Mansur Zaskar war ein unauffälliges Kind. In der Schule war der Kanadier weder schlecht noch herausragend, weder beliebt noch einsam. Er studierte Sozialwissenschaften, aber für das Fach konnte er sich nicht recht begeistern. Er brachte das Studium zwar zu Ende, doch besonders ehrgeizig war er nie. Deshalb nahm er eine Stelle an der Universität an, die ihn ebenfalls wenig forderte. Eines Tages wurde ihm alles zu viel. Im Sommer 1997 schluckte der 30-Jährige in seiner Wohnung mehr als 70 Schlaftabletten.
Er hatte Glück im Unglück. Ein Mitbewohner entdeckte ihn und rief den Notarzt, Zaskar überlebte. Als er wieder genesen war, überwiesen ihn die Mediziner in eine Nervenheilanstalt.
Dort untersuchte ihn der Psychiater Isaac Sakinofsky. Ihm erzählte Zaskar von seinen Problemen. Dass er sich beinahe leblos vorkomme, dass er sich einsam fühle und im Leben keinen Sinn sehe. Doch Sakinofsky diagnostizierte bei ihm weder Depressionen noch einen Burn-Out. Seiner Meinung nach litt Mansur Zaskar an schwerer und chronischer Langeweile.
Das gestand sich der Patient auch selbst ein: "Ich fühle mich extrem gelangweilt. Meine Arbeit langweilt mich, meine Freunde auch, meine Hobbys, Musik, Lesen oder Filme. Egal was ich unternehme, mir ist ständig langweilig."
Anzeichen von Langeweile
Sicher, der Fall des Mansur Zaskar ist ein Extrembeispiel. Doch zumindest die abgeschwächte Form kennen alle. Egal ob Schüler im Klassenraum, Patienten im Wartezimmer, Autofahrer im Stau oder Pendler am Bahngleis - jeder hat schon mal erlebt, dass die Zeit nicht vergehen will; dass er nichts mit sich anzufangen weiß; und dass er deshalb frustriert und vielleicht sogar wütend wurde. So unterschiedlich die Anlässe und Ausmaße auch sind - alle sind typische Anzeichen von Langeweile.
Mit diesem Gefühl beschäftigen sich kluge Menschen schon seit Jahrhunderten. Griechische Philosophen benutzten einst das Wort "Acedia", was so viel heißt wie "Nichtsmachenwollen", Stumpfsinn und Eintönigkeit. Der französische Denker Blaise Pascal benutzte dafür den Begriff "Ennui". Für den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard war es sogar "die Wurzeln allen Übels". Und der deutsche Denker Walter Benjamin meinte: "Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten."
Doch in vergangenen Jahren haben sich mit diesem Gefühl auch Psychologen auseinandergesetzt. Und dabei haben sie vor allem drei Erkenntnisse gewonnen: Langeweile ist alltäglich und kann durchaus gefährlich sein - aber sie lässt sich auch produktiv nutzen.
Geistige Einöde
Noch immer ist umstritten, was genau sich hinter Langeweile verbirgt. Der Duden versteht darunter ein "lästig empfundenes Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins, der Eintönigkeit und Ödheit, das aus Mangel an Abwechslung, Anregung, Unterhaltung, an interessanter, reizvoller Beschäftigung entsteht".
Psychologen konnten sich bislang nicht auf eine allgemeingültige Definition einigen. Dafür ist Langeweile, anders als Emotionen wie Angst oder Freude, zu schwer definierbar. Doch zumindest drei Aspekte finden sich in jeder Erklärung.
Drei Aspekte der Langeweile
Erstens umfasst Langeweile Frustration: Wer sich einer unbefriedigenden und uninteressanten Tätigkeit hingibt, dessen Stimmung leidet unter der Leere. Zweitens gehört dazu ein gewisses Maß an Bedeutungslosigkeit. Gelangweilte stellen sich automatisch Sinnfragen à la "Was mache ich hier eigentlich?". Und drittens wirkt sich das Gefühl auf die Umgebung aus - alles um uns herum erscheint plötzlich belanglos und trivial.
Natürlich könnte man Langeweile leicht abtun. Nach dem Motto: "Es gibt Schlimmeres". Und außerdem verschwindet das Gefühl nach einer Weile ohnehin wieder. Doch wahr ist eben auch: Langeweile kann durchaus ernste Konsequenzen haben. Auch im Berufsleben.
Zwei Ursachen
Zunächst einmal muss man unterscheiden. Auf der einen Seite kann Langeweile die Folge der Jobumstände sein. Gewisse Tätigkeiten, die die Beschäftigten weder körperlich noch geistig herausfordern und einen hohen Anteil an Routine haben, sorgen tendenziell schneller für Langeweile. Auf der anderen Seite steht die individuelle Neigung. Manche Menschen langweilen sich schneller als andere. Sie haben weniger Geduld, sind schneller auf der emotionalen Palme und brauchen ständig Ablenkung.
Doch egal woher die Langeweile rührt - sie kann nachweislich schaden. Den Betroffenen selbst, aber auch deren Arbeitgebern. Zu diesem Ergebnis kam zum Beispiel Kari Bruursema von der Montclair State Universität im US-Bundesstaat New Jersey. Für eine Studie im Jahr 2011 befragte sie 211 Arbeitnehmer aus verschiedenen Branchen. Die einen arbeiteten im Bildungssektor, andere im Gesundheitswesen oder im Vertrieb.
Bruursema legte den Teilnehmern verschiedene Fragebögen vor. Und dabei fand sie heraus: Der geistige Zustand und das tatsächliche Verhalten waren eng miteinander verknüpft. Wer besonders gelangweilt war, verhielt sich seinem Arbeitgeber gegenüber häufiger illoyal. Er neigte dazu, Gegenstände zu entwenden, Inventar zu zerstören oder die Arbeit nicht mehr ernst zu nehmen. Das kann bisweilen sogar drastische Folgen haben.
Drogen gegen die Öde
In den Siebzigerjahren fanden Wissenschaftler heraus, dass sich Soldaten in amerikanischen Waffendepots die Zeit unter anderem damit vertrieben, Wettrennen zu veranstalten oder stundenlang Karten zu spielen. Der Grund: Ihnen war langweilig.
Als amerikanische Psychiater nach dem Vietnamkrieg Veteranen befragten, bemerkten sie, dass viele im Dienst Drogen genommen hatten. Ein Marine-Infanterist gab zu, während seiner Schicht auf dem Flugzeugträger USS Independence fast täglich LSD eingeschmissen zu haben. Die Droge war für ihn der einzige Weg, mit seiner Langeweile umzugehen.
Aus diesen und anderen Studien gewannen Wissenschaftler eine Erkenntnis: Von Langeweile seien vor allem jene Berufe betroffen, die sich durch einen hohen Grad an Monotonie auszeichnen und gleichzeitig Wachsamkeit erfordern - Pförtner, Sicherheitsleute oder Fluglotsen zum Beispiel.
Paradoxe Ödnis
Doch das Gefühl kennen auch andere Büroangestellte. So ergab eine Umfrage unter 10.000 amerikanischen Arbeitnehmern im Jahr 2005, dass jeder Dritte Zeit verdaddelte, weil ihm langweilig war.
Manche Forscher glauben sogar, dass sich heutzutage immer mehr Menschen langweilen. Nun klingt das erstmal paradox. Warum sollten wir inmitten von E-Mails, Anrufen, SMS, Besprechungen und Abgabeterminen gelangweilt sein? Es gibt doch immer was zu tun! Auf der einen Seite mag das stimmen. Doch wahr ist eben auch: Viele dieser Reize verleihen unserem Leben keine Bedeutung. Sie befriedigen uns nicht. Sie hinterlassen ein Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit - und genau das passiert auch bei Langeweile. Sie könne tatsächlich zu einem "ernsthaften Problem" werden, schrieb vor einigen Monaten John Eastwood, Psychologe der York Universität.
Angst vor Eintönigkeit
Dessen ist sich auch die jüngere Generation bewusst. Die Axa-Versicherung wollte im vergangenen Februar von 500 Berufsanfängern zwischen 16 und 29 Jahren wissen, wovor sie sich im Job am meisten fürchteten: Immerhin 36 Prozent sorgten sich vor allem vor Langeweile.
Kein Wunder: Der Mensch ist für das Gefühl nicht geschaffen. Schon der legendäre Sozialpsychologe Abraham Maslow war davon überzeugt, dass der Mensch vor allem fünf zentrale Wünsche hat. Am wichtigsten seien elementare physiologische Bedürfnisse wie Atmen, Essen und Schlafen. Sind sie erfüllt, strebten wir nach Sicherheit und Stabilität. Ist auch das erreicht, begehren wir Anschluss, Anerkennung und Wertschätzung und wollen uns selbst verwirklichen.
Doch dafür müssen wir handeln. Wir sind nicht dafür gemacht, ein Leben lang untätig herumzusitzen und Zeit zu verschwenden. Doch genau dieses Gefühl vermittelt uns die Langeweile. Und deshalb unternehmen Menschen vieles, um sich dagegen zu wehren.
Wer zu Hause nichts mit sich anzufangen weiß, kann im Zweifelsfall immer noch fernsehen, lesen oder schlafen. Am Arbeitsplatz fällt das schon schwerer, unmöglich ist es nicht. Die einen gehen sich einen Kaffee holen, andere schwätzen mit Kollegen, wieder andere surfen ziellos durchs Netz.
All das ist völlig in Ordnung - aber eben nur in Maßen. Doch wer sich ständig langweilt, dem reichen solche Ablenkungsmanöver nicht mehr. Und deshalb sollte man Langeweile, wenn sie häufiger vorkommt, durchaus ernst nehmen.
Zu Tode langweilen
Dem Sprichwort zufolge können wir uns zu Tode langweilen. Dahinter steckt mehr als eine Binsenweisheit. Die britischen Forscher Annie Britton und Martin Shipley vom Universitätscollege in London werteten vor einigen Jahren eine Langzeitstudie mit etwa 7.500 Beteiligten aus. Ergebnis: Jene Personen, die ihr Leben besonders langweilig fanden, litten am ehesten an Herzkrankheiten und starben früher.
Wohlgemerkt: Langeweile war nicht die Todesursache - aber offenbar führte sie zu einer ungesünderen Lebensweise. Die Betroffenen rauchten mehr, tranken häufiger und ernährten sich schlechter.
Was sich gegen die Langeweile tun lässt? So trivial es auch klingt, aber das beste Gegenmittel ist, seine Arbeit gerne zu machen. Natürlich kann das nicht immer funktionieren. Kein Job der Welt ist immer und überall aufregend, spannend und stimulierend. Gelegentliche Eintönigkeit ist also normal. Doch Langeweile lässt sich auch produktiv nutzen.
Selbst wenn eine Aufgabe noch so dröge erscheint - erhält sie nicht vielleicht doch irgendetwas Wertvolles, Interessantes, Lehrreiches? Womöglich kann es auch tröstlich sein, wenn am Ende des öden Tunnels eine spannendere Aufgabe wartet.
Bloß sollte die Langeweile nie chronisch werden. Wer das Gefühl ständig empfindet, sollte die Warnzeichen ernst nehmen. Ist der Job wirklich der richtige? Könnte man mit seinem Vorgesetzten über neue Herausforderungen reden?
Langweile macht kreativ
Wer sich das nicht zutraut, für den hält die Wissenschaft immerhin eine beruhigende Erkenntnis bereit: Langeweile kann sogar die Kreativität fördern - weil sie uns Zeit für Tagträume einräumt.
Das vermuten zumindest Sandi Mann und Rebekah Cadman von der Universität von Central Lancashire. Sie ließen kürzlich 70 Freiwillige in zwei Experimenten langweilige Aufgaben erledigen. Danach absolvierten sie verschiedene Kreativitätstests. Und siehe da: Die Langweiler-Gruppe war jedes Mal einfallsreicher als die Kontrollgruppe.
Dazu passt auch ein Zitat des amerikanischen Autors Clifton Fadiman: "Langeweile, zur rechten Zeit empfunden, ist ein Zeichen von Intelligenz."
(Quelle: Wirtschaftswoche)