. "Agiles Entwickeln funktioniert ganz anders, die Weisungsbefugnis fällt weg", erläutert Gengenbach.
Ein Product Owner agiert wie ein CEO
In einem Scrum-Projekt verschwindet die klassische Rolle des Projektleiters. Das Team aus drei bis neun Entwicklern verteilt selbständig die Aufgaben, trifft sich täglich zu kurzen Meetings, bespricht, was erledigt wurde und was an diesem Tag ansteht. Größere Arbeitsabschnitte sind in sogenannten Sprints untergliedert, die idealerweise etwa vier Wochen umfassen. Der Product-Owner trägt die fachliche Verantwortung und kümmert sich um das Budget. Disziplinarisch verantwortlich für die Teammitglieder ist er nicht.
"Wenn sich Projektleiter mit der Rolle des Product Owners anfreunden, merken sie schnell, dass sie mehr Macht haben als vorher. Ihre neue Rolle entspricht der eines kleinen CEOs, sie legen die Funktionalität fest und planen das Release", erklärt Giebel. Ganz anders sehen die Aufgaben eines Scrum-Masters aus, der seinen Kollegen den Rücken frei hält. "Der Scrum-Master kümmert sich um die Infrastruktur, agiert als Mentor und Trainer für das Team und qualifiziert die Mitarbeiter weiter", sagt Giebel.
Wenn Entwicklerteams über Jahre in hierarchischen Strukturen arbeiten, fällt der Wechsel nicht immer leicht. Viele Unternehmen holen sich Hilfe von außen und schulen ihre Mitarbeiter intensiv. "Wir wollten natürlich unsere erfahrenen Projektleiter für die neue Methode begeistern und ihnen die Personalverantwortung nicht entziehen", sagt Gengenbach. Auch wenn diese Doppelrolle in der klassischen Scrum-Lehre nicht vorgesehen ist, wählte die Software AG diesen Weg. Außerdem wollten die Darmstädter keine neue Führungsebene innerhalb des Hauses etablieren. "Unsere erfahrenen Hauptprojektleiter begeistert vor allem die Technik, deshalb wollten wir ihnen diese Verantwortung nicht entziehen. Sie sind die richtigen für die Position des Product Owners."
2010 wagte die Software AG den Wechsel. Bis die neuen Prozesse reibungslos funktionierten, dauerte es zwei bis drei Jahre. "Wir haben in einzelnen Teams verschiedene Modelle ausprobiert und die Konzepte immer wieder modifiziert", sagt Gengenbach. In dieser Zeit holte sich das Unternehmen erfahrene Berater ins Haus, die in Workshops gemeinsam mit den Teams praktikable Wege für agiles Entwickeln fanden. Basis-Schulungen in Scrum waren ein wichtiges Element im Veränderungsprozess. "Wir haben auch eigene Mitarbeiter in den Teams zu Scrum Coaches weiterqualifiziert, die ihr Wissen an andere Teams weitergegeben haben. Auf diese Weise konnten wir unsere eigenen Erfahrungen besser einfließen lassen", erläutert Gengenbach.
Training begleitet den Wechsel
"Es ist hilfreich, wenn ein erfahrener Scrum-Master und agile Softwareentwickler die ersten Sprints begleiten", sagt Giebel. Der Berater weiß allerdings auch, dass manche Unternehmen den Wechsel halbherzig angehen und vor Veränderungen zurückschrecken. "Ein bisschen agil geht nicht. Es gibt nur wenige Regeln, doch die müssen eingehalten werden."
Christian Gengenbach sieht die hoch gesteckten Ziele wie kürzere Release-Phasen und flexiblere Strukturen erreicht. Und wie sehen die Entwickler die Veränderungen? "Die Reaktionen der Mitarbeiter sind gemischt. Manche fühlen sich heute extrem wohl, weil sie mehr Entscheidungsspielraum haben, andere trauern den alten Zeiten nach. Die meisten sind zufrieden." Auch die Doppelfunktion von Product Owner und disziplinarischem Teamleiter funktioniere gut. Allerdings räumt der Manager ein, dass die Arbeitsbelastung für diese Mitarbeiter aufgrund von vielen Meetings deutlich zunahm. Abgeschlossen ist der Wandel keineswegs. "Agiles Entwickeln ist ein ständiger Veränderungsprozess. Wir haben zwar jetzt praktikable Strukturen und Prozesse für uns gefunden, doch es sind immer wieder Anpassungen nötig, es ändert sich immer etwas. Das kontinuierliche Verbessern ist für uns wichtig."
Martin Giebel weiß, dass Veränderungen für viele Unternehmen schmerzhaft sind. Trotzdem führt seiner Meinung nach kein Weg daran vorbei. "Entwickler können in agilen Strukturen ihre Kreativität besser einbringen und sehen ihre Erfolge schneller", so sein Resümee. Schwierig werde es oft nur für das Management, das lernen müsse, dass ein Kulturwechsel dem Unternehmen gut tut, auch wenn dadurch die eigene Macht schwindet. Scrum und agile Methoden kommen zwar modern und innovativ daher, doch eine Erfolgsgarantie gibt es trotzdem nicht. Auch agile Projekte können scheitern, nur merken das die Beteiligten schneller.
"In der agilen Welt wird nicht in Budgets gedacht"
Alfred Oswald und Wolfram Müller haben vor zwei Jahren innerhalb der deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) die Fachgruppe "Agiles Management? gegründet. Die beiden Berater begleiten Unternehmen im Wandel. Oswald ist Geschäftsführer des Institute for Social Technologies in Stolberg und Müller gehört dem Führungskreis des Beratungsunternehmens Vistem in Heppenheim an.
Müssen Projektleiter um ihren Job fürchten, wenn ihr Arbeitgeber agile Strukturen einführt?
Wolfram Müller: Für Projektleiter, die mit komplexen Themen umgehen können und Teams mit mehr als 100 Mitarbeitern managen können, wird es nach wie vor einen Markt geben, denn agile Methoden eignen sich nicht für komplexe Projekte. Dagegen verschwinden viele Führungsaufgaben in kleineren Teilprojekten. Hier übernimmt das Team die Aufgaben und löst sie eigenständig viel schneller und effektiver.
Alfred Oswald: Wirklich gute und erfahrene Projekt-Manager werden immer ihre Aufgabe finden, auch in agilen Unternehmen.
Gerade herrscht ein ziemlicher Hype um Agilität. Ebbt die Welle bald ab?
Alfred Oswald: Das Thema wird nicht verschwinden. Teamorientiertes Arbeiten entwickelt sich weiter und verändert Wirtschaft und Gesellschaft.
Wolfram Müller: Ein weiterer Grund spricht für agiles Arbeiten. In klassischen Organisationen herrscht die Meinung vor, wir überlasten alle Mitarbeiter mit zu viel Arbeit und hoffen, dass wir beste Ergebnisse erzielen. Das ist ein Trugschluss. In agilen Teams begrenzen die Mitarbeiter ihre Aufgaben selbst.
Woran scheitern agile Projekte?
Wolfram Müller:Agile Projekte brauchen keinen Druck. Konflikte entstehen vor allem dann, wenn einem Team immer neue Aufträge auf´s Auge gedrückt werden und sie nicht selbständig handeln können. Daran zerbrechen sie.
Controller und machtbewusste Manager dominieren viele Organisationen. Wie passen die ins Bild?
Wolfram Müller:Controller kommen aus einer Zeit, als es noch Lochkarten gab. In der agilen Welt wird nicht in Budgets gedacht, sondern in Ideen. Trotzdem ist es wichtig, sie ins Boot zu holen. Idealerweise zeigen sich Erfolge schon nach zwei bis drei Wochen und dann sprechen die Zahlen eine Sprache, die auch Controller verstehen.
Alfred Oswald: Selbstorganisierte Teams sind dem mittleren Management oft suspekt. Hier heißt es Berge zu versetzen. Oft hilft es, den Druck rauszunehmen.
Buchtipp: Vom Master of Scrum lernen
Was Scrum mit dem FBI, Militär und Wissenschaft zu tun hat, lernen die Leser von Jeff Sutherland, der die Methode vor gut 20 Jahren entwickelt hat. Mitunter etwas ausschweifend erzählt der Autor über die Anfänge und die Weiterentwicklung des von ihm entwickelten agilen Arbeitens. Ganz ohne Pathos geht es zwar nicht, doch jedes Kapitel schließt mit einer kurzen Zusammenfassung ab, die unübersetzt "Take-away? heißt und jede Menge Tipps für die eigene Arbeit und Anregungen zur Reflexion über das Arbeiten liefert. Wer manches Kapitel nur querlesen möchte, findet dort jede Menge Hinweise.
Auch das ist typisch amerikanisch-optimistisch für das Buch: Scrum ist nicht nur eine Methode, wie Entwickler schneller und flexibler Arbeiten können, sondern mindestens eine Revolution. Deshalb widmet sich das letzte Kapitel auch einem großen Thema, nämlich "Mit Scrum die Welt verändern?. Wer nur die Arbeitsabläufe in der eigenen Firma verbessern will, vertieft sich in die vorangestellten Kapiteln und versucht, die Anregungen umzusetzen, denn Sutherland gewährt interessante Einblicke in bekannte US-amerikanische Firmen und warnt vor möglichen Fußangeln.
Jeff Sutherland: Die Scrum Revolution. Management mit der bahnbrechenden Methode der erfolgreichsten Unternehmen. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2015. 229 Seiten, 39,99 Euro.