Psychologie

Kritzeln erwünscht!

25.10.2024 von Kristin Schmidt
Im Uni-Hörsaal, beim Telefonieren oder bei Besprechungen: Viele Menschen kritzeln gerne vor sich hin. Warum sie das tun und was die einzelnen Motive bedeuten, kann man psychologisch erklären.
Kritzeln kann die Aufmerksamkeit erhöhen, aber auch endgültig ablenken.
Foto: balabolka - shutterstock.com

Psychologie-Professor Alfred Gebert ist entsetzt. Der Student lässt seine Aufzeichnungen im Hörsaal liegen, doch anstatt seitenlanger Mitschriften entdeckt der Dozent nur wildes Gekritzel.

Häufig ärgerte sich der Hochschullehrer über die vermeintlich unaufmerksamen Künstler, die lieber Linien, Kreise oder Phantasiegestalten zu Papier brachten, statt seiner Vorlesung zu lauschen. Zu unrecht, wie er später feststellte. Denn Gebert schrieb immer wieder Tests. Das Ergebnis: Die Kritzler schnitten besser ab als die anderen Studenten. "Das hat mich überrascht", sagt der Wirtschaftspsychologe von der Fachhochschule des Bundes Münster.

Wer kritzelt, ist also nicht zwangsläufig unaufmerksam. Nein, im Gegenteil. Zu diesem Ergebnis kam die britische Psychologin Jackie Andrade von der Universität Plymouth. Bei ihrem Versuch kam heraus, dass Kritzler 29 Prozent mehr Informationen bei einem überraschenden Gedächtnistest behalten konnten als Nicht-Kritzler.

Die Teilnehmer hörten eine monotone Telefon-Nachricht ab, in der es um eine Party ging. Der Anrufer erzählte, wer schon zugesagt hatte und wer nicht zur Feier kommen würde. Die Aufzeichnung dauerte zweieinhalb Minuten. Die eine Hälfte der 40 Teilnehmer sollte Kritzeln, während sie der Partyplanung lauschte. Die anderen 20 sollten einfach nur zuhören. Das Ergebnis ist bekannt. Als mögliche Erklärungen führt die Psychologin mehrere Möglichkeiten an. Zum einen könnte Kritzeln einfach nur die geistige Erregung auf dem optimalen Level stabilisieren und damit die Menschen aufmerksam machen. Zum anderen könnte Kritzeln die Konzentration begünstigen, in dem es die Zuhörer davon abhält, in Tagträumen zu versinken.

Überschüssige Energie abbauen

Auch Psychologe Gebert von der Fachhochschule des Bundes in Münster glaubt, dass Zuhören alleine die Menschen oftmals unterfordere. Durch das Kritzeln würde die überschüssige Energie abgeführt. In den vergangenen 20 Jahren hat Gebert die Kritzelkunst seiner Studenten untersucht. Er sammelte regelmäßig die Zeichnungen im Hörsaal ein und ließ die Studenten Fragebögen zu ihrer Selbsteinschätzung ausfüllen. Dank der herumstehenden Namensschilder konnte er mehr als 500 Zeichnungen mit den Fragebögen vergleichen, Regelmäßigkeiten feststellen und Bedeutungen verschiedener Motive entschlüsseln.

Das sagen ihre Kritzeleien über Sie aus
Kreise und Spiralen
Diese Formen lassen eher auf einen introvertierten, zurückhaltenden Urheber schießen.
Eigener Name
Der Zeichner ist egozentrisch und selbstverliebt.
Wolken
Der Kritzler fühlt sich isoliert. Häufig findet sich auch ein Mond in der Zeichnung wieder.
Sterne
Der Zeichner träumt von einer besseren Welt.
Schlingpflanzen
Sie stehen für ungelöste Probleme.
Augen
Sie symbolisieren den kritischen Blick, sowohl auf sich selbst als auch auf das, was um einen herum passiert.
Blumen
Sie stehen für Harmonie mit anderen Menschen, seien es Kollegen oder Freunde.
Kästchen
Diese Zeichner sind meist sehr nüchterne und rationale Menschen. Auch "das Haus vom Nikolaus" ist bei ihnen ein beliebtes Motiv.
Gesichter
Sie sind ein typisches Motiv von humorvollen Menschen.

Doch nicht alles, was während eines Vortrags, eines Telefonats oder einer Vorlesung gezeichnet wird ist eine Kritzelei. Der Kunstpsychologe Georg Franzen aus Celle definiert Kritzeleien, wie folgt: "Kritzelzeichnungen werden ohne Bedeutungsabsicht und ohne technische Fertigkeiten gefertigt. Sie entstehen, während der Verfasser einer anderen Tätigkeit nachgeht. Sie sind nur teilbewusst." Häufig sind die Kritzler selbst überrascht, was da aus ihrer Feder geflossen ist.

Schöne Kritzeleien zeugen von Unaufmerksamkeit

Doch der Grat ist schmal, weiß auch Gebert. "Manche übertreiben es. Sie versinken ganz in ihrer Zeichnung und machen sie zur Hauptbeschäftigung", sagt der Psychologe. Und stellt fest: "Ist die Kritzelei zu schön, war der Urheber nicht mehr aufmerksam."

Das vermutet Gebert auch bei der ein oder anderen Zeichnung. Zum Beispiel das Bild von einem jungen Studenten zeige, dass Kritzeleien in Gemälde übergehen könnten. Und auch der Student gibt zu: "Die Kritzelei war leider das Einzige, was ich an diesem Tag aus der Vorlesung mitnehmen konnte."

Und auch ansonsten ist das Kunstwerk des jungen Mannes ein Sonderfall. Denn es ist nicht wie üblich mit Bleistift oder Kugelschreiber auf Papier gekritzelt, sondern auf einem Tablet entstanden.

Und obwohl es einige Kritzel-Apps gibt, fürchtet Gebert das Aussterben der Nebenbeschäftigung, sobald jedermann ein Tablet mit an den Konferenztisch nimmt. "Wir lenken uns mit anderen Dingen ab, wenn wir in der Besprechung nicht ausgelastet sind", sagt der Kritzel-Experte. "Schreiben E-Mails, surfen im Internet." Das ist dann zu viel der Ablenkung. (Quelle: Wirtschaftswoche)