Warenwirtschaftssysteme im Handel

Ladenhüter vor dem Rausschmiss

07.10.2002
Der deutsche Handel klagt lieber über schlechte Margen, als in moderne Warenwirtschaftssysteme zu investieren. Doch die Altsysteme reichen längst nicht mehr aus: Ohne neue Technik lassen sich keine Wettbewerbsvorteile erzielen, sind Handelsunternehmen nicht mehr steuerbar und wettbewerbsfähig.

CIO Wolfgang Mähr bekommt derzeit viel Besuch. Aus Deutschland, den USA, Mexiko und selbst von der Konkurrenz aus dem eigenen Land reisen CIOs in die Spar-Zentrale nach St. Gallen. Der Grund: Die Margen im Handel sind seit Jahren miserabel. Um dies zu ändern, wollen Mährs Kollegen das Warenwirtschaftssystem der schweizerischen Lebensmittelkette kennen lernen.

Ihnen fehlen die Kunden. Mit noch niedrigeren Preisen lassen sich Umsatz und Gewinn nicht mehr steigern. Doch statt über Konsumverhalten, Abgaben- und Steuerlasten, Euro-Einführung und Wirtschaftskrise zu lamentieren, könnten sich die Handelsunternehmen selbst helfen.

Warenwirtschaftssysteme sollen - vom Lieferanten über das Lager bis zum Ladenregal - die gesamte Handelskette steuern. So werden mit IT-Hilfe Lagerbestände verringert sowie Sortiment und Preise anhand von Kundendaten auf die jeweilige Filiale zugeschnitten. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die IT vieler Handelshäuser besteht aus einer Unzahl von Anwendungen, deren Leistungsfähigkeit der Komplexität der Daten oft nicht gewachsen ist. In vielen Baumärkten stünden die Verkäufer noch vor den Regalen, um per Hand die Ware zu zählen und die Bestellung dann an das Zentrallager zu faxen, so ein Insider.

Vielen Händlern fehlt der Mut für IT-Investitionen. Die Ausrede: Die Gewinne erlaubten dies nicht. Dass eine moderne IT gerade zu einer Umsatzsteigerung beitragen kann, fällt dabei unter den Tisch. Ein weiteres Problem: Bei dezentral geführten Unternehmen lassen sich Filialen und Untereinheiten nur schwer in eine gemeinsame IT-Strategie einbinden. Das musste auch der ehemalige Tengelmann-CIO Meinhard Holle erfahren, der die Einzelhandelskette (7000 Filialen in 16 Ländern, 26 Milliarden Euro Umsatz) nach einem Jahr wieder verlassen hat.

Alle Informationen tagesaktuell auswerten

Die Spar-Verantwortlichen in der Schweiz starteten im April 1999 mit ihrem Projekt. Ende November 2000 nahm das SAP-Modul Retail die Arbeit auf. "Im Data Warehouse laufen alle Geschäftsinformationen zusammen; sie können dann tagesaktuell ausgewertet werden", erklärt CIO Mähr. So lassen sich Einkaufs- und Verkaufsmargen darstellen sowie Mindestpreise ermitteln.

Im Lager wurde die Arbeit der Kommissionierer mithilfe von Funk-Scanner-Pistolen optimiert. "Die Reklamationen über falsch gelieferte Ware sind stark zurückgegangen, die Regale in den Märkten laufen kaum noch leer", fasst Mähr die Fortschritte zusammen. Das Management in diesem Bereich stellt eine zentrale Aufgabe für den Großhandel dar. Lager und Zentrallager dürfen nicht überquellen und keine Leerstände aufweisen. Zugleich dürfen die Filialen nicht zu viel oder zu wenig Ware bekommen; sie müssen genau passend beliefert werden.

Die Metro-Gruppe setzt dabei vornehmlich auf Eigenentwicklungen. "So wird gewährleistet, dass wir die spezifischen Handelsprozesse umfassend abdecken", erklärt Boeck. Ein Insider vermutet eine weitere Absicht: Die IT-Tochter der Metro wolle selbst als Anbieter von Software für den Handel auftreten.

Standard-Software oder Eigenentwicklung?

Die Kernfrage lautet auch im Handel: Standard-Software kaufen oder mit Eigenentwicklungen arbeiten? Firmen rechtfertigen selbst gestrickte Programme oft mit der Unabhängigkeit von Software-Anbietern. Peter Sentker, früher European Head of IT bei C&A und heute Geschäftsführer von Enabler & Retail Consult, hält das für falsch: "Praktisch hängen solche Entwicklungen von wenigen Mitarbeitern ab. Wenn jemand geht, gerät alles ins Stocken."

Auch ein anderes Argument lässt Sentker nicht gelten. Danach fürchten Händler, dass ihre Prozesse mit denen der Konkurrenz vergleichbar würden. "Wettbewerbsvorteile ergeben sich nicht in erster Linie durch die Software selbst; entscheidend ist, wie die Prozesse umgesetzt werden. Standard-Software liefert hierzu das Grundmuster."

Wolfgang Gattermeyer, Accenture-Geschäftsführer Konsumgüterindustrie und Einzelhandel, teilt diese Meinung: "Es müssen wirklich schon sehr gute Gründe vorliegen, um selbst Programme zu entwickeln" - etwa wenn es für spezielle Anwendungen kaum Anbieter gebe. In Standard-Software dagegen fließen permanent neue Entwicklungen ein. "Marktentscheidend ist heute, wie schnell die IT auf Marktveränderungen reagieren kann. Steuer- und Handelsgesetze sind im Fluss, die Kooperation mit ausländischen Zulieferern und Filialen erfordert mehrsprachige Systeme. Das kostet viel Geld. Und das müssen CIOs wissen, wenn sie auf Eigenentwicklungen setzen."

Doch egal, für welchen Weg sich ein Unternehmen entscheidet: "IT ist im Handel immer nur ein Werkzeug, das die Geschäftsprozesse unterstützt und treibt", sagt Gattermeyer. Aber auch ein Werkzeug kostet eben Geld. Daher sollten CIOs das Management immer mit einem Business-Case überzeugen. Sie sollten mit einem überschaubaren Projekt starten, das schnell Gewinn bringt, so weitere Projekte finanziert - und die Argumentation des CIOs stärkt.

Auch CIO Mähr rechnete dem Vorstand vor, was die neue IT dem Unternehmen einbringen würde. Wegen des Jahr-2000-Problems und der Euro-Umstellung entschied er sich für die Big-Bang-Lösung: "Wir wollten uns die Schnittstellen zu den Altsystemen ersparen."

Mit einer Nutzenargumentation lassen sich zudem notwendige Organisationsänderungen leichter durchsetzen. "Wenn ein CIO mit Gewinn und Nutzen ausdrückt, was IT-Investition und Organisationsänderung bringen, versteht das jeder. Wie elegant die technologische Lösung aussieht, interessiert dann kaum noch", so Gattermeyer.

Wichtig auch: "Alle Beteiligten müssen vom CIO so früh wie möglich eingebunden, die neuen Zuständigkeiten überzeugend vermittelt werden. Sonst kommt ein Projekt schnell ins Stocken", sagt Sentker. Grund: "Wo bisher selbst entwickelt wurde, wird nun Standard-Software implementiert - ein Paradigmenwechsel für die IT." Gerade das mittlere Management habe Angst vor Organisationsveränderungen; gleich zu Beginn seiner Beratung stehe deshalb das Veränderungsmanagement.

Sentker rät CIOs, eine Kommunikationsschnittstelle zu schaffen, die zwischen der IT und dem Geschäftsbereich vermittelt. "Dort sollten Mitarbeiter aus dem Business mit starkem IT-Bezug sitzen, die als Treiber des Geschäfts ein Gespür für die Notwendigkeiten beider Seiten besitzen."

Auch Mähr hat eine solche Abteilung eingerichtet. "Die vier Kollegen müssen sehr lösungsorientiert arbeiten." In Zukunft will er noch enger mit der Industrie kooperieren. Schon Endes des Jahres startet Mähr mit einem internationalen Konsumgüterkonzern und dessen Zulieferern ein Projekt, bei dem er der Lieferantenseite seine Kundendaten zur Verfügung stellt. Das Ziel: optimale Produkte und Prognosen. Dann wird Mähr sicher noch mehr Besuch aus aller Welt bekommen.

Dirk Seifert (Hrsg.)

Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment

Das Konzept integriert die komplette Handelskette: Marketing, Produktion, Logistik und Vertrieb (mit Fallbeispielen aus der Praxis).

Galileo Business, Bonn 2002, 444 Seiten; 59,90 Euro