US-Sanktionen kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine haben den Betreiber der umstrittenen Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 an den Rand des Ruins gebracht. Die Pipeline mit zwei 1.230 Kilometer langen Strängen zwischen Russland und Deutschland ist zwar seit einem Jahr fertig, aber wegen des Krieges nie in Betrieb gegangen. Die Nord Stream 2 AG, Tochter des russischen Gaskonzerns Gazprom, hat ihren Sitz im steuergünstigen Schweizer Kanton Zug. Die Volkswirtschaftsbehörde dort sprach im März schon von großen Zahlungsschwierigkeiten. Das Kantonsgericht gab der Firma eine Galgenfrist bis zum 10. September: eine provisorische Nachlass-Stundung, um Sanierungsmöglichkeiten zu prüfen. Es bestellte auch einen Sachwalter, der die Geschäfte überwacht.
Was macht das Unternehmen überhaupt noch?
"Es gibt keinen Betrieb mehr, und wir sind nicht mehr im Fahrersitz", sagt Nord-Stream-2-Sprecher Ulrich Lissek der Deutschen Presse-Agentur. "Wir unterstützen den Sachwalter. Wir identifizieren, welche Verträge mit wem geschlossen wurden, welche rechtlichen Verpflichtungen wir haben und welche technischen oder Umweltprüfungen womöglich anfallen, damit er sich einen Überblick über die Firma verschafft." Es seien von ursprünglich 230 noch etwa 30 bis 40 Mitarbeiter da, deren Verträge aber auslaufen. "Wir sind zum Abwarten verdammt", sagt Lissek.
Er verweist bei Zukunftsfragen auf den Sachwalter, die Schweizer Firma Transliq. Phillipp Possa von Transliq sagte der dpa dagegen: "Die Geschäftsführung ist weiterhin bei der Nord Stream 2 AG. Die Sachwalterin hat "lediglich" eine Überwachungsfunktion." Weiter will sich Transliq nicht äußern.
Was passiert, wenn die provisorische Nachlass-Stundung ausläuft?
Laut Kantonsgericht gibt es drei Optionen: Das Provisorium könnte verlängert werden, wenn noch Aussichten auf eine Sanierung ausgelotet werden. Es könnte aber auch in eine definitive Nachlass-Stundung umgewandelt werden, wenn entweder die Aussichten auf eine vollständige Sanierung gut sind oder sich ein Nachlassvertrag mit den Gläubigern mit einem teilweisen Schuldenerlass abzeichnet. Dritte Option ist der Konkurs. Er wird eröffnet, wenn das Unternehmen überschuldet ist, sein Vermögen also die Summe seiner Schulden nicht mehr deckt.
Was passiert bei einem Konkurs?
"Im Wesentlichen geht es zu Beginn darum, sich einen Überblick zu verschaffen und das Inventar zu sichern", sagt der Amtsleiter des Konkursamtes, Andreas Hess, der dpa. Laut Staatssekretariat für Wirtschaft kommen bei einem Konkurs sämtliche Anlagen, Immobilien, Maschinen, Konten und Ähnliches in die Konkursmasse und werden, wenn möglich, verkauft. Gläubiger haben ein Vorkaufsrecht, wie Transliq zwar nicht im konkreten Fall, aber allgemein auf seiner Webseite erklärt. Wenn kein Käufer gefunden wird, wird versteigert. Aus dem Erlös werden Gläubiger bezahlt, meist nur zu einem Bruchteil der Forderungen. Restliche Schulden werden gelöscht.
Kann die Pipeline verkauft werden?
Die Nord Stream 2 AG kann wegen der US-Sanktionen keinerlei Geschäfte machen, für jeden Käufer wäre die Übernahme illegal. Auch für das Konkursamt dürfte eine fertige Pipeline nicht einfach zu veräußern sein. Wie das gehen könnte, ist unklar. "Das ist ein Punkt, über den wir uns dann Gedanken machen, wenn es soweit ist", sagt Konkursamtsleiter Hess.
Wer sind die Gläubiger?
Gazprom hat die Hälfte der Pipeline bezahlt, die andere wurde von fünf Unternehmen finanziert, darunter aus Deutschland Uniper und Wintershall Dea. Beide haben die Milliardeninvestitionen bereits abgeschrieben. "Wir werden alle Möglichkeiten prüfen, um die abgeschriebenen Forderungen ganz oder teilweise einzutreiben", teilte Winterhall Dea der dpa mit. "Derzeit wird juristisch geprüft, ob es möglich ist, noch einen Teil der getätigten Ausleihungen ganz oder teilweise zurückzuerhalten", teilt auch Uniper mit.
Wer kümmert sich bei einem Konkurs um Sicherheit und Wartung der Pipeline?
Zuständig ist das Bergamt Stralsund. "Das Bergamt steht mit den Mitarbeitern der Nord Stream 2 AG in Kontakt, um die Pipeline zu überwachen", teilt der Sprecher des übergeordneten Wirtschaftsministeriums von Mecklenburg-Vorpommern, Gunnar Bauer, mit. Neben Nord-Stream-2-Personal sei am Endpunkt in Lubmin auch das Unternehmen Gascade zuständig. "Die Anlage befindet sich in einem betriebssicheren Zustand", heißt es von dort. Auch das Bergamt habe zur Zeit keine Bedenken, so Bauer: "Unabhängige Sachverständige haben Ende 2021 die Dichtheit und Festigkeit der Leitung attestiert." Für den Fall einer Insolvenz sagt Bauer: "Es bestünde die Möglichkeit, die Überwachung der Anlagen durch die Gascade abzudecken."
Die Deutsche Umwelthilfe, die das Projekt von Anfang an bekämpft hat, spricht von einer "tickenden Zeitbombe", unter anderem, weil die Pipeline mit Gas gefüllt ist. Bei einem Leck, einem Zusammenstoß mit einem U-Boot, einem Anschlag oder wenn eine noch scharfe Seemine aus vergangenen Zeiten dagegen treibe, drohe Gas an die Oberfläche zu gelangen und zu explodieren, sagt Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. Selbst eine leere Pipeline wäre ein Problem. Das Hindernis am Meeresboden beeinträchtige Tiere. Er verlangt - wie auch die FDP-Bundestagsfraktion - den Rückbau von Pipeline.
Was ist mit einer anderweitigen Nutzung etwa für Flüssigerdgas (LNG)?
Das Unternehmen Deutsche Regas würde gern auf See direkt an die Leitungen von Nord Stream 2 andocken, um so Erdgas einzuspeisen. Das würde nach entsprechenden Plänen als Flüssigerdgas (LNG) per Schiff angeliefert werden. Vom Bundeswirtschaftsministerium heißt es mit Blick auf die Umnutzung für LNG: "Diese Pläne werden von uns derzeit nicht verfolgt." Wohl auch, weil man sich zuvor erst einmal Zugriff auf die Anlage verschaffen müsste, etwa über eine Enteignung. Stattdessen plant die Deutsche Regas zunächst, ab Dezember LNG per Schiff direkt in den Lubminer Hafen zu bringen. Die Mengen wären aber geringer als bei der Nutzung der Pipeline.
Die Bundesregierung plant für Ende 2023 ein weiteres schwimmendes LNG-Terminal vor Lubmin. Dann könnte die Nutzung der Nord-Stream-2-Leitungen wieder ein Thema werden. (dpa/rs)