Neue technische Standards für den Kontakt von Klinikärzten und niedergelassenen Kollegen

Kommunikation zwischen Krankenhaus und Arztpraxis

26.10.2006
Im Rahmen der MEDICA 2006 in Düsseldorf wird die so genannte integrierte Versorgung mit Hilfe von Telemedizin wieder ein wichtiges Schwerpunktthema sein. Vom 15. bis 18. November können Besucher des 38. Weltforums der Medizin mit angeschlossenem Kongress IT- und Kommunikationslösungen begutachten, die für sich beanspruchen, die virtuellen Mauern zwischen den Sektoren des Gesundheitswesens zu schleifen.

Der Telemedizin werden dabei im Allgemeinen viele segensreiche Eigenschaften zugeschrieben. Dazu gehört auch die, dass die moderne Technik dazu beitragen kann, die Kommunikation zwischen Klinikärzten und ihren niedergelassenen Kollegen zu verbessern. Das heißt zum Beispiel, Klinikärzte haben schon zu dem Zeitpunkt, wenn ein Patient auf die Station kommt, die wichtigsten Informationen über dessen Krankheitsbild vorliegen, und die einweisenden Ärzte können im besten Fall die auf der Station in der Klinik erhobenen Befunde online einsehen. Doch was in der Theorie ohne Probleme machbar erscheint – und übrigens auch punktuell funktioniert -, das scheitert immer wieder an virtuellen Mauern zwischen Kliniken und Arztpraxen: den unterschiedlichen Standards, die von den vielen im Gesundheitssektor eingesetzten Programmen genutzt werden.

Eingaben in der Software eines niedergelassenen Arztes sind für das Kliniksystem meist nur ein unverständlicher Datensalat – und umgekehrt. So bleibt das Wissen eines Arztes darüber, was der Kollege mit dem Patienten vorher gemacht hat, oft genug abhängig davon, wie gut der Patient selbst über seine Krankheit Bescheid weiß und wie vollständig die Aufzeichnungen sind, die er zur Behandlung mitbringt. In solchen Fällen dürfte die erste Diagnose lauten: „Patient als Datenträger im Gesundheitswesen heillos überfordert.“

"Nichts geschieht ohne Zustimmung des Patienten"

Dass es anders geht, macht in diesen Tagen die kleine Stadt Lünen bei Dortmund exemplarisch vor. In der knapp 90.500 Einwohner zählenden Gemeinde zwischen Ruhrgebiet und Münsterland arbeitet das Medizinische Qualitätsnetz Lünen (MQL) seit diesem Frühjahr mit einer elektronischen Patientenakte – kurz ePA genannt. Die etwa 40 Haus- und Fachärzte des Netzes sind durch die von der CompuGROUP Health Service GmbH vertriebene vita-X-Akte untereinander und mit ihren Patienten vernetzt. „Die Akte funktioniert wie eine riesige elektronische Verwaltung aller den Krankheits- und Behandlungsverlauf eines Patienten betreffenden Daten wie Befunde, Röntgenbilder, Laborwerte, EKG oder Verordnungen und Arztbriefe“, erläutert Jürgen Lubienski, Internist und Vorstand des Ärztenetzes. Die vorgenannten Daten werden vom jeweils behandelnden Arzt direkt in die Akte eingegeben und dort gespeichert. Sie sind von Kollegen dann in der Akte abrufbar und können ergänzt werden, wenn der Patient einverstanden ist.

„Nichts geschieht ohne Zustimmung des Patienten“, betont Lubienski. Wer sich für die Akte entscheidet, erhält vom Hersteller seine persönliche „vita-X-Card“ zugeschickt. Diese ist vergleichbar der EC-Karte, mit der er am Bankautomat Geld abhebt. Mit der „vita-X-Card“ und einer Geheimnummer (PIN) autorisiert er dann Ärzte zum Lesen oder zu Eintragungen in die Akte. Dazu muss der Patient eine vierstellige PIN in den Computer des Arztes eingeben. Nach 24 Stunden läuft die Freischaltung ab. Danach muss der PIN erneut eingetippt werden, um gespeicherte Daten einzusehen oder weitere hinzuzufügen. Während der Einführungs- und Testphase ist die Karte für teilnehmende Patienten kostenlos, danach soll sie fünf Euro im Monat kosten.

Mit der „Klinik am Park“ in Lünen-Brambauer ist auch ein Krankenhaus in unmittelbarer Umgebung in die elektronische Kommunikation integriert. So können die Klinikärzte die Daten ebenfalls abrufen. „Muss ein Patient am Wochenende in die Notaufnahme, kann der Dienst habende Mediziner auf die vorhandenen Daten schnell und problemlos zurückgreifen“, sagt Lubienski. Das spare wertvolle Zeit, sichere Patienten eine hohe Behandlungsqualität und beschere dem Gesundheitswesen einen „echten“ fach- und sektorenübergreifenden Austausch. „Integrierte Versorgung klappt eben nur, wenn der elektronische Datenverkehr funktioniert“, sagt Lubienski.

Viele Insellösungen verhindern den Durchblick

Noch sind viele Produkte Insellösungen. Das heißt, nur Ärzte, die mit der Software des betreffenden Unternehmens arbeiten, können auf die Daten in einer übergreifenden Patientenakte zugreifen. Das Problem ist auch bei der „vita-X-Akte“ relevant, deren Daten bisher mit vielen Arztsystemen nicht kompatibel sind. Knapp die Hälfte aller Niedergelassenen können mit der Akte ohne Probleme zurechtkommen.

Nicht nur in Lünen, auch in anderen Regionen sammeln Ärztenetze und Kliniken inzwischen Erfahrungen mit der Telemedizin. Im Patient-Partner-Verbund München (PPV) zum Beispiel kommunizieren knapp 350 Haus- und Fachärzte, Apotheker, Physiotherapeuten sowie ambulante Pflegedienste über die webbasierte Gesundheitsakte „Lifesensor“ der InterComponentWare AG. An der Medizinischen Hochschule Hannover lässt sich das Pflegepersonal seit mehr als fünf Jahren erfolgreich von „NANCY“ bei administrativen Tätigkeiten wie Pflegeplanung, Dokumentation oder Dienstübergabe assistieren. „Weitere Schnittstellen nach draußen - zu Heimen oder niedergelassenen Medizinern - sind jederzeit möglich,“ sagt Heiner Laux von der HINZ Organisation im Gesundheitswesen GmbH, die „NANCY“ vertreibt.

Andere medizinische Praxisbetriebe wiederum setzen auf die Netzakte von „Soarian Integrated Care“ der Firma Siemens Medical Solutions GmbH. Auch hier werden - nach Zustimmung des Patienten - medizinische Daten zwischen Praxen und Kliniken sowie innerhalb ganzer Krankenhausketten ausgetauscht. Bei Bedarf können weitere Einrichtungen wie Reha-Kliniken oder Apotheken in das System eingebunden werden. „Übergänge von ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung lassen sich besser koordinieren, Mehrfachuntersuchungen reduzieren und Fehlerquellen - beispielsweise im Bereich der Medikamentenverschreibung - beseitigen“, erklärt Bianca Braun, Sprecherin bei Siemens Medical Solutions.

„Durch eine Verbesserung des Informationsflusses zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen kann die Verwaltung von Patientendaten vereinfacht werden, können schnellere und effizientere Abrechnungsmethoden erreicht sowie teure Doppeluntersuchungen und Falschüberweisungen vermieden werden“, heißt es auch im „White Paper“ zur Zukunft der Healthcare-Branche des IT-Dienstleisters T-Systems.

„Telematische Kommunikation ist im Alltag noch nicht angekommen“

Doch trotz der Argumente ist Deutschland von einem flächendeckenden elektronischen Austausch an Gesundheitsdaten weit entfernt. „Telematische Kommunikation ist im Klinik- und Praxisalltag noch nicht angekommen“, sagt Anna Niemeyer von ancomed, einem Consulting-Unternehmen, das Ärzte und Klinikchefs bei der Installation von IT-Lösungen berät. Es fehle an einer gemeinsamen Kommunikationskultur. „Bislang verstehen sich Klinik und niedergelassener Arzt nicht als Teil eines Teams zur Patientenversorgung.“ Die Folge: Viele Akteure behelfen sich weiterhin mit Brief, Telefon und Fax – wenn es denn überhaupt zu einer geregelten Kommunikation zwischen den beteiligten Ärzten kommt.

„Solange der direkte Nutzen für den einzelnen Anwender nicht erkennbar ist, wird er auch nicht in die Umstellung seiner Software investieren“, sagt Jürgen Sembritzki, Geschäftsführer des Zentrums für Telematik im Gesundheitswesen (ZTG) in Nordrhein-Westfalen. Viele Ärzte fragten sich immer noch: „Was bringt mir das eigentlich außer Kosten?“

„Wenn kein persönlicher Nutzen oder wenigstens die Aufwandsdeckung für den Arzt gesichert ist, sieht er auch keinen unmittelbaren Bedarf für den elektronischen Austausch“, bestätigt Andreas Kassner vom VHitG, dem Verband der Hersteller von IT-Lösungen für das Gesundheitswesen. Im Rahmen der MEDICA will der Fachverband daher den praktischen Nutzen der Telemedizin veranschaulichen.

Initiative „Intersektorale Kommunikation“ gegen Wildwuchs

Auch für die Initiative „Intersektorale Kommunikation“ des Verbandes soll bei der MEDICA geworben werden. Sie läuft seit Mai 2005, insgesamt 15 IT-Firmen des VHitG sind beteiligt. Das herstellerübergreifende Projekt zeige, wie wichtig einheitliche Standards für den elektronischen Datenaustausch über die sektoralen Mauern hinweg sind, betont Kassner. Erst mit einheitlichen Standards können Daten in einer elektronischen Patientenakte potenziell von allen Ärzten eingesehen werden, egal, mit welchem System sie arbeiten.

Ähnlich ist es mit elektronischen Arztbriefen, die Ärzte in Kliniken und Praxen untereinander per E-Mail austauschen. Kassner: „Die Einigung aller Marktteilnehmer auf die relevanten Standards und die gemeinsame Weiterentwicklung an den definierten Standards wird den Wildwuchs an selbst gebastelten Lösungen dämmen und langfristig Kosten senken.“ Und erst wenn dieses Ziel erreicht ist, kann die Telemedizin tatsächlich ihren Nutzen entfalten.

Reinhold Hölbling, MBmedien GmbH