Durch den Kollaps der Wall Street werden die US-amerikanischen Finanzdienstleister mehr Stellen streichen als angekündigt und ihre Offshore-Aktivitäten verstärken, glauben Experten. Nach Ansicht von Peter Bendor-Samuel, Gründer und CEO der texanischen Beratungsfirma Everest Group stehen den Banken trotz der Soforthilfen durch die US-Regierung unter einem enormen Druck, ihre Kosten zu senken. Und dies sei nur durch eine massive Verlagerung von Arbeiten in Niedriglohnländer zu schaffen. Ähnlich sieht es Stan Lepeak, Research-Chef der Outsourcing-Beratung Equaterra. Allerdings könne es sein, dass der Kongress Maßnahmen gegen diesen Trend ergreife. "Hier stellt sich die Frage, inwieweit die Regierung die Geschäftspraktiken von privaten Unternehmen beeinflussen darf", räumt der Experte ein. Abgesehen vom Offshoring dienen viele Niedriglohnländer mittlerweile auch als wichtige Absatzmärkte. Speziell im Bereich Vermögensverwaltung werden die Kunden in Übersee immer wichtiger, beobachtet Equaterra-Mann Lepeak: "Dort sitzen schließlich die meisten der neuen Millionäre."
Die Finanzdienstleister in den USA sind in Sachen Offshoring sowieso schon am aktivsten. Für die indischen Outsourcer ist diese Branche die wichtigste Umsatzquelle. So entfielen von den 4,18 Milliarden Dollar Umsatz, die Infosys in seinem Ende März abgeschlossenen Geschäftsjahr erzielte, fast 36 Prozent auf Verträge mit Banken und Versicherungen. Bei Satyam (Jahresumsatz: 2,13 Milliarden Dollar) waren es im gleichen Zeitraum 24 bis 26 Prozent. Auch bei Wipro entfiel ein Viertel der knapp fünf Milliarden Dollar Jahresumsatz auf Finanzdienstleister. Die drei Offshore-Anbieter haben 2007 die meisten vorübergehenden Arbeitsgenehmigungen für US-Arbeitgeber (H-1B-Visa) beantragt. Den US-amerikanischen Einwanderungsbehörden zufolge wurden für Infosys im vergangenen Jahr 4559 solcher Visa genehmigt, für Wipro 2567 und für Satyam 1396.
Eugene Kublanov, Chef der Outsourcing-Beratung Neo IT, glaubt zwar nicht, dass die Banken in der derzeitigen Phase der Unsicherheit neue Offshore-Projekte in Angriff nehmen werden. "Aber wenn sobald sie wissen, wo sie stehen, werden sie ihre diesbezüglichen Aktivitäten verstärken. Das ist ein altbewährtes Muster in Krisenzeiten." Allerdings glaubt auch Kublanov, dass die Position der künftigen US-Regierung dabei eine entscheidende Rolle spielen werde. Speziell ein Sieg der Demokraten könne dazu führen, dass Firmen künftig mit Strafzahlungen davon abgehalten würden, ihre Jobs ins Ausland zu verlagern. Nach den Worten von Ron Hira, Professor am Rochester Institute of Technologie und Autor des Buches "Outsourcing America", wird die Krise den Boden für arbeitnehmerfreundliche Positionen ebnen. Die Frage sei, welche Mehrheiten sich diesbezüglich im Kongress bildeten. "Wahrscheinlich ist die Rezession so schlimm, dass das amerikanische Volk die Globalisierung anzweifelt. Aber ob sie so schlimm ist, dass die Eliten sie in Frage stellen, muss sich noch zeigen."