In den 80er Jahren produzierte der Daimler-Konzern den "Baby Benz", offiziell bekannt als C-Klasse. Die Fahrzeugproduktion war seinerzeit eine rein mechanische Angelegenheit und von den IT-Systemen getrennt, berichtet Markus Schäfer, der bei Mercedes Benz Cars den Bereich Produktion und Supply Chain Management verantwortet. "Heute ist IT integraler Bestandteil der Fertigung."
Der schwäbische Autobauer produziert mittlerweile in mehr als 30 Fabriken weltweit, jeden Tag müssen 50 Millionen Teile logistisch bewältigt werden. Schäfer: "Die Logistik ist zu einer echten Herausforderung geworden, die weiter zunimmt." Und das ist nur ein Aspekt, den der Konzern im Zuge des digitalen Wandels beachten muss. Die wichtigsten Handlungsfelder sind Connectivity, autonomes Fahren, Shared Mobility sowie die Elektrifizierung der gesamten Fahrzeugflotte. Auf der CES in Las Vegas präsentierte der Hersteller etwa das neue Infotainment-System MBUX, das mit künstlicher Intelligenz und einem innovativen Bedienkonzept punkten soll.
Strategisch wolle sich Mercedes Benz Cars vom Hardwarehersteller zum Mobilitätsdienstleister entwickeln, erklärte Schäfer auf dem Fachkongress automotiveIT in Berlin: "Wir bewegen uns näher zum Kunden." Mit Blick auf die Produktion brauche es dazu durchgängige Wertschöpfungsketten, mehr Flexibilität und eine "360-Grad-Vernetzung" sämtlicher Komponenten. In diesem Kontext arbeitet der Konzern schon seit längerem an Zukunftskonzepten. Die "Factory 56" am Standort Sindelfingen soll die modernste Fabrik der Welt werden und Ende 2019 den Betrieb aufnehmen. Eine halbe Milliarde Dollar hat der Konzern laut eigenen Angaben in das Vorhaben investiert.
Fertigungsexperte Schäfer sieht drei Trends, die die Automobilindustrie nachhaltig verändern: Mit 3D-Drucktechniken werde sich die additive Fertigung auf breiter Front durchsetzen; der Umstieg von Wechselstrom auf Gleichstrom bringe zugleich dramatische Verbesserungen in puncto Energieeffizienz. Last, but not least führe die künstliche Intelligenz (KI) zu weitreichenden Veränderungen der Arbeitsprozesse.
Künstliche Intelligenz in der Porsche-Produktion
Auch Sven Lorenz, CIO der Volkswagen-Tochter Porsche, betont das Potenzial der künstlichen Intelligenz. Er verweist auf eine Prognose des Beratungsunternehmens McKinsey. Durch den Einsatz von KI könnten sich demnach in der Automobilindustrie bis 2025 Kosteneinsparungen beziehungsweise eine Wertschöpfung in Höhe von 215 Milliarden Dollar ergeben.
Lorenz sieht zahlreiche Anwendungsfelder in der Automotive-Branche. Im Bereich digitale Produkte und Services ermögliche KI beispielsweise assistiertes und autonomes Fahren, Sprachsteuerung und die Entwicklung "persönlicher Mobilitätsassistenten". Mit Blick auf die Customer Journey könnten intelligente Anwendungen Vorhersagen treffen, Stimmungen analysieren und dem Kunden automatisiert Empfehlungen geben. Nach innen gerichtete Systeme mit KI-Funktionen bildeten die Grundlage für prädiktive Wartung, Robotic Process Automation und Betrugserkennung.
Im Rahmen des Projekts "Sound Detective" arbeitet etwa das Porsche Digital Lab in Berlin am Thema Künstliche Intelligenz und Predictive Maintenance in der Produktion (siehe dazu auch: Porsche fährt mit Vollgas in Richtung Digitale Transformation). Das gemeinsam mit dem Startup iNDTact entwickelte System erkennt Geräusche und Vibrationen und soll damit in der Lage sein, frühzeitig Fehler von Maschinen durch Abweichung vom Normalverhalten zu identifizieren.
Volkswagen CIO fordert Open-Source-Algorithmen
Bei der Konzernmutter Volkswagen spielt künstliche Intelligenz schon seit geraumer Zeit eine wichtige Rolle. CIO Martin Hofmann spricht von "Augmented Intelligence" und meint damit den KI-Einsatz im Unternehmenskontext. So könnten KI-Systeme etwa helfen, komplexe Situationen zu bewerten, wie sie beim autonomen Fahren auftreten. In der Fahrzeugproduktionen ließen sich KI-Systeme zur Erkennung von Mustern in sehr großen Datenbeständen einsetzen. Volkswagen nutze solche Fähigkeiten etwa in der Fahrzeuglackierung, um frühzeitig Anomalien zu entdecken und die Qualitätssicherung zu verbessern.
Der Volkswagen-Konzern betreibt in Sachen KI auch Grundlagenforschung, wie Hofmann berichtet. Im Bereich der angewandten KI hat das Unternehmen unter anderem den "Procurement Bot for Sourcing" entwickelt. Der intelligente Assistent soll den Einkäufer in "digitalen Preisverhandlungen" mit Zulieferern unterstützen. Der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung sieht den Bot dabei nicht. Volkswagen nutzt dazu mehrere Technologien, darunter Natural Language Processing (NLP) und neuronale Netzwerke.
Den "Turbolader" für die weitere Entwicklung der KI in der Praxis sieht der CIO in der Kombination von Machine Learning, Cloud-Plattformen und Quanten-Computing. Was daraus entsteht, nennt er "Quantum Machine Learning". Neuronale Netze könnten damit wesentlich schneller dazulernen und völlig neue Anwendungsfelder eröffnen; Data Sets ließen sich künstlich erzeugen und Machine-Learning-Algorithmen könnten automatisch generiert werden. Volkswagen kooperiert dazu unter anderem mit Google und dem Quantencomputer-Spezialisten D-Wave.
Unterm Strich biete die Automotive-Branche perfekte Bedingungen für angewandte KI, resümiert Hoffmann. Für den praktischen Einsatz brauche es allerdings Regeln. Nach seiner Auffassung sollten beispielsweise Machine-Learning-Algorithmen allen zugänglich sein, ganz besonders in den für Menschen kritischen Bereichen wie autonomes Fahren. Das funktioniere nur, wenn die Algorithmen nach einem Open-Source-Modell offengelegt würden.
IT-Transformation beim Zulieferer Visteon
Nicht nur die im Branchenjargon OEMs genannten Autobauer, auch die Zulieferer setzen auf KI-Technologien. Zu den größten weltweit gehört die amerikanische Visteon Corp., die im Jahr 2000 aus der Ford Motor Company ausgegliedert wurde. CIO Raman Mehta sieht die IT als Innovationstreiber und hat ein umfassendes Transformationsprojekt angestoßen. Die Konvergenz von künstlicher Intelligenz, 5G und Cloud Computing eröffne Visteon neue Chancen.
Um die vielfältigen Herausforderungen meistern zu können, müsse sich die interne IT nicht nur in technischer Hinsicht wandeln, so der Manager. So gelte es zunächst, die richtigen Skills aufzubauen, vor allem in Schlüsselbereichen wie Big Data / Analytics und künstlicher Intelligenz. Ebenso wichtig sei das "Engagement" der ITler, sprich die Bereitschaft, sich viel intensiver mit Kollegen aus den Fachabteilungen auszutauschen. Geht es um die Innovationsfähigkeit, sollte die IT sich nicht scheuen, State-of-the-Art Technologien der Cloud-Provider in Anspruch zu nehmen. Visteon verfolge auch aus diesem Grund eine konsequente Cloud-Strategie.
Auch Mehta nennt eine Reihe von Anwendungsfeldern, in denen KI-Techniken zum Einsatz kommen. Dazu gehören etwa automatisierte, sich selbst "heilende" Software-Tools. Sie könnten beispielsweise im Bereich Service Desk dazu beitragen, die Anzahl der Calls zu reduzieren. Auch klassische IT-Infrastruktur-Komponenten wie Server, Storage oder Netzwerke ließen sich mit intelligenten und selbstlernenden Systemen effizienter und sicherer nutzen.
Unterwegs in der Digital Lounge
Wie die nahe automobile Zukunft aussehen könnte, zeigt das chinesische Startup Future Mobility Corporation (FMC) mit seiner Automarke Byton. Wenn der erste Elektro-SUV Ende 2019 auf den Markt kommt, dürfen sich Kunden nicht nur auf Reichweiten von mehr als 500 Kilometern freuen. Der erste Byton werde auch vom Start weg autonomes Fahren gemäß Level 3 erlauben, versprach Jeff Chung, VP Intelligent Car Experience, auf dem automotiveIT-Kongress. Später sei ein Upgrade auf Level 4 erhältlich.
Die strategische Ausrichtung des vom ehemaligen BMW-Manager Carsten Breitfeld geleiteten Unternehmens wird am Markenname Byton deutlich, der sich von "Bytes on wheels" ableitet. Dementsprechend sollen sich die E-Fahrzeuge durch eine breite Palette an intelligenten Services von der Konkurrenz unterscheiden, die über die Byton-Cloud bereitgestellt werden. Das geht bis hin zum digitalen Dienst "myHealth", der bei Bedarf das Gewicht des Fahrers ermittelt und nützliche Tipps gibt.
Zur Grundausstattung des Byton gehören ein 1,25 Meter breites digitales Cockpit und weitere Displays für die Fahrgäste im Fonds. Die chinesischen Visionäre mögen denn auch nicht mehr von einem schnöden Innenraum reden: Der gemeine Byton-Nutzer reist in einer "Digital Lounge".