Unvereinbar oder konsequente Weiterentwicklung?

Lean trifft Industrie 4.0

08.03.2018 von Walter Huber und Michael Lickefett  IDG ExpertenNetzwerk
Lean-Ansätze vor allem im Bereich der Produktion gelten vielfach als überholt und antiquiert. Vor allem passen sie scheinbar nicht in die schöne neue Welt von Industrie 4.0 und Digitalisierung. Es wird also Zeit, beide scheinbar unvereinbare Welten gegenseitig etwas näher zu bringen. Industrie 4.0 ist vielmehr die konsequente Weiterentwicklung der bekannten Lean-Ansätze. Nur darüber können Transformationsprojekte erfolgreich durchgeführt werden.
Lean-Ansätze lassen sich sehr gut mit Industrie-4.0-Ansätzen verbinden.
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Ein wesentliches Charakteristikum von Lean ist, das es sich von der Strategie bis zum Arbeitsprozess durch das ganze Unternehmen zieht. Es ist, wie Industrie 4.0, ein sogenannter ganzheitlicher Ansatz. Abgeleitet aus den Zielen "maximale Kundenzufriedenheit" und "minimale Verschwendung" erfolgt die Umsetzung im Unternehmen.

Prinzipien wie "Null-Fehler", "Visuelles Management", "Selbststeuerung" und "Kaizen" finden sich in den Ansätzen von Industrie 4.0, wie "predictive X", "Assistenzsysteme", "autonome Prozesse" und "agile Selbstorganisation" wieder. Selbst scheinbare Widersprüche, wie z.B. Standardisierung von Arbeitsabläufen oder technischen Einrichtungen finden ihre Gültigkeit in anderen Anwendungsbereichen, z.B. bei Schnittstellen oder Datenformaten.

Zur Umsetzung und zum Betrieb von Lean wurden Methoden und Werkzeuge entwickelt. Eine bekannte Methode ist z.B. das Wertstromdesign. Es führt zu einer Strukturierung der Produktion (Produktfamilien) und zu einer logistisch durchgängig gestalteten, ausbalancierten Prozesskette. Die Methode ist ohne weiteres auch anwendbar, um bei der Prozessoptimierung (z.B. Automatisierung von Prozessrückmeldungen) Anwendungsfelder für Industrie 4.0 zu identifizieren. Als ein anderes Beispiel kann das Shop Floor Management gelten. Durch entsprechende Vernetzung und Transparenz auf der Informationsebene können im Meeting auf Basis eines Echtzeitabbilds der Produktion (digitaler Schatten) entsprechende Entscheidungen schnell getroffen werden.

Warum eine weitere Transformation?

Vielfach sind in Unternehmen die Potentiale einer Lean-Transformation nach Dekaden der Optimierung ausgeschöpft. Der Druck zu weiterer Flexibilität und Kostensenkungen, demografischer Wandel und der Fachkräftemangel zwingen nun Unternehmen in die digitale Transformation hin zu einer Smart Factory.

Die Welt und damit die Anforderungen an ein wirtschaftlich agierendes Unternehmen haben sich darüber hinaus massiv verändert. Shared Economy, personalisierte Produkte und geschlossene Stoffkreisläufe sind bekannte Schlagworte, die für die großen Veränderungen stehen. Die Devise lautet schlicht und ergreifend schneller, flexibler und nachhaltiger. Das sind die Herausforderungen an den Produktionsstandort Deutschland und damit an die hier produzierenden Unternehmen. Eine schnelle Reaktion auf volatile Markt und anspruchsvolle Kunden wird somit zu einer der zentralen Herausforderungen. Die Ansätze von Industrie 4.0 und einer Smart Factory können hierzu einen wichtigen Betrag leisten - in Verbindung mit Lean.

Aktuell findet sich in vielen Unternehmen aus Optimierungsgründen eine feste Verzahnung einzelner Fertigungs- und Produktionsbereiche. Dies spiegelt sich auch in entsprechenden Organisationsstrukturen wieder. Als Konsequenz dieses Ansatzes führt dies zu einer sehr geringen Flexibilität auf allen Ebenen. Somit kann auf veränderte Rahmenbedingungen, wie Auslastungsschwankungen oder ein verändertes Produktportfolio während des operativen Betriebs nur schwer reagiert werden.

So sind Veränderungen mit einem entsprechenden finanziellen Aufwand verbunden. Gleichzeitig sind derartige Systeme nur eingeschränkt skalierbar, da eine Planung und Optimierung gemäß einer maximalen Auslastung erfolgt. Darüber hinaus gehende Bedarfe können über derartige Ansätze also nur sehr schwer wirtschaftlich bearbeitet werden.

Aufbau einer Smart Factory

An Hand des Aufbaus einer Smart Factory soll die konsequente Weiterentwicklung von Lean-Ansätzen verdeutlicht werden. Dies ist auch sinnvoll, da schlanke und stabile Prozesse die Ausgangsbasis für jegliche Ansätze in Richtung einer Smart Factory darstellen sollten. "A fool with a tool is still a fool". Dieser aus der Informatik schon seit langem bekannter Satz trifft auch auf die Smart Factory zu. Dem Trugschluss, dass schlanke Prozesse und eine entsprechende Transformation obsolet sind, unterliegen vor allem entsprechende Transformationsprojekte in China - und scheitern regelmäßig. Lean gilt im Reich der Mitte vielfach als überholter Ansatz der einfach übersprungen werden kann - leider zu Unrecht, wie wir im weiteren Verlauf des Artikels noch sehen werden.

Leider gilt es auch in einer smarten Fabrik sukzessive Verbesserung einzuführen - also kontinuierlich die bestehenden Abläufe ganzheitlich zu verbessern oder auch neu zu gestalten. Es geht darum ein digitales Wertschöpfungssystem zu realisieren. Auch in der smart Factory gilt das Kredo: "Nicht härter, sondern intelligenter und produktiver zu arbeiten" und die Ressource Mensch besonders "intelligent" einzusetzen. Die Einbeziehung der eigenen Mitarbeiter in den gesamten Transformationsprozess ist, wie schon bei der Lean-Transformation, ein entscheidender Erfolgsfaktor. Im Kontext der Digitalisierung und von Industrie 4.0 spricht man dort übrigens gerne von agiler, dezentraler Führung oder autonomen Einheiten.

Kundenorientierung bedeutet in einer Smart Factory die vertikale und horizontale Integration aller Geschäftsbereiche und somit von Partnern und Kunden. Um nun die Märkte und damit die Kunden wirtschaftlich bedienen zu können, reichen die klassischen Flexibilitätsansätze wie Ressourcen- oder Teilevorhalte bei weiten nicht aus. Es gilt eine wandlungsfähige Fabrik und damit ein entsprechendes Wertschöpfungs- und Produktionssystem aufzubauen, also ein hohes Maß an Skalierbarkeit, Modularität, Kompatibilität, Universalität und Neutralität zu realisieren.

Damit ist bedarfsabhängig die Serienproduktion genauso wie die Losgröße 1 in der Produktion konfigurierbar. Ungeachtet der vielfachen technischen Möglichkeiten einer Veränderung, auf die hier nur am Rande eingegangen werden soll, ist auf einen ganzheitlichen Ansatz zu achten. Isolierte Maßnahmen führen auch ausschließlich zu isolierten Verbesserungen.

Wertschöpfungssystem aus der Lean-Welt

Das mögliche Potenzial wird also trotz erheblicher finanzieller Anstrengungen nicht ausgeschöpft. Im Folgenden wird ein ganzheitlicher Ansatz in Form eines "Smart Factory Production Systems" - also eines weiterentwickelten Wertschöpfungssystems aus der Lean-Welt verfolgt. Darüber wird sichergestellt, dass die Erfolge aus der Lean-Transformation nicht nur in der Smart Factory erhalten bleiben, sondern konsequent weitergeführt und damit die erwarteten Potentiale und damit Produktivitätssteigerungen erreicht werden.

In der Smart Factory erfolgt die Verschmelzung der realen mit der virtuellen Welt. Über den hierüber realisierten digitalen Schatten/Twin sind neuartige Produktionsansätze möglich. Das "Teil steuert den Prozess". Es erfolgt somit eine vollständige Vernetzung und damit Kommunikation aller Prozessbeteiligten (Maschinen, Werkzeuge, Produkte, Teile, Systeme und Menschen). Jeder Prozessbeteiligte verfügt hierbei über eine eigene Internetadresse und ist hierüber jederzeit ansprechbar, konfigurierbar und selbstauskunftfähig.

"Die Intelligenz des Schwarms" in Echtzeit führt zu weiteren Produktivitätssteigerungen und Flexibilisierungen durch die direkte und unmittelbare Steuerung und Kommunikation aller Prozessbeteiligter. Demzufolge tritt neben dem klassischen und monolithischen und damit indirekten und reaktiven MES (Produktionssteuerungssystems) die direkte und unmittelbare Steuerung durch das Produkt selbst - natürlich in Kooperation mit bestehenden Systemen wie SAP und MES. Starre Organisationsstrukturen werden in einer Smart Factory weiter aufgebrochen. Die "konstruktive Zerstörung" aus der Lean-Welt geht also in die nächste Runde.

Advanced-Analytics-Ansätze

Konkret kann schon bei der Kundenanfrage, quasi in Echtzeit ermittelt werden, zu welchen Preis- und Zeitkonditionen der Bedarf erfüllt werden kann. Nach Eingang eines Kundenauftrags erfolgt dessen verschwendungsfreier also (weitestgehend) automatischer Übertrag in die Fabrik. Der Auftrag steuert sich hierbei selbständig gemäß dem Kundenwunsch und -termin.

Die Bedarfsplanung und Materialversorgung erfolgt über Big-Data-Systeme und mit Advanced-Analytics-Ansätzen, um den Bedarf gemäß Marktsituation schon im Vorfeld möglichst genau zu prognostizieren. Über rollierende Grobplanungen auf Basis von konkreten und geschätzten Bedarfen und Kundenaufträgen erfolgt eine entsprechende Terminierung des Materials.

In Summe entsteht eine konsequente Weiterführung des klassischen lean-basierten Wertschöpfungssystem in Richtung eines Smart Factory Wertschöpfungssystems. Technologien stellen in diesem Ansatz die Enabler für weitere Verbesserungen dar - über alle Bereiche des Wertschöpfungssystems. Technologie ist aber eben "nur" ein Enabler und in der praktischen Umsetzung muss sie austauschbar sein. Dies ist schon mal auf Grund der schnellen Weiterentwicklung der einzelnen Technologien in der Fabrik zwingend erforderlich.

"shared economy"

Technologien beeinflussen somit alle Bereiche des weiterentwickelten Wertschöpfungssystems, wie die bisherigen Ausführungen auch zeigen. Es gilt ein intelligentes und für Kunden und Partner offenes Wertschöpfungssystem basierend auf Industrie 4.0 zu entwickeln. Eine hervorstechende Technologie sind Plattformen zum Betreiben agiler, temporärer Netzwerke. Sie unterstützen die sogenannte "shared economy". Hierbei steht nicht die Höhe des Automatisierungsgrades im Vordergrund der Umsetzung. Es gilt, exzellente Prozesse in der smarten Fabrik mit einem entsprechenden Beitrag zur Wertschöpfung zu realisieren. Das Ziel ist somit die optimale Verbindung zwischen Menschen und Technik zu erreichen und die Gestaltungsfähigkeit des Menschen voll zur Geltung zu bringen.

So verändert sich auch die Arbeitsplatzgestaltung. Sie wird durch den digitalen Avatar des Mitarbeiters in Verbindung mit intelligenten Montagesystemen, die sich automatisch auf die Gegebenheiten der Mitarbeiter (Größe, evtl. Behinderung, Leistungsfähigkeit usw.) einstellen, zu einem optimalen symbiotischen Gesamt-System. Big-Data-Systeme und die in einer Smart Factory generierten Daten sind der Ausgangspunkt für kontinuierliche Verbesserungen und liefern Erkenntnisse, die zu einer höheren Stufe der Optimierung führen. Auch eine Smart Factory entsteht nicht durch ein einziges Projekt - unabhängig vom Budget und der beteiligten Mitarbeiter. Sie ist ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess hin zu optimal wertschöpfenden Abläufen.

Smart Factory

Auch in einer Smart Factory steht der Mensch somit im Mittelpunkt, wie schon in der Lean-Ära. Assistenzsysteme, bedarfsgerechte Informationsbereitstellung mit Auftrags- und Prozessdaten durch die Smart Factory (SAP, MES, digitaler Schatten/Twin), Mensch-Roboter-Kollaboration sorgen in Zukunft für die optimale Informationsversorgung und Unterstützung aller Beteiligter in der Wertschöpfung. Der Mensch wird auch in Zukunft die Quelle für die kontinuierliche Verbesserung in der Produktion darstellen, allerdings unterstützt durch Big-Data-Systeme. Somit wird auch lebenslanges Lernen in der Smarten Fabrik besonders wichtig - für alle Beteiligte.

Auch die Logistik wird durch Industrie 4.0 stark beeinflusst. Im Lean-Kontext stellt Logistik eine Verschwendungsart dar die zwar notwendig ist, die es aber gleichzeitig zu minimieren und somit zu automatisieren gilt. Dort sorgt die Selbststeuerung von Transportaufträgen für eine Reduktion der notwendigen Verschwendung. Auch zeigen neue Automatisierungslösungen mit Robotern auf FTS Wege auf, Logistik wertschöpfend zu gestalten.

Eine Abstimmung mit dem Produkt erfolgt auf Basis des digitalen Schattens. Ein weiterer Vorteil ergibt sich dadurch, dass sequentielle Abläufe durch parallele und schwarmbasierte Ansätze ersetzt werden, was zu einer weiteren Steigerung der Verfügbarkeit und gleichzeitig zu einer Steigerung der Skalierbarkeit führt. Wenn ein mobiler Logistikassistent ausfällt übernimmt einfach ein anderer aus dem Schwarm die Aufgaben. Somit erfolgt gleichzeitig eine Steigerung der Flexibilität des Gesamtsystems.

Fazit

Es zeigt sich, dass sich Lean-Ansätze sehr gut mit Industrie-4.0-Ansätzen verbinden lassen - es erfolgt somit eine konsequente Weiterentwicklung der Lean-Ansätze mittels neuen Technologien. In Summe lassen sich durch eine Transformation hin zu einer Smart Factory ähnliche Produktivitätssteigerung wie bei der Lean Transformation, also von rund 30% erreichen.