Globale Infrastruktur

Kühne + Nagel migriert auf Open Source

20.05.2013 von Holger Eriksdotter
Der Logistikkonzern migriert seine AS400-IT-Landschaft und lässt seine X86-Systeme auf Open Source laufen. Dabei stellt sich die Frage nach der richtigen Balance zwischen zentraler und dezentraler IT.
Gerold Nagel, Head of Global Infrastructure, Kühne + Nagel: "Um eine Open-Systems-Landschaft in großem Stil zu betreiben, muss ich massiv in Prozesse, Standardisierung und Virtualisierung investieren."
Foto: Kühne + Nagel

Die Anforderungen an Logistikunternehmen sind rasant gestiegen. Immer enger geknüpfte Lieferketten erfordern weltumspannende, ausfallsichere IT-Infrastrukturen mit 24/7-Verfügbarkeit. "Wir haben schon in den 90er-Jahren mit der Konsolidierung unserer IT-Architektur begonnen - damals allerdings noch auf Basis der IBM-AS400-Architektur", sagt Gerold Nagel, Head of Global Infrastructure bei Kühne + Nagel.

Inzwischen findet die schrittweise Umstellung auf x86-Systeme mit dem Betriebssystem Linux statt. Dabei sind die offenen Systeme anfangs schleichend ins Unternehmen eingezogen. Gleichsam unter dem Radar der zentralen IT-Administration wurden immer mehr kleine Systeme in nicht kritischen Bereichen als lokal installierte Zusatzfunktionen, Support-Systeme oder im Front-Office eingesetzt.

Der strategische Umzug der Kernsysteme auf Open-Systems-Software bedeutet für Kühne + Nagel allerdings einen weitaus größeren Schritt. Denn anders als in den meisten Branchen und Unternehmen üblich, verzichtet das Logistikunternehmen fast vollkommen auf Standardsoftware. Alle Kernapplikationen - von der Finanzbuchhaltung und dem Controlling bis hin zu den Geschäftsbereichen - sind selbst entwickelt. Eben diese Applikationen müssen deshalb in Java komplett neu geschrieben werden.

Fast keine Standardsoftware

Martin Kolbe CIO, Kühne + Nagel: "Wir haben bei der laufenden Neuausrichtung besonderen Wert darauf gelegt, uns nicht von externen Anbietern abhängig zu machen."
Foto: Kühne + Nagel International

Die Abstinenz von Standardapplikationen ist kein Zufall, sondern eine strategische Entscheidung, für die Martin Kolbe, CIO und Mitglied der Geschäftsleitung der Kühne + Nagel International AG, gute Gründe hat: "Für die Kernfunktionen von Logistikunternehmen gibt es kaum Standardlösungen - erst recht nicht für ein so weit verzweigtes und spezialisiertes Geschäft, wie wir es betreiben", sagt der CIO. Sein Unternehmen belegt im See- und Luftfrachtgeschäft weltweit Rang eins und drei der globalen Anbieter.

Zudem ist es ein zentrales Anliegen des CIOs, Abhängigkeiten und Kosten zu vermeiden, die Standardsoftware auch immer mit sich bringe. Denn das spezifische Logistik-Know-how ist zu großen Teilen in die IT-Applikationen des Unternehmens gegossen. Wenn Unternehmen hauptsächlich mit Standardsoftware arbeiteten, liefen sie Gefahr, die Fähigkeit der Eigenentwicklung von Applikationen zu verlieren. "Wir haben aus diesem Grund auch bei der laufenden Neuausrichtung unserer globalen Infrastruktur besonderen Wert darauf gelegt, dass unser Know-how im Hause bleibt und wir uns nicht von externen Anbietern abhängig machen", sagt CIO Kolbe.

Für die Migration der Systeme auf eine offene Architektur gab es mehrere Argumente: Die alten Anwendungen waren weitgehend in RPG (Report Program Generator) geschrieben. Die Programmiersprache ist zwar auf Mainframe- und AS400-Systemen noch recht verbreitet, eignet sich aber kaum mehr für moderne Browser-basierte Anwendungen. Zudem sind Programmierer dafür auf dem Arbeitsmarkt nur sehr schwer zu finden, und auch die begehrten Junginformatiker sind meist wenig begeistert von der Perspektive, sich in eine Programmierumgebung ohne Zukunft einzuarbeiten.

Wichtiger aber noch: "Die Anforderungen haben in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Wir brauchen deshalb gerade für eine international verteilte IT-Landschaft flexiblere, besser modularisierbare und skalierbare Systeme", sagt der Infrastrukturverantwortliche Nagel. Nicht zuletzt eröffnet der Umstieg auf eine offene Architektur eine größere Auswahl an Standardhardware und setzt der Abhängigkeit von einem einzigen Hardwarelieferanten ein Ende. Dennoch verabschiedet er sich nicht ohne Wehmut von der alten AS400-Architektur, deren Stabilität und Leistungsfähigkeit er über die Jahre schätzen gelernt hat.

Linux und Java sind nicht kostenlos

Mit der Konsolidierung wurde gleichzeitig ein Business-Continuity (BC)- und Desaster-Recovery (DR)-Konzept realisiert.
Foto: Kühne + Nagel Inc.

"Offene Systemlandschaften sind ohne Zweifel leistungsfähiger als proprietäre Systeme, aber der Preis dafür ist eben auch eine höhere Komplexität, die gemanagt werden muss", erklärt Nagel. Natürlich rechnet er mit Kosteneinsparungen, weiß aber auch, dass Linux und Java nicht kostenlos zu betreiben sind: "Bei offenen Systemen fallen neben den geringeren Hardwarekosten zwar die Lizenzgebühren weg, aber der Aufwand für Support, Wartung und Administration ist erheblich und natürlich nicht gratis zu haben. Um eine Open-Systems-Landschaft in großem Stil zu betreiben, muss man in Prozesse, Standardisierung und Virtualisierung investieren."

Inzwischen ist das Importmodul der Applikation "AirLOG" für Luftfracht auf Java/Linux portiert und wird seit Oktober 2012 in einem ersten Release weltweit ausgerollt, ebenso wie das Finanz- und Controlling-System "Acon". Die Seefracht-Import-Applikation "SeaLOG" soll als Nächstes folgen, Ende kommenden Jahres dann die Exportmodule. Und auch die Rechenzentren (RZ), die Kühne + Nagel weltweit betreibt, sind in Umstellung begriffen. Auf absehbare Zeit wird es noch einen Parallelbetrieb der alten AS400- und der neuen x86-Systeme geben.

Die Konsolidierung der weltweiten Rechenzentren für die strategischen Systeme auf die drei Standorte Hamburg, New York und Hongkong ist bereits seit 2008 abgeschlossen. "Verteilt über die Zeitzonen können wir mit diesen drei Standorten einen effizienten Rund-um-die-Uhr-Service sicherstellen, weil immer ein RZ zu Tagesarbeitszeiten zur Verfügung steht." Mit der Konsolidierung wurde gleichzeitig ein Business-Continuity (BC)- und Desaster-Recovery (DR)-Konzept realisiert, das bei einem Ausfall die Übernahme der gesamten Arbeitslast durch ein anderes RZ ermöglicht.

Parallel zur Konsolidierung der Rechenzentren fand in den vergangenen beiden Jahren die Reorganisation der regionalen IT in drei Service Center (EMEA, Americas und Asia Pacific) statt. Am Hauptsitz der deutschen Kühne + Nagel-Organisation in Hamburg ist neben dem EMEA-Service-Center auch das globale IT-Service-Center angesiedelt, von wo aus die zentrale IT des Unternehmens gesteuert wird. Hier sind die Ressourcen und das IT-Know-how des Unternehmens gebündelt, hier fallen alle Entscheidungen, die unternehmensweite Standards und die globale Infrastruktur- und Applikationslandschaft betreffen.

Allerdings sind der zentralen Steuerung in einem weltweit agierenden Logistikunternehmen Grenzen gesetzt: "Wir versuchen, überall dort, wo es sinnvoll und vorteilhaft ist, Standards und zentrale Lösungen umzusetzen." Aber weltweit ist das nicht durchzuhalten, zu unterschiedlich sind die Gegebenheiten und Anforderungen in den einzelnen Regionen. Zum Beispiel weichen Zollerklärungen in den einzelnen Ländern erheblich voneinander ab. Dabei geht es nicht nur um die Sprache, sondern auch um die jeweiligen Zoll- und Steuergesetze. "Es wäre sicher nicht sinnvoll, in der IT-Zentrale die Zollerklärungen für jedes Land dieser Welt zu programmieren", sagt Nagel, "hier setzen wir auf die Kompetenz unserer Service-Center."

"Die Kehrseite der IT-Zentralisierung ist, dass man Gefahr läuft, die Nähe zum Kunden und Anwender zu verlieren." Deswegen müsse immer abgewogen werden, welche Aufgaben bei den Service-Centern und welche besser in der Zentrale aufgehoben sind. Für länder- und kundenspezifische Anpassungen sind jetzt die jeweiligen Service-Center zuständig, ebenso wie für die lokalen Lohn- und Gehaltsabrechnungen. "In den 90er-Jahren hatte noch jedes Land eine eigene IT-Organisation, aber deren Aufgaben haben wir jetzt in den Service-Centern konsolidiert." Lediglich ein "Field Support", der für Support und Wartung von Office-Ausstattung und lokaler Netzwerk-Infrastruktur zuständig ist, ist noch in den einzelnen Ländern präsent.

In mehr als 100 Ländern ist Kühne + Nagel mit seinen 63.000 Mitarbeitern vertreten. Die Netzwerkinfrastruktur spielt deshalb für die Anbindung der lokalen Niederlassungen an die Zentrale und die Rechenzentren eine besondere Rolle. Nachdem Kühne + Nagel früher mit einer Vielzahl lokaler und regionaler Provider zusammenarbeitete, ist seit einigen Jahren der Betrieb des weltweiten Wide Area Network (WAN) an einen Provider ausgelagert. Im Zuge des Infrastrukturprojekts wurde auch diese Entscheidung überdacht.

Das Logistikunternehmen arbeitet jetzt mit zwei Netzwerkpartnern zusammen. "Die Entscheidung für zwei Provider hat nicht nur mit der weltweiten Abdeckung, der Qualität und den Kosten zu tun. Uns ging es auch darum, die Abhängigkeit von einem einzigen Dienstleister zu vermeiden", sagt Nagel.

Unternehmenszahlen von Kühne + Nagel

Unternehmen

Kühne + Nagel

Hauptsitz

Schindellegi (Schweiz)

Umsatz

20,75 Milliarden Schweizer Franken

Mitarbeiter

63.000 in mehr als 100 Ländern

CIO

Martin Kolbe (seit 2005)

Projekt

Globale Infrastruktur neu ausrichten

Projektziel

Systemlandschaft umstellen von AS400 auf offene
Systeme (x86,Linux/Java);
RZ- und Netzwerkinfrastruktur konsolidieren

Laufzeit

Ende 2012 bis 2016

Hard-/Software

x86, Linux, Java