Am Freitag besichtigte die Kanzlerin in der südchinesischen Provinz Guangdong die Boomregion Shenzhen. In wenigen Jahren ist die Stadt an der Nordgrenze Hongkongs vom Agrargebiet und Fischerdorf zum High-Tech-Standort gewachsen. Shenzhen ist eine der reichsten Städte Chinas mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 27.000 US-Dollar 2017 - bei einem sonst durchschnittlichen Einkommen von gut 7.800 Dollar.
Die Bundesrepublik liegt bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz und Vernetzung im Vergleich mit China weit zurück. Kritiker werfen Industrie und Forschung vor, die Zukunftsentwicklung verschlafen zu haben. Auch deshalb will sich die Kanzlerin selbst ein Bild davon machen, was sich da in China entwickelt. Zum elften Mal ist Merkel in dem Land - traditionell nutzt sie den zweiten Tag ihrer Reise, um sich über wichtige Entwicklungen zu informieren.
Eine Kanzlerin im Lernmodus
Für manche ist es eine Verheißung, für Kritiker eine Horrorvision: Die Regierung in Shenzhen investiert gezielt in Zukunftstechnologie, besonders zu autonomem und vernetztem Fahren, und dem dazu nötigen Ausbau eines 5G-Mobilfunknetzes. In Deutschland ist das noch Zukunftsmusik. Und auch in Technik zur Gesichtserkennung, "smarten" Kameras und Biotech wird in der Metropole am Perlfluss viel Geld gesteckt. Shenzhen ist die erste Stadt Chinas, in der eine lückenlose Erfassung und Verfolgung von Fahrzeugen und Menschen via Videokamera aufgebaut wurde. Die Verbrechensrate wurde auf ein Allzeit-Tief gesenkt. Shenzhen ist eine der sichersten Städte der Welt.
Vielleicht ist das einer der Gründe, warum so viele Menschen hier offenbar kaum Einwände oder Ängste vor einem derart weitreichenden Überwachungsstaat haben. Wenn 95 Prozent der Leute etwas von einer technischen Entwicklung haben, wird sie hier einfach akzeptiert und umgesetzt - die restlichen 5 Prozent Kritiker finden in einem autoritär geführten Staat wie China ohnehin kein Gehör, ist das Erklärmuster in der Umgebung der Kanzlerin.
Doch die Entwicklung gibt auch Anlass für Befürchtungen. Die bekommt Merkel beispielsweise zu hören, als sie sich am Donnerstagabend in der deutschen Botschaft in Peking mit Bürgerrechtsanwälten und Angehörigen von Inhaftierten trifft. Auch die Kanzlerin dürfte die Vorstellung nachdenklich machen, wenn irgendwann eine Mehrheit der Menschen ihr Leben über Internetplattformen abwickeln. Einem Missbrauch durch die ohnehin in Menschenrechtsfragen nicht zimperliche chinesische Führung wäre Tür und Tor geöffnet.
China und der Datenschutz passen nicht zusammen
In den nächsten 10, 15 Jahren könnte das Land nach Einschätzung von Experten zum führenden Anbieter von Technologie zur Nutzung künstlicher Intelligenz werden - falls das nicht klappen sollte, ist das Land jedenfalls einer der Staaten, in denen die Technik zuerst eingeführt geworden ist. Ausländische Beobachter und Menschenrechtler sehen den sorglosen Umgang mit Daten in China und die massive staatliche Überwachung kritisch. Eine öffentliche Debatte überDatenschutz wird im bevölkerungsreichsten Land der Welt praktisch nicht geführt.
Derzeit arbeitet die Regierung an einem Sozialpunktesystem, das alle möglichen Daten der Bürger zusammenführt und auswertet. Das nationale Bewertungssystem, das an die totale Überwachung in George Orwells Roman "1984" erinnert, soll ab 2020 zwischen guten und schlechte Bürgern oder Unternehmen entscheiden. Und damit auch darüber, wer etwa einen Job, einen Auftrag oder einen günstigen Kredit bekommt. Potenziell hängt davon sogar ab, wer ein Flugzeug nehmen darf.
Digitale Karte des Körpers
Besonders eindrücklich dürften für die Physikerin Merkel die Forschungsergebnisse der Firma iCarbonX sein, ein Biotech-Startup, das in Shenzhen seit drei Jahren an einer auf künstlicher Intelligenz und der Auswertung großer Datenmengen basierenden Plattform zur Gesundheitsförderung und -vorsorge arbeitet. In den nächsten fünf Jahren wollen die Forscher dafür Herzschlag, Schlafmuster, Blutwerte und die Erbsubstanz von bis zu einer Million Menschen analysieren. Mit Hilfe von DNA-, Speichel-, Blut- oder Urinproben soll für Nutzer eine digitale Karte des Körpers geschaffen werden, die über die Gesundheit informiert und bei Krankheiten frühzeitig warnt.
Gründer Wang Jun beschäftigt nach eigenen Angaben mehrere Hundert Mitarbeiter. In der ersten Finanzierungsrunde hat er demnach mehr als eine Milliarde US-Dollar Kapital eingesammelt. Die Firma des 41-jährigen Biologen und Computerfachmanns kooperiert mit Fitnessclubs, Kliniken, um an die menschlichen Daten zu kommen. In Großstädten hat iCarbonX schon eigene Messstationen eröffnet.
Langfristig sollen Daten über smarte Geräte im Haushalt gesammelt werden. Die Toilette könnte etwa den Urin analysieren, die Zahnbürste untersucht den Speichel und der Spiegel im Bad scannt mit einer 3D-Kamera den Zustand der Haut. Es könnte sein, dass jene in der deutschen Delegation Recht haben, die sagen, Orwells Visionen waren gegen das, was sich gerade in China entwickelt, lediglich ein laues Lüftchen. (dpa/rs)