Im Jahr 2010 war nicht mehr zu übersehen, dass die bisherige TK-Anlage in der LVM-Zentrale in Münster, eine Siemens HiCom 300E, den steigenden Anforderungen nicht mehr gerecht wurde. Auf der Suche nach einem Nachfolgesystem wurde bald klar, dass diverse proprietäre Systeme den eigenen Vorstellungen nicht entsprachen und ihre entsprechende Weiterentwicklung nicht zu beeinflussen war. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Open-Source-Lösung Asterisk.
Mit der quelloffenen Software hatte die LVM bereits Erfahrungen. 2008 hatte die Versicherung die rund 7000 Arbeitsplätze ihrer bundesweit verteilten Agenturen mit Asterisk-basierenden "Indali"-Geräten ausgestattet; angeschlossen sind überwiegend "Siemens OpenStage 60" SIP-Telefone. Die Projektverantwortlichen setzten sich mit der Firma Digium aus Huntsville, Alabama, in Verbindung. Dies ist ein Unternehmen des Asterisk-Gründers Mark Spencer, welches das Open-Source-Produkt im Wesentlichen weiterentwickelt. Hier wurden unter anderem Roadmap, Release-Planung, Support und deutsche Partner für die Software diskutiert.
Neben der Ausstattung der Agenturen entstand ein kleines Vorprojekt in der Zentrale. In einem Gebäudetrakt mit ausschließlich DV-Leitungen wurde für rund 70 Angestellte mittels Asterisk und dem Open-Source-Produkt Kamailio als SIP-Router eine Voice-over-IP-Anwendung (VoIP) eingerichtet.
Informationen aus Asterisk fließen in die von der LVM beauftragte Open-Source-Lösung "Gemeinschaft" ein, wo sie sich mit dem hauseigenen "LVM Anwendungs System" (LAS) verknüpfen lassen. Die Benutzer waren trotz gelegentlicher Probleme begeistert von den Möglichkeiten der neuen Lösung, die sie nicht mehr missen wollten. Dies und der Nachweis, dass diese Umgebung nicht dazu verwendet wird, das Verhalten einzelner Mitarbeiter auswerten zu können, ließen den Betriebsrat dem weiteren Projekt zustimmen.
"Ein Ökosystem, auf das wir uns verlassen können"
"Wir hatten das Gefühl, auf sicherem Boden zu stehen, als wir uns im März 2011 grundsätzlich für den Einsatz einer Asterisk-Lösung in der Zentrale entschieden haben", erklärt Projektleiter Jens Helmers von der LVM. Der Open-Source-Dienstleister Gonicus, bisher schon Wartungspartner für das Vorprojekt in der Zentrale, war in das Vorhaben involviert und erhielt einen Monat später den Auftrag. "Wir hatten Erfahrungen mit Asterisk und den beteiligten Firmen", ergänzt Helmers, "Sozusagen ein Ökosystem, auf das wir uns verlassen können."
Zunächst ging es daran, die hardwaretechnischen Grundlagen zu umreißen und umzusetzen, also Leitungskapazitäten im Hause und die Red-Hat-basierenden Asterisk-Server in zwei sich gegenseitig sichernden Rechenzentren aufzubauen. Der Zeitplan war beengt durch den Wunsch der LVM-Sparte Kraftfahrtversicherung, möglichst bald eine andere Anwendung einzuführen, die VoIP zur Voraussetzung hatte. Das hatte Folgen für die Anforderungsliste. Helmers: "Wir haben einige Features auf einen späteren Realisierungszeitpunkt verschoben. Uns war es wichtiger, ein sicheres Produktionssystem zu haben."
Das Vorhaben gelang. Bis Anfang 2012 war die neue Infrastruktur erstellt. Im Februar und März migrierte die LVM das Vorprojekt auf eine aktuelle Version von Asterisk und testete hier die Umgebung. Im April wurde schließlich die Kraftfahrtabteilung, mit 500 Benutzern eine der größten in der LVM, umgestellt. Der Rest der Versicherungszentrale telefoniert noch über die alte HiCom-Anlage, wird aber bis Sommer 2013 ebenfalls auf VoIP migriert.
Die Integration der TK-Umgebung in die IT erschließt den Angestellten bisher nicht gekannte Möglichkeiten. Es geht dabei um weit mehr, als dass der LVM-Mitarbeiter, der angerufen wird, über die Telefonnummer eines Kunden sofort die zugehörigen Versicherungen sehen kann und den aktuellen Stand der Bearbeitung von Vorfällen angezeigt bekommt. Die Mitarbeiter können beispielsweise auch erkennen, wie hoch ihre Gruppe ausgelastet ist, und zahlreiche Einstellungen vornehmen, um als Team erfolgreich zu arbeiten.
Es kommen ständig neue Wünsche und Anforderungen der Anwender. "Die Kollegen haben schnell gemerkt, dass ein Telefon jetzt keine Blackbox mehr ist, sondern eine Anwendung", erklärt Reinhard Scheck, Bereichsleiter DV-Infrastruktur bei der LVM. "Und eine Erweiterung könnte die IT-Abteilung doch mal schnell eben machen." Diese Erwartung sei gewollt, müsse man aber dämpfen, denn Betriebssicherheit und Verfügbarkeit gingen vor. Zunächst ist jetzt ohnehin die tiefere Auswertung der Telefondaten vorrangig. Die Daten sollen in mehreren Ebenen verdichtet werden, um nicht nur den Ursachen von technischen Problemen auf die Spur zu kommen, sondern langfristige Tendenzen zur Verbesserung des Kundenservices zu erkennen.
Über 10.000 VoIP-Anschlüsse
Mit fast 11.000 VoIP-Anschlüssen im Endausbau wird die LVM einer der größten Unternehmensanwender von Asterisk. Entsprechend groß ist die Bedeutung des Versicherungsunternehmens für das Open-Source-Produkt. Das Unternehmen ist direkt oder über Gonicus als Integrations- und Hauptwartungspartner in ständigem Kontakt zu Digium und den weiteren Partnern. Scheck: "Wir haben den Eindruck, dass unsere Feature-Requests intensiv diskutiert und auch umgesetzt werden."
In den Rahmen dieser Zusammenarbeit gehört auch, dass die LVM die Software, die um den Asterisk-Kern herum quasi die Integrationsstelle von VoIP und Unternehmensanwendern bildet, als Open Source weiter entwickeln will. Diese bis jetzt in PHP programmierte Browser-Anwendung möchte die LVM-IT modularisieren und modernisieren, um sie flexibler einsetzbar zu machen. "Wir wollen sie als Open-Source-Projekt weiterführen und so generalisieren, dass auch andere Unternehmen sie verwenden können", erläutert Scheck: "Wir würden uns freuen, wenn sich andere Firmen einbringen." (Computerwoche)