"Da entwirft ein Konsortium einen realistischen Plan: Einführung der Lkw-Maut bis Anfang 2005. Dann kommen Politiker daher, sagen: 'Wir brauchen die Maut aber früher'. Das Top-Management des Auftragnehmers knickt ein und sagt: 'Schaffen wir'." Das Maut-Projekt von Toll-Collect - hier aus der Sicht eines in einem Teilprojekt involvierten Beraters - ist ein Paradebeispiel dafür, wie eine Teufelsspirale zu hoher Erwartungen entsteht. Sie entspringt dem Irrglauben an eine lineare Rechnung: Wenn ein Mann ein Projekt in einem Jahr fertig bekommt, dann haben es vier Mann in drei Monaten, acht Leute in anderthalb Monaten und 365 Leute innerhalb von 24 Stunden fertig.
Thomas Tribius, CIO beim Axel Springer Verlag, kennt dieses "Chinesen-Prinzip" noch aus seiner Zeit beim Buchladen BOL und fand es schon damals absurd. Heute gehört er zu jenen, die der Deloitte-Berater Peter Wirnsperger neben den anderen Top-CIOs Klaus-Hardy Mühleck von Audi und Heinz Kreuzer von der TUI als IT-Manager bezeichnet, die "wissen, was sie tun". "In den meisten IT-Abteilungen dominiert allerdings noch eine technische Denke", meint Peter Wirnsperger, "da hat sich noch nicht viel geändert."
Wirnsperger vergleicht die Entwicklung im IT-Management mit dem Science-Fiction-Klassiker Raumschiff Enterprise. Hier kommandiert Captain Kirk "Beam me up, Scotti", und Scotti macht's möglich. Die tägliche Realität ist weniger Science Fiction, doch der Glaube an die Technik ist trotzdem da. Tritt irgendwo in einer neuen Software ein Problem auf, heißt es lapidar: "Gib mir einen Tag, dann habe ich das Handbuch gelesen", sagt Deloitte-Berater Wirnsperger, doch er rät: "Man muss aufstehen können und sagen: Das ist machbar und das nicht." Ein IT-Manager, der jahrelang in leitender Funktion bei einem großen Lebensmittelkonzern tätig war, hält diese Herangehensweise für schwierig: "Sie sagen einmal, dass Sie etwas nicht hinkriegen, vielleicht noch ein zweites Mal - dann sind Sie weg!"
Dennoch würden Führungskräfte damit eindeutig am besten fahren, meint Gerhard Wilke, der als Psychoanalytiker und Coach für die britische Unternehmensberatung Ashridge Consulting zusammen mit den Kollegen George Binney und Colin Williams acht Führungskräfte zwei Jahre lang begleitete und die Ergebnisse in der Studie "Leaders in transition: the dramas of ordinary heros (2004) zusammenschrieb. Ausgewählt wurden Führungskräfte aus verschiedenen Branchen (unter anderem Chemie, Pharma, Maschinenbau und Gesundheitswesen) mit strategischer und Budgetverantwortung und mindestens 200 Leuten unter sich. "Oft vermeiden es Führungskräfte, sich gegen Gruppen und Machtpersonen zu stellen, beobachtet Wilke, "drei der acht haben es gewagt und sind eindeutig am besten damit gefahren."
In diesen Fällen hat der "Drei-Monate-Realismus" offensichtlich funktioniert. "In den ersten hundert Tagen, das ist ja oft die Erwartung der Vorgesetzten, soll sich zeigen, ob die Besetzung richtig war", erläutert Wilke. Typisch für diese Zeit sei, dass sämtliche Aufgaben unbewusst an die neue Leitung delegiert werden. Wilke erläutert dies am Fall eines IT-Vice-President aus der metallverarbeitenden Industrie, den er in den letzten zwei Jahren beobachtete: "Der IT-Manager hatte das Gefühl, in der Arbeit zu ertrinken. Er entsprach dem "angelsächsischen Führungsmodell", das Wilke immer wieder im gehobenen Management der Unternehmen fand: "Das Bild vom heroischen Führer". Stark gestützt würde dieses Modell durch die Personalpolitik: Unternehmen gäben riesige Summen für psychometrische Tests, Assessments oder Head-Hunter aus, nach der Einstellung passiere dann aber nichts mehr - "weil der Kandidat ja perfekt ist. Die Mitarbeiter übernehmen dieses von der Unternehmensleitung entworfene Bild und arrangieren sich damit. Für sie ist klar: "Wenn die von oben so einen Gladiatorensport betreiben, dann sind wir auch dazu eingeladen". Das Problem hat der Kandidat, der sich unter dem Vorzeichen sehr hoher Erwartungen die Autorität trotzdem noch erarbeiten muss. Das gelingt nicht allen: Statistiken belegen, dass 70 Prozent der Führungskräfte in den USA und zwischen 40 und 50 Prozent der Führungskräfte in Europa die ersten zwei Jahre in ihrer neuen Funktion nicht überstehen.
Auch für den IT-Vice-President begann eine schwierige Zeit: "Nach etwa zehn bis zwölf Monaten war die Situation in dem Unternehmen festgefahren", berichtet Wilke, "nach anderthalb Jahren kam dann ein Neuer ins Team. Der fragte: Was ist hier eigentlich los?". Durch die Vermittlungsrolle, die der neue Mitarbeiter einnahm, sei der Vize-Chef von einem Teil seiner Aufgaben befreit worden. Neben den technologischen Zielen (Integration der IT-Systeme), die recht kurzfristig zu erreichen sind, unterschätzte der IT-Manager die indirekte Aufgabe, die Kultur der Leute zusammenzubringen. "Das ist ein mittel- bis langfristiges Ziel", resümiert Wilke - das Ziel des IT-Manns, in der gleichen Zeit IT und Menschen zu integrieren, war unrealistisch. Als Kur für Führungskräfte rät der Psychoanalytiker Wilke, "Mut zur Enttäuschung" zu haben und nach den ersten drei Monaten auch sagen zu können: "Das habe ich mir genau angeguckt. Lass es uns mal neu beurteilen."
Abenteuer Wertvernichtung
Eine neue Studie mit dem Titel "Projektmanagement: Abenteuer Wertvernichtung" (4/2004), die der Betriebswirtschafts-Professor Manfred Gröger von der Fachhochschule München für die Münchener Management Beratungsgesellschaft mbH machte, bestätigt, dass es ein starkes Missverhältnis zwischen den Erwartungen zu Beginn eines Projektes und den tatsächlichen Ergebnissen in deutschen Unternehmen gibt. In den Fragebögen hatten nach Abschluss der Projekte nur 43 Prozent der 962 befragten Projektleiter, Geschäftsführer und Vorstände ihre Projekte noch als strategisch eingestuft. Nur 13 Prozent aller neuen Lösungen hätten sich tatsächlich als wertschöpfend herausgestellt. 87 Prozent seien demnach - wie sich Gröger ausdrückt - eine reine Verschwendung von Mitarbeiterressourcen.
Gröger meint den Grund für das desolate Ergebnis zu kennen: "Viele Führungskräfte gehen oft entgegen jeder Vernunft von Best Cases aus und überschätzen sich vielfach." Rund 200 Milliarden Euro geben Unternehmen und Behörden nach Grögers Schätzungen für Projekte aus, von denen letztlich nur eine Minderheit erfolgreich verläuft. "Da unterscheiden sich IT-Vorhaben nicht sonderlich von sonstigen Projekten", sagt Gröger, der die Ergebnisse deshalb auch für die IT-Branche für repräsentativ hält.
Was tun? Stefanie Arnold, Leiterin der Sektion Change Management bei der Unternehmensberatung Capgemini, beschäftigt sich seit vier Jahren mit Veränderungsprozessen in Unternehmen. Zwar hält sie "Erwartungs-Management" für ein Buzz-Word, doch liege im Umgang mit Erwartungen der Schlüssel für den eigenen und letztlich auch den Erfolg in Projekten. "Ist der Termin für ein Projekt etwa zu ambitioniert und unerreichbar, ist das Team enttäuscht darüber, obwohl es doch hochperformant gearbeitet hat", so Arnold, "und schon lässt die Leistung nach."
Vorsicht: Schaumschläger
Die Beraterin sieht noch eine weitere Gefahr in Luftschlössern der Führungsriege: "Wer gegenüber seinen Mitarbeitern ein Wunschbild zeichnet, dann aber das Budget für das Projekt nicht bekommt, ruiniert seine Glaubwürdigkeit. Die Mannschaft hat mitgeträumt und denkt dann: 'Das ist ein Schaumschläger". Und schon entstehen Zweifel im Team.
Ihr Konzept: die Erwartungen kanalisieren und Denkanstöße geben. "Management ist immer zweiseitig", sagt Arnold, "deshalb sollte ein gemeinsames Konzept entwickelt werden, aus dem heraus ein gleiches Bild vom Output entsteht." Alle wesentlichen Beteiligten sollten dafür ins Boot geholt und auf die Botschaften und Erwartungen eingeschworen werden - die Unternehmenskommunikation, damit sie nicht vorschnell Pressemitteilungen entwirft, das Management Board, das Verständnis für Projekte entwickeln soll, und nicht zuletzt die eigenen Mitarbeiter. "Es passiert immer wieder, dass der eine vom kleinen Häuschen spricht, der andere aber ein Hochhaus im Kopf hat", sagt Change-Management-Spezialistin Arnold, die seit einigen Jahren Kick-off-Veranstaltungen in Unternehmen leitet und versucht, die Kommunikation zwischen Projektleitern, CIOs und Geschäftsführern in eine Richtung laufen zu lassen. Ihr Ziel ist, dass sich Kommunikationsteams in den Unternehmen bilden, die ihre Aufgaben nach und nach übernehmen.
Coach Wilke rät Führungskräften vor allem zu mehr Mut. "Auch wenn Strategien auf dem Berg Sinai gemacht wurden, sollten sie noch neuen Wünschen und Erfordernissen angepasst werden können", fordert Wilke, der bereits in der Formulierung einer Strategie einen Konflikt mit seinem humanistischen Weltbild sieht. "Strategieprozesse sind ein Symptom des Versagens", so Wilke, "da hat es jemand nicht geschafft, sich mit seinem Team und der real existierenden Kultur der Organisation zu verbinden."
Das Credo des Londoner Psychoanalytikers: Führung befreit nicht von der Notwendigkeit an Unterstützung. Doch noch immer halte sich das Bild vom unfehlbaren Unternehmenslenker: "Löst man das Führungsproblem, hat man auch das Problem der Firma bezwungen." Eine Zwischenübung aus Wilkes Führungsseminar offenbart das ganze Dilemma: Er gibt den Teilnehmern verschiedene Zitate von Wirtschaftbossen und fragt, ob sie von einem Top-Manager oder von Mao stammten. Die meisten Teilnehmer antworten, die Zitate kämen vom Großen Vorsitzenden der kommunistischen Partei Chinas.