Bill Gates (52) verfügt über viel Vorstellungskraft. Zukunftsszenarien sprudeln aus dem Chairman von Microsoft nur so heraus.
Ideen wie die kluge Kamera etwa, die sich nebst Datum und Zeitpunkt einer Aufnahme auch den Ort merkt. Die Fotos beamt sie drahtlos auf den PC. Der sortiert misslungene Bilder aus und erstellt eine Diashow mit passender Musik. Die kann sich der Nutzer auf dem Fernseher ansehen oder auf dem Handy mit ins Büro nehmen, im Internet ausstellen oder an Freunde versenden.
Weil das alles noch viel zu wenig futuristisch klingt, denkt sich der Trendsetter des weltgrößten Software-Herstellers einen persönlichen Globus hinzu. Der zeigt die selbst aufgenommenen Fotos an korrekter Stelle dreidimensional und in so guter Auflösung, dass der Betrachter quasi darin herumspazieren kann.
Von der virtuellen Reise ist es dann nur noch ein kleiner Sprung in eine Welt, in der Computer-Nutzer durch individuell zusammengestellte Online-Läden flanieren, in pseudorealen Besprechungen sitzen oder aus der Ferne am Leben zu Hause teilnehmen.
Die Digitalisierung des Alltags - diese Vision will Gates realisieren. Sein Unternehmen soll das universelle Betriebssystem für die vollständige Vernetzung unseres Lebens liefern. Ob PC, Mobiltelefon, Fernseher, Kamera und Kühlschrank, Heizung und Licht, Medizinschränkchen und Mikrowelle - alle elektronischen Geräte werden dann mit Software aus Redmond gesteuert und untereinander koordiniert. Und für die Dominanz im WWW soll die geplante Übernahme von Yahoo sorgen.
Gates' Plan klingt gewaltig, ja geradezu größenwahnsinnig. Aber so nannten Kritiker schon vor knapp 30 Jahren die Ankündigung des Start-ups aus dem US-Bundesstaat Washington, "einen PC auf jedem Schreibtisch" zu platzieren.
Neue Einkommensmechanismen im Web generieren
Jetzt prophezeit der Gründer eines der erfolgreichsten Unternehmen der Welt seinem Konzern wieder gigantische Wachstumsperspektiven: "Unsere Chancen sind größer als jemals zuvor."
Die Vorhersagen sind großspurig, die nächste Dekade die "bei Weitem interessanteste" für Microsoft, wie Gates meint. Denn sein visionäres Vermächtnis - der Übervater zieht sich im Sommer 2008 aus dem aktiven Geschäft zurück, um sich ganz der Wohltätigkeit zu widmen - stellt den Konzern vor enorme Herausforderungen.
Das auf Computer-Software spezialisierte Unternehmen muss sich in die andersartige Welt der Unterhaltungs- und Haushaltselektronik einarbeiten und sich in eine gänzlich neue Kundengruppe eindenken - die anspruchsvollen und doch sparsamen Konsumenten.
Gleichzeitig steht das ganze bisherige Geschäftsmodell zur Disposition. Weil schon allein die Idee anachronistisch anmutet, in einer total vernetzten Welt Software-Pakete verkaufen zu wollen, will Microsoft neue Einkommensmechanismen im Web generieren - wohl auch mit Hilfe von Yahoo .
Während intern tief greifende Umwälzungen anstehen, kämpft Microsoft draußen mit aggressiven Konkurrenten um die Vorherrschaft im vernetzten Zeitalter. Und anders als vor einem guten Vierteljahrhundert, als der freche Studienabbrecher Gates mit seinen Kumpels den verschlafenen Dinosaurier IBM ausbremste, zählt Microsoft heute zum saturierten Establishment. Als zukunftsweisend gilt eher Google mit seiner Macht im Internet oder Apple mit seiner Designorientierung.
Ob einer dieser Aufsteiger, Microsoft oder gar ein derzeit noch völlig unbekannter Spieler einmal das digitale Leben dominieren wird, entscheidet sich sehr bald.
Wachstumssektor Unterhaltungselektronik
Zum Beispiel im Gebäude 35, einem Betonklotz auf dem Microsoft-Campus in Redmond. Versteckt hinter hohen Bäumen existiert sie schon, die moderne Welt à la Bill Gates. Da registrieren Funketiketten, ob die Kinder ihr Spielzeug aufräumen, und schreiben ihnen für jedes verstaute Stofftier ein paar Minuten Spaßzeit an der Videokonsole gut. Das Pinbrett besorgt nach Anheften einer Einladung den Babysitter und bestellt das Taxi. Die Stereoanlage weiß vom Schul-Computer, dass Beethoven auf dem Lehrplan steht, und lässt beim Abendbrot die "Fünfte" erklingen.
Dass solche Zukunftsvisionen Microsoft demnächst Abermilliarden an frischem Umsatz bescheren, dafür soll Robbie Bach (45) sorgen. Seit Ende 2005 steht der Stanford-Absolvent der neu geschaffenen Konzernsparte Unterhaltungselektronik vor - in der Hierarchie als einer von drei Präsidenten direkt unter CEO Steve Ballmer (51) eingeordnet.
Aus dieser exponierten Position steuert der Betriebswirt Microsoft auf noch weitgehend unbekanntes Terrain. Erst im Jahr 2000 wagte sich der Konzern mit der von Bach initiierten Spielekonsole Xbox zaghaft in das unsichere Geschäft mit dem Verbraucher.
Mittlerweile gebietet der Vater der Xbox über einen auf mehr als sechs Milliarden Dollar Umsatz angewachsenen Sektor, der eine Vielzahl an Verbraucherprodukten offeriert - Computer-Spiele, die Windows-Mobile-Software für Mobiltelefone, den Musikspieler Zune, der Windows-Homeserver und die Internet-TV-Plattform Mediaroom sowie Novitäten wie die Auto-Software Sync oder den digitalen Tisch Surface.
Jetzt will Bach seine Angebotspalette "in die nächste Dimension der Software" katapultieren. Etwas schlichter formuliert: Er will die unterschiedlichen Systeme miteinander verknüpfen.
Die Segnungen des digitalen Alltags offeriert Bachs Truppe etwa Smartphone-Besitzern. Alle ihre im Windows-Computer gespeicherten Adressen flutschen auf das Windows-Mobile-Handy. Neue Nummern werden in allen Dateien aktualisiert. Das Telefon zeigt an, welche Kontaktpersonen online sind - mit denen kann der Telefonierer dann chatten oder Fotos austauschen. E-Mails bearbeitet er mit fast dem gleichen Komfort wie am PC - inklusive Vorschau, Spam-Warnung und Rechtschreibkorrektur. Schrittweise soll so zusammenwachsen, was zusätzlichen Nutzen und damit mehr Kundschaft verspricht.
Geringe Erfolge im Verbrauchergeschäft
Im Marketing dürfte sich die zukünftige Einheit der Welten schon bald bemerkbar machen. Im neuen Jahr will Bach den Wirrwarr an Markennamen in seinem Bereich zu einem einzigen Logo vereinen. Der neue Name soll den Gedanken von der "vernetzten Erfahrung" verdeutlichen, denn dieses Erlebnis, so Bach, "gibt Microsoft die einmalige Chance, ein großartiges Unterhaltungsunternehmen zu werden".
Bislang brachte das Verbrauchergeschäft Microsoft hauptsächlich Verluste ein. Auf fast zwei Milliarden Dollar summierte sich der Fehlbetrag in Bachs Beritt im vergangenen Geschäftsjahr.
Zu häufig entpuppte sich vor allem die Hardware als Flop. Die übereilte Einführung des iPod-Konkurrenten Zune 2006 ging völlig daneben - gerade mal 1,2 Millionen der MP3-Spieler brachte Microsoft unters Volk.
Mehr als eine Milliarde Dollar musste Microsoft im Sommer 2007 für Mängel an der Xbox zurückstellen. Immer wieder verendeten die Konsolen am "Roten Ring des Todes", wie Insider das Aufflackern von drei Lämpchen nennen.
Riesige Ambitionen, geringe Erfolge. Noch ist die Verbrauchersparte von Microsoft nur ein Hoffnungswert. Doch der superreiche Konzern - mit rund 34 Milliarden Dollar an Cash-Reserven und einer Umsatzrendite von mehr als 60 Prozent im Traditionsgeschäft mit Windows und Office-Software - verfügt über einen sehr, sehr langen Atem.
So hat sich das Unternehmen bereits vor zwei Jahren eine neue Struktur verpasst, in der Bachs Unterhaltungssektor gleichberechtigt neben den Produkten für Informationsarbeiter (etwa die Office-Pakete) und den technischen Plattformen (allen voran das Betriebssystem Windows) steht. Und das obwohl der Konsumentenbereich nur knapp zwölf Prozent des Gesamtumsatzes von 51,1 Milliarden Dollar erwirtschaftet.
"Software plus Service"
CEO Ballmer indes setzt große Hoffnungen in die neue Sparte: "Wir wollen nachhaltig wachsen und gehen große Wetten ein." Die Verluste in Unterhaltungselektronik und Internet interpretiert er deshalb als Investitionen in die Zukunft. Den Rückgang der Gewinnmargen durch das weniger lukrative Hardware-Geschäft kalkuliert er als Preis für die größeren Wachstumschancen ein. Und so folgen die weltweit knapp 80.000 Mitarbeiter weiter beharrlich der Vorgabe: Beherrscht die digitale Welt.
Technisch funktioniert die allgemeine Vernetzung über das Internet. Daten aus verschiedenen Geräten - sei es ein per Handy aufgenommenes Babyfoto oder die Bestellung eines digitalen Kühlschranks - werden in den gigantischen Server-Farmen des weltweiten Netzes gespeichert, dort von Spezial-Software aufbereitet und an die unterschiedlichen Empfängergeräte weiterverteilt - etwa die Mail-Adresse der Großeltern oder den Laptop des Lebensmittellieferanten.
Web-Services nennen die Informatiker die einleuchtende Vorgehensweise. Doch leider hat das System einen Haken. Die Konsumenten wollen nicht für Dienstleistungen aus dem Internet zahlen. In den Zeiten des Dotcom-Booms, in dem es einzig um die Maximierung der Klicks auf einer Seite im WWW ging, haben sie sich daran gewöhnt, solche Angebote gratis zu erhalten.
So stellt sich für Microsoft die alles entscheidende Frage: Wie kann der Konzern in einer Welt, in der alle digitalen Produkte - also auch Software - als Web-Services verbreitet werden, noch Geld verdienen? Die Bedrohung ist real: Schon heute bieten Google und Co. Programme mit ähnlichen Funktionen wie Microsofts Office-Suite kostenlos an.
Auf die Gefahr reagiert CEO Ballmer mit einer Doppelstrategie namens "Software plus Service", die Dienste aus dem Internet nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu den fest in einem Gerät installierten Programmen interpretiert. Die Geschäftslogik hinter dem Schlagwort: Einerseits bleibt der Verkauf von Lizenzen so lange wie möglich erhalten. Andererseits eröffnet der Einstieg ins werbefinanzierte Geschäft mit Online-Services zusätzliche Einnahmequellen. Den perfekten Zugang zu dieser gänzlich anderen Welt soll nun die Übernahme von Yahoo garantieren.
"Das Software-Geschäft generiert pro Jahr 200 Milliarden Dollar Umsatz. Der Werbemarkt dagegen umfasst 500 Milliarden Dollar", beschreibt Steve Berkowitz (49) das Potenzial. Von diesem beeindruckenden Kuchen will sich der neue Chef der Microsoft-Internet-Sparte "ein dickes Stück greifen".
Strategien gegen Suchmaschinenriese Google
Seit Mai 2006 verantwortet der ehemalige Chef der Suchmaschine Ask.com das verlustreiche Web-Geschäft des Konzerns. Mit einem um 60 Prozent auf 1,6 Milliarden Dollar aufgestockten Entwicklungs-Budget will der risikofreudige Manager gegen den Erzkonkurrenten Google antreten. Mit der technisch überlegenen Suchmaschine von Yahoo könnte er dabei einen entscheidenden Schritt voran kommen. Noch aber nimmt der Suchriese der Online-Gruppe von Microsoft permanent Marktanteile im Geschäft mit der Web-Werbung ab.
Microsofts Strategie gegen den schier übermächtigen Wettbewerber besteht aus zwei Schritten. Zuerst will er die Reichweite der Microsoft-Angebote ausbauen und die Nutzer durch "eine emotionale Bindung" länger auf den hauseigenen Seiten halten.
Dann sollen sie mit zielgenauen Anzeigen beglückt werden. Zudem kann sich der ideenreiche Ex-Medienmacher alle möglichen weiteren Formen der Monetarisierung seiner Web-Angebote vorstellen - etwa Umsatzbeteiligungen oder Mikrotransaktionen. "Werbung ist nur der Anfang", lautet sein Credo.
Noch ist das Kernstück der berkowitzschen Loyalitätskampagne das Portal Windows Live. Darauf sind sämtliche Web-Services von Microsoft vereint, so etwa das beliebte E-Mail-System Hotmail mit seinen weltweit mehr als 300 Millionen Nutzern, der Messenger mit fast 300 Millionen Teilnehmern sowie die Fotoaustauschseite Spaces.
Wie gegebenenfalls die Angebote von Yahoo in das Microsoft-Angebot integriert werden, stellt Berkowitz - so er denn nach der Übernahme noch Chef des Web-Bereichs bleibt - vor eine deutliche größere Herausforderung.
Eines jedoch ist klar: Berkowitz geht äußerst aggressiv vor. Bereits Ende Oktober 2007 kaufte er für 240 Millionen Dollar eine kleine Beteiligung an Facebook. Das Netzwerk wächst derzeit schneller als die Google-Kooperation MySpace. Wie geschickt der Schachzug war, der notleidenden Suchmaschine Yahoo ein Angebot zu unterbreiten, wird sich indes noch weisen.
Sein Ziel formuliert Microsofts Web-Guru jedenfalls glasklar: "Wir wollen den Surfern ein Wow-Erlebnis verschaffen." Der Software-Riese biete den Surfern die vielfältigen Erlebnisse einer Shopping Mall, während Google nicht mehr sei als der Informationsstand.
Microsoft: Plattform für Vernetzung
Berkowitz mag noch so lästern - die begehrten Werbemilliarden wandern dennoch zum größten Teil zu Google. Die Suchmaschine saugt mittlerweile ein Drittel aller US-Internet-Anzeigen ab.
Auch die rund sechs Milliarden Dollar schwere Übernahme der Online-Werbefirma Aquantive durch Microsoft zeitigt bisher wenig Erfolg. Diese Anzeigenplattform soll dafür sorgen, dass nur für den jeweiligen Nutzer relevante Inserate aufpoppen. Doch selbst innovative Ideen wie etwa das sogenannte Beacon auf Facebook greifen nicht. Die Netzwerker wehren sich gegen Mitteilungen an ihre Online-Freunde über ihre Käufe.
Microsofts Plan zur Eroberung der vernetzten Welt steht also auf wackeligen Beinen. Weder die Verbraucherstrategie noch die Internet-Aktivitäten können bislang wirklich begeistern. Und der Erfolg einer Yahoo-Übernahme ist zumindest ungewiss.
Zu früh sollten sich die Konkurrenten indes nicht freuen. Denn Branchenexperte Rob Enderle, Chef der gleichnamigen Beratungsfirma, konstatiert: "Microsoft kann als eines der wenigen Unternehmen der IT-Industrie wirklich eine Plattform für die Vernetzung im digitalen Alltag liefern und nicht nur einzelne Elemente."
Diese Fähigkeit stelle zum Beispiel das Sync-System unter Beweis. Dieser Mini-PC, den Ford ab 395 Dollar in seine Autos einbaut, verbindet per USB-Anschluss oder Bluetooth-Verbindung beliebig viele Handys oder Musikspieler mit Freisprechanlage und Radio. Dreht der Fahrer den Zündschlüssel herum, erkennt Sync das Mobiltelefon oder den MP3-Player, lädt sich Adressdatei, SMS, Mail oder Liedtitel herunter. Er übersetzt Textdateien in gesprochene Sprache und kann so per Zuruf gesteuert werden.
Das Beispiel zeigt: Noch ist das Rennen um die Dominanz im digitalen Alltag offen. Vielleicht wirken die Fantasien von Bill Gates ja weiter.