Das Wahrzeichen Schaffhausens könnte die Mannschaft um Tobias Diener, Logistik- und IT-Chef von RLS, zu einem der komplexesten IT-Projekte der Firmengeschichte motiviert haben: In der Stadt an der schweizerisch-deutschen Grenze tobt der Rhein, nur ein paar Kilometer vom Firmengelände entfernt, schäumend über Felsen in den Abgrund - um direkt danach scharf die Richtung zu wechseln und dann ruhig weiterzuströmen.
Mehr als 60 000 Produkte wie Absperrklappen, Schrägsitzventile oder Temperguss-Fittings hat RLS im Programm. Die Unternehmensgruppe zählt damit zu den weltgrößten Herstellern von Rohrleitungssystemen für Industrie, Versorger und Haustechnik. 60 Prozent des Umsatzes macht RLS mit Händlern. An die verbleibenden 40 Prozent liefert die Firma direkt, und zwar entweder Objektausrüstungen im Projektrahmen oder OEM-Zubehör für Endprodukte. Für Fertigprodukte heißt das logistische Motto "make to stock; Systemprodukte werden "to order" gefertigt und montiert, erläutert Diener.
Das erfordere eine hohe interne Eigenständigkeit: Mehr als 40 Produktions- und Vertriebsgesellschaften existieren im RLS-Verbund - juristisch autark und mit jeweils eigenen ERP- beziehungsweise Warenwirtschaftssystemen ausgerüstet. Von einer Ruhe wie der von Vater Rhein nach dem Fall konnte Diener also nur träumen, als er Ende 2000 die Verantwortung für die Quadratur des Kreises übernahm: die Vereinigung der Sortimentsvollständigkeit eines Zentrallagers mit der Flexibilität von Regionallägern.
Das Problem: Die Vorteile der Dezentralität musste sich RLS mit einer unbeweglichen logistischen Struktur erkaufen. Liefergeschwindigkeit, Liefertreue und Auskunftsfähigkeit der Vertriebstöchter waren schlechter als bei den Wettbewerbern, wie Kundenbefragungen im Jahr 2000 ergaben.
Die Auswirkungen: Zeit- und ressourcenintensive Prozesse und zu hohe Lagerbestände, die durch ihre regionale Streuung die Kunden dennoch oft warten ließen, gefährdeten Umsatz und Ertrag. 40 Prozent der Arbeitszeit der weltweit 200 Verkäufer im Innendienst gingen für interne Rückfragen drauf, ließ Diener seinerzeit ermitteln.
Die Kennzahlen: Nur 93 Prozent aller Auftragspositionen wurden zum Wunschtermin ausgeliefert. Der Lagerbestand wurde lediglich dreimal pro Jahr umgeschlagen. Die Kosten für den Logistikprozess lagen bei 8,3 Prozent vom Umsatz.
Die Konsequenz: Um das ambitionierte Wachstumsziel nicht aus den Augen zu verlieren, musste ein globales Konzept her, das sämtliche logistischen Prozesse, intern wie extern, wie ein Schirm überspannen sollte. Am mehrstufigen Distributionskonzept, dem Alptraum von Logistikern und Controllern, führt indes kein Weg vorbei. "Eine optimale Versorgung der regionalen Märkte lässt sich nur mit Lokallägern machen", betont Diener. - Nom de guerre des Projekts: "Umbrella".
Die Ziele: mehr als 98 Prozent Verfügbarkeit, vier- statt dreifacher Lagerumschlag und eine Senkung der Logistikkosten um 20 Prozent auf 6,6 Prozentpunkte.
Wichtig war ein sofortiger Mehrwert durch das Projekt, hohe Vorabinvestitionen, etwa in ein zentrales ERPSystem, kamen also nicht in Frage. Stattdessen spannte man einen Schirm über die artenreiche IT-Umwelt. Sämtliche lokalen Systeme bleiben unangetastet; lediglich Informationen, die für standortübergreifende Prozesse relevant sind, werden über einen Datenbus extrahiert und in ein "Operatives Data Warehouse" (ODW) geladen, erläutert Diener. Das geschieht automatisch im Batch-Verfahren, je nach Bedeutung der Einzelgesellschaft in Intervallen von zehn Minuten bis zu einem Tag. Die Daten werden an einen "Data Conversion Server" übergeben, der sie auf Plausibilität prüft und individuelle Besonderheiten, etwa Artikel-, Kunden- und Lieferantennummern, in eine RLS-weite Lingua franca übersetzt. Umgekehrt verhält es sich genauso.
Browser-basierte Anwendungen
Das ODW fungiert als Drehscheibe für alle logistischen Prozesse bei RLS. Es speist Browser-basierte Anwendungen, die via Intra- oder Internet, "ohne weitere technische Voraussetzungen", wie Diener betont, in den Niederlassungen genutzt werden können. Technische Grundlage der Anwendungen ist die Software des Münchener Logistikspezialisten Pointout, die es Diener zufolge ermöglicht, ohne Programmieraufwand, nur mittels Kombination vorhandener Bausteine, webfähige Applikationen zu entwickeln. "Damit haben wir die Möglichkeit, die Anwendungen nach den existierenden Geschäftsprozessen zu entwickeln, so unterschiedlich sie auch sein mögen", erläutert er. Von der PointoutMuttergesellschaft MSE nahm das RLS-Projektteam Beratung beim Prozessdesign und bei der Realisierung von Architektur und Anwendungen in Anspruch.
Es gibt nun die Möglichkeit einer Bedarfsplanung, die die Planzyklen von Fertigung und Verkauf harmonisiert. Vorher plante man die Produktion allein auf Basis der Verbräuche in der Vergangenheit, nun erstellen die Verkaufsgesellschaften einen Drei-Monats-Forecast.
Neu ist auch die Nachschubsteuerung, bei der die Lokalläger direkt von den Produktionsgesellschaften versorgt werden ("Vendor Managed Inventory"). Diener: "Das macht die Komplexität des mehrstufigen Distributionskonzepts leichter beherrschbar."
Allen Gesellschaften stehen nun Analyseinstrumente zur Verfügung, um auch die Lokalläger zu optimieren: Der "Bodensatz" zum Beispiel, also der Warenbestand, der die Sicherheitsmenge überschreitet und nichts außer Kosten erzeugt, lässt sich identifizieren und abbauen.
Ein Produktkonfigurator, ähnlich den von Automobil-Websites bekannten Lösungen, erleichtert nun die Kommunikation bei variantenreichen Baukastenprodukten.
Zudem sollte die Architektur von Umbrella den lokalen Gesellschaften die Freiheit lassen, ergänzend zum zentralen RLS-Produktportfolio eigene Sortimente aufzubauen und sie mit Umbrella-Instrumenten zu verwalten; "Local Stock Management" heißt die Anwendung.
Für Verfügbarkeitstransparenz sorgt die Anwendung "Available to Promise", mit der sich relevante Lagerbestände in Echtzeit abfragen und gleich bei der Order verbindliche Liefertermine nennen lassen.
Das Management von RLS hat jetzt ein System zur Verfügung, das die ODW-Datenbasis als "Single Source of Truth" in allen Dimensionen analysieren kann.
Umbrella ist erfolgreich, daran lässt Diener keinen Zweifel: Die Verfügbarkeit der Produkte sei auf bis zu 98 Prozent gestiegen, der Lagerbestandswert gleichzeitig um mehr als ein Viertel gesunken. Das Ziel, den durchschnittlich vorhandenen Lagerbestand viermal statt dreimal jährlich umzuschlagen, sei sogar übertroffen worden. Insgesamt ließen sich die Logistikprozesskosten plangemäß um 20 Prozent senken. Als wesentlichen Hebel dafür nennt Diener reduzierte Lagerbestände. Aber auch Transportkosten spare RLS nun ein, weil Auftragspositionen häufiger verfügbar seien und nicht mehr so oft nachgeliefert werden müssten. Erleichternd sei auch, dass es "deutlich weniger interne Rückfragen, etwa nach Lieferterminen und Produktverfügarkeit, und damit weniger nicht wertschöpfende interne Aktivitäten" gebe.
Noch Haken im System
Aber es ist noch einiges zu tun, besonders in puncto Verfügbarkeit. Ein Negativbeispiel, ausgerechnet im Schaffhausener Stammwerk, ist die Fertigung von Elektro-Schweißmuffen. Die RLS kommt bei diesen umsatzkritischen Gütern nur auf 92 Prozent Verfügbarkeit. "Das ist zu wenig", stellt Diener rundheraus fest und sieht dabei ein wenig besorgt aus.
Das Umbrella-Projekt ist nach seiner Überzeugung von strategischer Bedeutung. Längst hätten Ingenieurs- und Handwerkskünste als Motoren des Unternehmenserfolgs ausgedient. Stattdessen gehe es im Wettbewerb - außer um den Preis - um Service, also um orts- und zeitnahe Verfügbarkeit. Der Logistikschef traut sich zu sagen: "Logistik ist unsere Kernkompetenz."