Wenn Gerhard Hastreiter ein Assessment Center veranstaltet, erscheint oft nur die Hälfte der Kandidaten. Der Rest fehlt unentschuldigt. Andere Manager in Hastreiters Lage würden verzweifeln, doch der Fachbereichsleiter IT Customer & Sales bei der Allianz Deutschland in München nicht. "Führungsnachwuchskräfte spüren weniger starke Bindungen als frühere Generationen", sagt er lapidar. "Wer sich in der heutigen Welt des Überflusses an Möglichkeiten zurechtfinden will, muss sich viele Chancen offenhalten."
Leben wir tatsächlich in einer Welt, in der Verlässlichkeit nicht mehr zählt? In der Flexibilität wichtiger ist als Pünktlichkeit? Und wie steht es mit althergebrachten Werten wie Anstand, Zuverlässigkeit und Höflichkeit? Zählen die gar nichts mehr?
Pünktlich und flexibel
Keineswegs, lautet die einhellige Antwort aus Konzernen und kreativer Klasse. "Werte wie Integrität und Verlässlichkeit sind Bestandteil der Geschäftsgrundsätze", sagt Volker Smid. Der Vorsitzende der Geschäftsführung von Hewlett-Packard in Böblingen verweist auf die Codes of Business Conduct, feste Regeln, "die dafür sorgen sollen, die guten alten Kaufmannstugenden zu erhalten".
Hastreiter stimmt dem HP-Deutschland-Chef zu. "In der beschleunigten Arbeitswelt zählen alte Werte genauso viel wie früher", ist der Fachbereichsleiter der Allianz überzeugt. Allerdings müssten alte Tugenden durch Fähigkeiten wie Flexibilität und Kreativität erweitert werden. Das findet auch Kreativarbeiter Markus Albers, der mehrere Fachbücher über die moderne Arbeitswelt geschrieben hat ("MEconomy", "Morgen komm ich später rein"): "Ohne das Festhalten an alten Werten wie Disziplin, Verlässlichkeit und Pünktlichkeit funktioniert auch die Arbeitswelt des Web 2.0 nicht."
Die neue Formel könnte lauten: alte Schule plus neue Denke. Pünktlichkeit plus Flexibilität. Geradlinigkeit plus Kompromissbereitschaft. Höflichkeit plus Toleranz. Dies zeigt auch eine repräsentative Umfrage-Zeitreihe des Instituts für Demoskopie Allensbach. Höflichkeit, gutes Benehmen und Gewissenhaftigkeit gelten demnach seit Jahrzehnten unverändert als wichtige Erziehungsziele (siehe Grafik "Bescheidenheit ist keine Zier mehr"). Weniger Wert legen moderne Eltern auf die Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder in bestehende Ordnungen. Da fiel die Zustimmung von 61 Prozent im Jahr 1967 auf heute 46 Prozent. Auch Bescheidenheit ist keine Zier mehr. Vor mehr als 40 Jahren wollten 37 Prozent der Eltern ihre Kinder zur Zurückhaltung erziehen, heute sind es nur noch 24 Prozent. Auch wenn Höflichkeit und Respekt weiter hoch im Kurs stehen, werden Individualität und Durchsetzungskraft wichtiger.
Die schwere Kunst der Disziplin
Einfach ist dieser Spagat nicht - besonders nicht in einer Bürowelt, die von anziehendem Tempo, kurzfristigen Kontakten und Selbstorganisation geprägt ist. Die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter steigt. "Jeder muss sich selbst disziplinieren und lernen, Prioritäten zu setzen, damit die alten Tugenden erhalten bleiben", fordert Smid. Er weiß, wie schwer das ist - zum Beispiel im Meeting, wenn man noch rasch nebenbei etwas am Laptop fertigtippen will, aber dadurch andere Teilnehmer stört.
Gerade die technischen Möglichkeiten sind es, die Hemmschwellen abgebaut haben. Wer always on ist, hat oft mehr Gespür für seine Kommunikationspartner im Web 2.0 als für seine unmittelbare Umgebung. Im Großraumwagen eines ICE bleibt zwischen Notebook und Smartphone die Kinderstube schnell auf der Strecke. Doch nicht nur die Technik macht das Miteinander manchmal schwer. Mittelbar sieht Heiko Mell, Personalberater aus Rösrath bei Köln, auch die Globalisierung dafür verantwortlich: "Das Geschäft wird härter, der Druck nimmt zu, die Ellenbogen werden ausgefahren." Dadurch verhärte sich das Betriebsklima, der Ton werde rauer. "An die Aufweichung traditioneller Höflichkeitsformen werden wir uns gewöhnen müssen", so Mell. "Wer andererseits die alte Schule perfekt beherrscht, kann punkten."
Die neue Arbeitswelt bietet dazu sogar allerlei Chancen. Etwa beim mobilen Arbeiten. "Unverbindlichkeit kann sich hier niemand erlauben", sagt Buchautor Markus Albers. Während im Büro immer wieder Kollegen zu spät zu Konferenzen kämen, wäre das in einer Skype-Sitzung undenkbar. "Pünktlichkeit beim Einwählen ist oberstes Gebot", so Albers. Generell sei die Hemmschwelle, Menschen im digitalen Kommunikationsprozess zu unterbrechen, hoch. Im Büro störe man die Kollegen häufig, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Kollegen, die aber von unterwegs aus arbeiteten, würden seltener belästigt. Auch nehme die Zahl der telefonischen Unterbrechungen ab, seitdem es E-Mail und andere Kommunikationsmittel gebe.
Das Urteil der Mutter
So parkettsicher, wie viele glauben, bewegen sie sich nicht in der neuen Arbeitswelt. Dazu verändert sich zu viel - im Internet, am Heimarbeitsplatz oder auch im mobilen Büro. Um sich in allen Umgebungen korrekt zu verhalten, gilt es dauernd dazuzulernen. Angemessene Umgangsformen berücksichtigen auch die Welt der Klingeltöne, der Notebooks und der Musik to go. Eine Regel daraus: "Stelle nur Bilder ins Netz, die deine Mutter freigeben würde." Freiherr von Knigge hätte es nicht besser formulieren können.
Knigge 2.0
Moderne Umgangsformen für unser Leben im Web 2.0.
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Starre nicht auf fremde Bildschirme. Verhalte dich wie an einem FKK-Strand: Persönliches geht dich hier nichts an.
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Lege dein Handy in Restaurants immer mit dem Display nach unten auf den Tisch. Sobald eine Tischdecke aufliegt, sollte das Telefon in der Tasche bleiben.
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Stelle nur Bilder ins Netz, die deine Mutter freigeben würde.
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Die erste "kostenfreie" Stunde WLAN in einem Café kostet mindestens einen Cappuccino und einen Muffin. Die zweite Stunde nur noch einen Schokokeks.
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Dein Handy auf Beerdigungen, Hochzeiten oder in einem Yoga-Kurs nicht auszuschalten ist genauso bedenklich wie mit starkem Husten ein Klavierkonzert zu besuchen.
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Entschuldige dich, bevor du mitten in einer Unterhaltung einen dringenden Anruf entgegennimmst.
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Eine U-Bahn ist kein Plattenladen. Wenn du unterwegs Musik hörst, stelle sicher, dass nur du sie hören kannst.
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Halte mindestens drei Meter Abstand zu anderen Menschen, wenn du in der Öffentlichkeit mit dem Handy telefonierst.
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Es ist in Ordnung, während des Essens eine SMS zu verschicken, solange dies alle am Tisch tun. Verwechsele jedoch nicht die Gabel mit dem Handy.
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Digitales Lächeln in Form von Smilies kann private Türen öffnen :), aber auch professionelle schließen :-(.
Auszug aus: 101 Leitlinien für die digitale Welt, entwickelt vom Creation Center der Telekom Laboratories zusammen mit dem Royal College of Art in London sowie weiteren Internet-Fachleuten, Juli 2010, mehr unter www.eEtiquette.de. (Computerwoche)