Die Initiative für ein digitales Ökosystem ist bei Volkswagen auf höchster Ebene angesiedelt. Adressiert werden soll die gesamte Transport- und Logistikbranche. MAN ist - stellvertretend für den übergeordneten Konzernbereich Volkswagen Truck & Bus - der Initiator und entwickelt über seinen Unternehmensbereich MAN Digital Solutions ein "offenes, Cloud-basierte Betriebssystem für die Transportbranche". Es soll nicht nur für die VW-Marken MAN, Scania und Volkswagen Nutzfahrzeuge sowie deren Partner und Kunden zur Verfügung stehen, sondern für den gesamten Transport- und Logistikmarkt einschließlich der Transportwege Straße, Schiene, Luft und Schifffahrt. MAN präsentierte zum Auftakt Branchenschwergewichte wie Continental, Krone, Schmitz Cargobull und Meiller als "Initialpartner".
Plattform und Marktplatz
Der ambitionierte Plan besteht darin, einen offenen Marktplatz für alle Beteiligten der logistischen Lieferkette zu schaffen: Versender, Speditionen und Transportunternehmen, Verlader, Disponenten, Lkw-Fahrer und Empfänger. Sie sollen nach den Vorstellungen von MAN untereinander vernetzt mit einem einheitlichen Informations- und Anwendungssystem arbeiten und dabei unterschiedlichste Datenquellen einbeziehen und analysieren können. Predictive Analytics soll dabei eine wichtige Rolle spielen, der Konzern will allen Beteiligten bessere Prognosefähigkeiten für ihr jeweiliges Geschäft bieten.
Die Plattform wird Informationen aus unterschiedlichen Quellen über beispielsweise Zugmaschinen, Trailer, Aufbauten, Fahrer und Auftrag zusammenführen. In Kombinationen mit externen Daten, zum Beispiel Verkehrs-, Wetter- und Navigationsdaten, sollen konkrete Handlungsempfehlungen in Echtzeit geliefert werden. Dadurch hofft Volkswagen, Transport- und Umschlagprozesse für alle Beteiligten verbessern und so die Effizienz und Transparenz optimieren zu können. Geld verdienen möchte der Konzern mit dem Verkauf von "RIO-Services", die noch genauer definiert werden müssen. Außerdem soll jeder Marktplatzteilnehmer eine noch nicht näher bezifferte Gebühr zahlen.
In der Transportbranche sei eine solche transparente Datennutzung heute oft nicht möglich, weil unterschiedliche Softwaresysteme etwa für Ladungs- und Fahrzeugverwaltung eingesetzt würden, heißt es bei MAN. RIO soll unabhängig von Fahrzeugmarken und Telematik-Systemen einsetzbar sein, so dass Flottenkunden mit gemischten Fuhrparks in einer einzigen übergreifenden Lösung auf digitale Services zugreifen können. Wie es weiter heißt, lassen sich derzeit eingesetzt Einzellösungen etwa für das Verwalten von Fahrzeugdaten, das Ersatzteil-Management oder die Fahrerdisposition auf die neue Plattform überführen.
MAN-Vorstand Drees sieht drei Probleme der Logisitik
"Das ist ein Meilenstein für MAN, Volkswagen Truck & Bus und für alle Firmen in Transport und Logistik", warb Joachim Drees, der Vorstandsvorsitzende von MAN SE, anlässlich der Präsentation des Konzepts vor Partnern und Pressevertretern in Berlin. Unternehmen verfolgten heute das Ziel einer tiefen Integration von Produktion, Logistik, Veredelung, Lagerwirtschaft und Transport. Sie hätten es dabei mit drei zentrale Problemen zu tun: der fehlenden Kompatibilität aller in den Supply Chains verwendeten Systeme, dem hohen Ressourcenverbrauch beziehungsweise der Überlastung von Infrastrukturen (Straße, Luft, Schiene) sowie der traditionell geringen Profitabilität im Logistik- und Transportwesen.
"Der Truck allein kann heute nicht mehr die Lösung sein", sagte der MAN-Chef, "wir müssen uns ganzheitlich um die Geschäftsmodelle der Kunden kümmern und Ihnen einen Mehrwert bieten." Durch eine gemeinsame Informations- und Handelsplattform könne das Problem der fehlenden Kompatibilität der Systeme gelöst werden. Gelinge es zudem, die Standzeiten und die Auslastung von Lkw zu reduzieren, könnten die Infrastrukturen besser genutzt und die Profitabilität gesteigert werden.
Autonomes Fahren kommt frühestens in 10 bis 15 Jahren
Überraschend skeptisch äußerte sich Drees zu den Perspektiven des autonomen Fahrens in Transport und Logistik: "Wir werden auf absehbare Zeit nicht das autonome Fahren im öffentlichen Straßenverkehr sehen", sagte der MAN-Sprecher, "nicht in den nächsten zehn bis 15 Jahren." Damit könnten die Personalkosten so bald nicht sinken, dasselbe gelte für die Treibstoffkosten - auch wenn der Ölpreis schwanke. Mehrwerte könnten daher nur durch eine marktübergreifende Zusammenarbeit erzielt werden, durch "Vernetzung, Connectivity, Logistik 4.0".
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Nach Kohle und Öl in den zurückliegenden Jahrhunderten seien Daten der Treibstoff der Zukunft. Sie intelligent anzuzapfen und zu verknüpfen entscheide über die künftige Wertschöpfung. Laut Drees ist die geringe Frachtauslastung ein zentrales Problem der Branche, daran habe sich seit 2006 nichts Wesentliches mehr verbessert. "Jede fünfte Fahrt besteht aus Luft!", monierte der Vorstandsvorsitzende. Um hier ein höheres Level zu erreichen, werde eine neue, herstellerunabhängige Plattform gebraucht, über die die Kunden ihre Waren- und Lieferströme kontrollieren könnten.
Neue MAN-Trucks erhalten RIO-Zugang
Diese Plattform will MAN bieten. Die Volkswagen-Tochter will ihre Trucks vom Frühjahr 2017 an serienmäßig an RIO anbinden. Mithilfe einer Nachrüst-Box soll sich außerdem jedes beliebige Fahrzeug, das über die Flotten-Management-Schnittstelle (FMS) verfügt, in das Netzwerk einbinden lassen. FMS ist eine standardisierte Schnittstelle, die das Auslesen von Fahrzeugdaten (beispielsweise Spritverbrauch, Drehzahlstatistiken oder Stillstände mit laufendem Motor) erlaubt. Damit ist FMS ein signifikanter Datenlieferant für die RIO-Plattform.
Wie das MAN-Management erklärte, ist RIO ein vollständig Cloud-basiertes System, das unter anderem Ressourcen aus der Amazon- und der Salesforce-Cloud verwende. Rund 40 Mal im Jahr sollen Updates aufgespielt werden. MAN hofft, dass sich nicht nur die Betreiber großer Fahrzeugflotten mit der Plattform beschäftigen, sondern auch kleinere und mittlere Transportunternehmen, für die künftig eine breite Palette von Apps - auch von Drittanbietern - bereitstehen soll.
Ziel: Insellösungen zusammenführen
"Es geht hier nicht darum, noch ein Telematiksystem auf den Markt zu bringen", präzisierte Markus Lipinsky, Chief Digital Officer (CDO) von MAN, die Ambitionen des Konzerns. "Wir haben RIO bewusst als offene Plattform konzipiert, die die zahlreichen Insellösungen zusammenführt. Deshalb suchen wir den Kontakt zu möglichst vielen Partnern mit derselben Zielsetzung: die globale Transportkette zu optimieren und damit Kosten und Emissionen zu reduzieren."
Neben den genannten Initialpartnern aus der Transportbranche hat MAN mit den Telematik- beziehungsweise Fleet-Management-Spezialisten Microlise, Telogis und Idem auch einige Lösungspartner, sowie mit BNS und LIS erste Branchensoftware-Partner vorzuweisen. Außerdem gibt es mit Synfioo, ParkHere und der MAN-Tochter Loadfox Startups, die von Beginn an dabei sind. Sie widmen sich Themen wie der Überwachung von Transportketten in Echtzeit (Synifoo), dem digitalen Parkplatz-Management (ParkHere) sowie dem speditionsübergreifenden Vermitteln von verfügbarem Leerraum auf Lkws (Loadfox).
Digitaler Zugangsschlüssel auf dem Smartphone
Erste Ideen zu RIO-Anwendungen liegen ebenfalls vor: "Driver's Connectivity" soll Fahrern mithilfe einer App neue oder veränderte Transporthinweise aufs Smartphone schicken und ihnen mit einem Klick die Navigation zum Kunden ermöglichen. "Truck Share" ermöglicht es laut MAN, Fahrern einen digitalen Zugangsschlüssel übers Smartphone zu senden, so dass sie Lkw in Betrieb nehmen können. Und "Loadfox" ist eine Art Frachtbörse, die es nur teilweise beladenen Lkw gestatten soll, entlang einer Strecke zusätzliche Ladung aufzunehmen.