Die Digitalisierung verändert derzeit alle Lebensbereiche. Märkte, Produkte und Geschäftsmodelle sind gleichermaßen davon betroffen. Unternehmen sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, eine digitale Transformation vollziehen zu müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und ihre Existenz zu sichern. Deswegen erfordert der digitale Wandel von Unternehmen, mehr und mehr softwarebasierte Produkte zu entwickeln.
Doch Unternehmen machen dabei immer wieder die Erfahrung, dass herkömmliche Entwicklungsmethoden, die bislang gut funktionierten, in der heutigen, digitalisierten Welt versagen. Klassische Projektmanagementansätze scheitern, denn erfolgreiche digitale Produkte werden anders entwickelt. Einer der wichtigsten Unterschiede: Digitale Entwicklungsvorhaben werden in Produkten gedacht, nicht in Projekten. Statt nach starrem Projektmanagement verlangt die digitale Welt nach agiler Produktentwicklung.
Schnell am Markt sein
Dass das klassische Projektmanagement angesichts digitaler Herausforderungen scheitert, hat schon damit zu tun, dass der Umfang typischer digitaler Projekte ein anderer, kürzer getakteter ist. Statt ein Projekt auf ein halbes oder ein ganzes Jahr anzulegen, ist es in der digitalen Welt meist viel wichtiger, schnell an den Markt zu kommen - schon um zu verhindern, dass mit dem großangelegten neuen Projekt das Produkt dann doch am Kundenbedürfnis vorbeientwickelt wird.
Im Berateralltag ist es jedenfalls immer wieder zu beobachten, dass die ursprünglichen Konzeptentwürfe eines Herstellers zum Zeitpunkt ihrer Umsetzung optisch und technisch längst veraltet sind. Schnelle Marktreife ist unter den Bedingungen des digitalen Wettbewerbs viel wichtiger als ein vorab definierter Scope, ein unverrückbares Projektergebnis. Die digitale Welt ist zu schnelllebig, als dass man es sich leisten könnte, auf das finale Ergebnis des großen Projekts zu warten.
Wer im Wettbewerb bestehen will, muss umgehend reagieren können und darf nicht die Abarbeitung eines umfassenden Pflichtenhefts oder Projektplans zur Voraussetzung machen wollen.
Im "Lean Development", das vom Managementkonzept der Lean Production abgeleitet ist, gibt es zwei Prinzipien, deren Einhaltung schon fast obligatorisch ist, um im digitalen Wettbewerb zu bestehen. Sie lauten: "Decide as late as possible" und "Eliminate waste". Denn wenn etwas nicht funktioniert, dann kann es weg, und wenn etwas gut funktioniert, dann wollen wir mehr davon.
Bewegliche Ziele
Betrachtet man erfolgreiche digitale Produkte, fällt auf, dass sie ihren Durchbruch erst durch permanente Evaluation und einen ständigen Wechsel der Entwicklungsziele erreicht haben. Im Lean Startup-Ansatz gibt es ausdrücklich die Idee einer kontinuierlichen Validierung des eigenen Produkts - inklusive der Möglichkeit eines "Pivot", eines Drehpunktes, an dem das Startup seine Annahmen grundlegend korrigiert und die Produktentwicklung eine völlig neue Richtung nimmt.
Der Erfolg in der digitalen Welt steht und fällt mit solch einer grundsätzlichen Anpassungsbereitschaft. Die Gründerväter von PayPal beispielsweise wollten ursprünglich einen sicheren Geldtransfer zwischen Palm Pilots ermöglichen. Der heute erfolgreiche Transfer via E-Mail-Adresse war lediglich ein Nebenprodukt, angestoßen durch die Online-Demo eines findigen Entwicklers. Hätte damals ein Projektmanager an starr definierten Zielen festgehalten - es gäbe PayPal in seiner heutigen Form nicht.
Autoren wie Gerhard Wohland, Matthias Wiemeyer und Niels Pfläging bezeichnen solche anpassungsfähigen Unternehmen in ihren Büchern mit dem Begriff "dynamikrobust". PayPal hat sich als dynamikrobust erwiesen und war fähig, sich im sehr beweglichen Markt der Internetunternehmen einen Vorteil gegenüber trägen Konkurrenten zu verschaffen.
Agile Entwicklung
Das klassische, starre Projektmanagement mit seinen klar definierten Zielen ist unter den Bedingungen der Digitalisierung nur noch eingeschränkt sinnvoll. Weit erfolgversprechender sind heute agile Softwareentwicklungs-Methoden. Agile Verfahren antizipieren die Möglichkeit kurzfristiger Veränderungen. Agile Methoden setzen auf konstante und eigenverantwortliche Teams, sie vermeiden die Erstellung langwieriger Pläne, und sie hinterfragen regelmäßig die eigene Tätigkeit inklusive entbehrlicher Management-Overheads.
Auch eine Studie aus dem Jahr 2014, die das BPM-Labor der Hochschule Koblenz unter Leitung von Prof. Ayelt Komus gemeinsam mit der GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V. und der International Project Management Assocation (IPMA) durchführte, legt die Überlegenheit agiler Verfahren nahe. Der Studie zufolge wird die Erfolgsquote agiler Methoden positiver bewertet als die des klassischen Projektmanagements.
Produktmanager statt Projektleiter
In der Softwareentwicklung hat der klassische Projektleiter offenbar ausgedient. Der Koblenzer Studie zufolge arbeiten selbst Kanban-Teams fast ausschließlich mit Product Ownern statt mit Projektleitern. Die herkömmlichen Aufgaben des Projektleiters werden also unter anderem vom Product Owner getragen, insbesondere aber auch vom sich selbst organisierenden Entwickler-Team und vom Scrum Master. Diese neue Rollenverteilung und das Primat des Produkts vor dem Projekt führen auch dazu, dass das Produktmanagement und die in ihm vorzufindenden Fähigkeiten in der agilen Welt an Bedeutung gewinnen - während herkömmliche Projektmanagementfähigkeiten an Bedeutung verlieren.
Aber auch das Produktmanagement selbst verändert im Kontext agiler Verfahren seine klassische Gestalt. Dies hat schon damit zu tun, dass das bekannte magische Dreieck des Projektmanagements in der agilen Produktentwicklung völlig auf den Kopf gestellt wird. Klassische Projekte begreifen den Scope des Projekts als fest definiert und unverrückbar, variabel sind allenfalls Zeit und Kosten. In der agilen Entwicklung sind dagegen Zeit und Kosten als feste Parameter gesetzt. Der variable Parameter ist hier der Scope - der zugleich in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.
Per Iteration zum erfolgreicheren Produkt
Auch die klassische Aufgabentrennung zwischen Linie und Projekt wird im Kontext agiler Entwicklung aufgeweicht, weil Vorhaben nicht mehr an Projektlaufzeiten gebunden sind. Digitale Produkte bedingen Software, und Software erzeugt Wartungsaufwand - was einer Projektbetrachtung mit definiertem Budget und Endzeitpunkt zuwider läuft.
Tatsächlich bringt der agile Ansatz viele Vorteile mit sich: Wird eine Software-Initiative als Produkt betrachtet, vollzieht sich die Entwicklung in einem iterativen Ablauf - mit immer wieder verbessertem Resultat. Im Rahmen dieses iterativen Vorgehens wird der leitende Produktmanager sein Produkt, seine Kunden und sein Entwicklerteam immer besser kennenlernen, und das Ergebnis wird eher dem System entsprechen, das der Markt tatsächlich benötigt, als dem, das zuvor geplant wurde.
Ausnahmen gibt es immer mal
Ein Unternehmen, das damit beginnt, in Produkten statt in Projekten zu denken, vollzieht einen großen Schritt in Richtung erfolgreicher Digitalisierung. Dennoch gibt es natürlich weiterhin Ausnahmen, in denen ein projektbasiertes Verfahren seine Berechtigung behält. Nämlich dann, wenn das Vorhaben einen klaren Projektcharakter hat - mit fixem Budget, fixem Scope und definiertem Start und Ende. Dies ist zum Beispiel bei Migrationsprojekten oder Neueinführungen von Standardsoftware der Fall. Geht es allerdings darum, auf den Wettbewerbsdruck einer digitalen Welt die geeignete Antwort zu finden, bleibt das Denken in Produkten der überlegene Ansatz.
Produktlebenszyklen schrumpfen
Agile Produktentwicklung wird dafür sorgen, dass Unternehmen sich deutlich wandeln. Auf bereits etablierte Produktmanagement-Abteilungen kommen einschneidende Veränderungen zu. Manche Unternehmen wiederum stehen vor der Herausforderung, solche Abteilungen erstmals zu etablieren.
Die Realität der digitalen Welt zeigt, dass es kaum noch Produkte gibt, deren Lebenszyklus ein Jahrzehnt überdauert. Man denke nur an die Vielzahl von Produkten großer Player wie Google oder Facebook: Sie scheinen Produkte und Features ebenso schnell an den Markt zu bringen, wie etliche auch wieder verschwinden - nach dem Prinzip von Trial-and-Error.
Keine Standardlösung für den digitalen Wandel
Dennoch: Um den digitalen Wandel für das eigene Unternehmen umzusetzen, gibt es keine Standardlösung und keinen Königsweg. Ein Startup hat natürlich andere Voraussetzungen als eine gewachsene Konzernstruktur, und Produktmanagement ist komplex. Viel hängt zudem von der jeweiligen Unternehmenskultur, dem Produkt und dem gelebten Software-Entwicklungsprozess ab - wie Marty Cagan schon 2008 in seinem Artikel "The Best Product Management Model?" beschrieb.
Auch das politische Gewicht des Produktmanagements ist ein wichtiger Faktor: Wie weit reicht sein Einfluss? Jedes Team und jede Rolle haben ihre Einmaligkeit, es gilt nicht nur die richtigen Kompetenzen zu akquirieren, sondern sie auch richtig zu steuern und zu entwickeln. Es wäre falsch, Agilität nur als weiteres Vorgehensmodell unter vielen zu verstehen - vielmehr sollte Agilität einen Paradigmenwechsel einleiten.
Das überlegene Resultat der agilen Methode
Angesichts der Schnelllebigkeit des digitalen Wandels scheint das klassische Projektmanagement zum Scheitern verurteilt. In der Praxis bestätigt sich diese These wieder und wieder. Unternehmen wird es nur dann gelingen, dem Wettbewerb in der digitalen Welt standzuhalten, wenn sie sich von der Kategorie des Projekts weitgehend verabschieden und stattdessen in Produkten denken.
Wo herkömmliches, starres Projektmanagement versagt, feiert die agile Produktentwicklung Erfolge. Das Versprechen der agilen Methode ist das überlegene Resultat am Ende des iterativen Weges: ein werthaltiges digitales Produkt, entwickelt und gelebt von seinen Schöpfern, geliebt von seinen Nutzern. Vorhaben in der digitalen Welt brauchen ein agiles Gen, sonst schwindet die Wettbewerbsposition, bevor sie entsteht.