Umbau, Rücktritt, Nokia

Microsoft im Urteil von Analysten und CIOs

23.09.2013 von Werner Kurzlechner
Analysten hätten eher Dropbox und Evernote statt Nokia auf die Einkaufsliste genommen. Und CIOs hoffen auf ein Ende der Lizenz- und Roadmap-Konfusion.
Ted Schadler Analyst, Forrester Research: "Der potenzielle Windows-8-Nutzer darf nun umso mehr von einem ernst gemeinten Engagement bei Geräten und Services ausgehen."
Foto: Forrester Research

Das Donnergrollen aus Redmond war zwischenzeitlich sehr laut, und gleich dreimal hat der Blitz eingeschlagen. Da kündigte Microsoft-CEO Steve Ballmer erst einmal seinen Rückzug binnen Jahresfrist an, ehe der Kauf der Nokia-Handy-Sparte für mehr als 5,4 Milliarden Euro bekannt wurde. Kurz zuvor hatte Ballmer noch den strategischen Umbau des Software-Riesen angekündigt, der demnach auch ein starker Anbieter von Geräten und Services sein will - gegliedert in die vier Funktionsbereiche Betriebssysteme, Applikationen und Dienste, Cloud Computing und Enterprise Engineering sowie Devices und Hardware.

Drei Einschläge also, die für sich gewaltig genug sind. Zusammen wirken sie wie ein heftiges Spätsommergewitter. Ob es die Luft gereinigt oder dauerhafte Schäden angerichtet hat, ist für den Moment offen. Die Analystenwelt sucht nach Antworten, die Geschäftskunden schwanken zwischen Erleichterung und vagen Hoffnungen.

"Der Wechsel an der Führungsspitze war überfällig", sagt Bernd Sengpiehl, Vorstandssprecher des Anwendernetzwerkes Microsoft Business User Forum (mbuf). Zu viele Entwicklungen wie etwa die Internetökonomie oder Mobility habe Microsoft in den vergangenen Jahren verschlafen.

"Wir hoffen auf mehr Klarheit in der Ausrichtung", so Sengpiehl. Zuletzt habe der Anbieter stark auf Produkte gesetzt, deren Nutzen für die angestammten Geschäftskunden fragwürdig sei: die Touchscreen-Technologie und das Modern UI in Windows 8 etwa, die Unternehmen eher vor neue Probleme stellt als vorhandene zu lösen; oder die Cloud-Only-Strategie für Office, die Anwender zum häufig unerwünschten Online-Sein ohne Unterbrechung zwinge.

Roadmap? "Wir erfahren dazu nichts"

"Stattdessen würden wir uns eine klare Roadmap wünschen, wie die Zukunft von Lösungen wie Windows, Office oder Dynamics aussehen soll - aber dazu erfahren wir nichts", moniert Sengpiehl. Mbuf kritisiert außerdem Chaos bei den Lizenzen.

Selbst Mittelständler seien inzwischen wegen der komplexen Lizenzierung dazu gezwungen, teure Enterprise Agreements mit Microsoft abzuschließen. Anders habe man kaum eine Chance, compliant zu bleiben, so Sengpiehl. Hinzu komme, dass Upgrades per Software Assurance (SA) mit 30 Prozent der Lizenzkosten überproportional zu Buche schlagen und der Support bei Microsoft auch noch extra kostet. Ob sich an der Vernachlässigung der Business-User nach den jüngsten Entwicklungen etwas ändert? Sengpiehls Antwort: drei große Fragezeichen.

Die Übernahme des Kerngeschäftes von Nokia immerhin sei für die IT-Chefs eine gute Nachricht, meint Ted Schadler von Forrester Research. „Den CIOs, mit denen ich täglich zu tun habe, dürfte diese Übernahmen die Arbeit erleichtern", so Schadler. Die Doppelung der Mobility-Kräfte sei deshalb eine gute Sache, weil man als potenzieller Windows 8-Nutzer nun umso mehr von einem ernstgemeinten Engagement von Microsoft im Bereich Geräte und Services ausgehen dürfe. Erhöhte Planungssicherheit also für die Anwender - aber vielleicht ein nächstes Eigentor des einst in der Ära Bill Gates so erfolgsverwöhnten Imperiums?

Chance links liegengelassen

Praveen Chandrasekar, Analyst bei Frost & Sullivan, stichelt jedenfalls in diese Richtung. Auffällig sei, dass die Kalifornier den Finnen die Geschäftssparte "Here" überlassen hätten, die umbenannte Karten- und Verkehrsmanagementsparte von Navteq. „Das Hinzufügen von Here mit seinen standortbezogenen Komponenten sowie Mirrorlink hätte die Microsoft-Linie zum vernetzten Auto zu einer interessanten Möglichkeit für Auto-OEMs werden lassen", argwöhnt Chandrasekar. Und das umso verwunderter, weil Microsoft mit Plattformen wie SYNC oder Blue&Me bereits Bande zu Autoherstellern wie Ford, Fiat oder Kia geknüpft habe. Ein Randaspekt, vermutlich. Aber erschiene das Linksliegenlassen einer guten Chance im Zukunftsmarkt Automobile IT nicht geradezu für typisch für Microsoft in den vergangenen Jahren?

Um die Zukunftsszenarien für den Anbieter auffächern zu können, muss man zuerst die wohl noch einige Monate andauernde Vergangenheit als Fixpunkt finden. Unverblümt rechnen die IT-Experten da ab, manchmal sogar höchst persönlich. "Ich habe ihn nicht gemocht", erinnert sich Gartner-Analyst Jack Santos an seine erste Begegnung mit Ballmer.

Bernd Sengpiehl mbuf-Vorstandssprecher: "Wir würden uns eine klare Roadmap wünschen, wie Windows, Office oder Dynamics aussehen soll – dazu erfahren wir nichts."
Foto: mbuf

Ziemlich einfältig, hinter verschlossenen Türen vermutlich grob und tyrannisch, sei ihm der Kumpel von Bill Gates erschienen. Leiden könne er Ballmer immer noch nicht, so Santos. Aber er sei ein bisschen wärmer mit ihm geworden und respektiere die Zahlen, die Ballmers seit 2000 andauernde Regentschaft kennzeichnen: Steigerung des Jahresumsatzes von 25 auf 70 Milliarden Dollar, Erhöhung des Nettoertrags um 215 Prozent auf 23 Milliarden Dollar.

Rock'n'Roll-Zeiten sind vorbei

Die Zahlen, sie sind ein Teil des erstaunlich großen gemeinsamen Nenners, den die Analysten in der Rückschau auf die Ballmer-Ägide finden. Das hochintelligente Rechengenie mit Havard-Abschluss hat es immer hinbekommen, gute Bilanzen vorzulegen. Genauso begannen aber andere Sterne wie Apple und Google immer heller zu strahlen, während Microsoft – gefangen in der Welt der On-Premise-Software für Desktops - sehr lange ohnmächtig der IT-Revolution im Internet und auf mobilen Endgeräten zusah.

In den 1990er-Jahren seien Release und Erfolgsgeschichte von Windows 95 Rock’n’Roll gewesen, erinnert sich Forrester-Analyst JP Gownder. Die sexy erscheinenden Events aber gehören mittlerweile Apple und den „i"-Geräten, während Microsoft den Kontakt mit den Endverbrauchern verlor. Zur Hilflosigkeit gegenüber den jungen IT-Trends kam – auch da herrscht Einigkeit bei den Beobachtern – eine Serie unausgegorener bis schlechter Produkte aus Redmond, mit Windows Vista als Krönung.

„Das neue Zeug funktioniert einfach nicht"

Auf Basis diese Ballmer-Erbes also versuchen die Auguren, in die Zukunft zu schauen. Zwei der radikalsten Deutungen kommen von Pierre Audoin Consultants (PAC) und der Enderle Group. Microsoft sei gesund und 300 Milliarden Dollar wert, so PAC-Analyst Philip Carnelley. Insofern erscheine alles im Lot, aber das habe man über einstige IT-Überflieger wie Blackberry, Nokia oder HP auch lange gedacht. Das Problem sei, dass fast alle Microsoft-Profite aus dem business-orientierten Software-Kerngeschäft stammten. „Das neue Zeug funktioniert einfach nicht", so Carnelley.

Die Welt brauche keine Windows Phones oder Windows 8 für Tablets, sondern erfreue sich an Dropbox, Box.net, Evernote oder den geschäftlichen Apps von Apple. Der Versuch Microsofts, mit betriebssystem-gebundenen eigenen Apps dagegenzuhalten, schlage fehl und gefährde sogar die profitablen Business-Angebote. Carnelley rät dem Riesen aus dem Silicon Valley, schleunigst noch mehr ERP in die Cloud zu bringen und mit innovativen Mobile Apps für alle Geräte Land zu gewinnen.

Besser Dropbox und Evernote kaufen

Philip Carnelley Analyst bei PAC: "Das neue Zeug funktioniert einfach nicht. Die Welt braucht keine Windows-Phones oder Windows 8 für Tablets."
Foto: PAC

Die Empfehlungen des PAC-Analysten in seinem Blog nach Ballmers Rücktrittsankündigung waren erfrischend konkret: Dropbox und Evernote kaufen anstatt hauseigene Surrogate zu bauen. "Microsoft kann sich das leisten", so Carnelley. "Die beiden Apps könnten mit Office 365, Azure und SkyDrive - alles gute Ingenieursleistungen - zusammengeschnürt werden und gemeinsam an Akzeptanz gewinnen."

Weitere Tipps von PAC an Microsoft: versuchen, an jedem verkauften mobilen Endgerät 10 bis 20 Dollar jährlich mitzuverdienen, um langfristig auf dem Wachstumspfad zu bleiben; dafür das überflüssige Tablet- und Geräte-Geschäft beispielsweise an Acer oder HTC abstoßen und möglichst auch die Xbox-Gruppe loswerden; Konzentration aufs Kerngeschäft der Software für Firmen, ohne den Consumer-Bereich ganz aufzugeben.

Der Nokia-Deal hat nun gezeigt, dass Microsoft offenkundig die entgegengesetzte Richtung einschlagen will. Bernd Sengpiehl von mbuf, der auch CIO von AEG Power Solutions ist, springt hier übrigens PAC bei. Vordergründig ergänzten sich die sehr guten Betriebssysteme von Microsoft und die technologisch herausragenden Nokia-Geräte perfekt. Bisher habe der Software-Riese wie zuletzt mit den Surface-Tablets im Segment Spezialgeräte aber mit Vorliebe Ladenhüter produziert. „Von Devices haben die keine Ahnung", sagt Sengpiehl.

Wähnt PAC Microsoft "nur" auf dem strategischen Holzweg, hält Rob Enderle, Analyst und Gründer der Enderle Group, die Lage für fast aussichtslos. Der Konzern steckt demnach tief in einem Personalführungs-Morast. Microsoft sei durchseucht vom Konzept "Forced Ranking" und seinen giftigen Folgen für Unternehmenskultur und Leistungsprinzip, so Enderle. Die Mitarbeiter werden durch die Bank mit Noten bewertet, die schlechtesten zehn Prozent sollen regelmäßig ausgesiebt werden.

Nach Einschätzung Enderles hat dieses System zur Folge, dass gute Leute ohne Not das Unternehmen verlassen müssen oder freiwillig Reißaus nehmen, statt Problemlösungskompetenz würden Duckmäusertum und Karrierismus gefördert. Ziele würden taktisch so niedrig angesetzt, dass sie auch erreicht werden; Chefs bekommen das zu hören, was sie hören wollen.

Nach Enderles Einschätzung sind diese weichen Faktoren der Hauptgrund für schlechte Produkt-Entscheidungen wie den MP3-Player Zune, Windows Vista oder mutmaßlich die Surface-Tablets. „Wenn sich diese Kultur nicht ändert, wird Ballmers Nachfolger noch sehr viel schlechter abschneiden als er", prognostiziert der Analyst. Insbesondere deshalb, weil der Neue vermutlich weniger geschickt im Umgang mit Zahlen sein dürfte.

Dringend nötig: Ein eigenes App-Internet-Ökosystem aufbauen

Neben derartigen Kassandrarufen fallen die Prognosen anderer Analysten maßvoll und ausgewogen aus. Forrester-Analyst George Colony betont die anhand von Windows 7, Office und Xbox nachgewiesenen Programmierstärken. Auf dieser Basis müsse die uneingeschränkte Priorität nun lauten, ein eigenes App-Internet-Ökosystem aufzubauen, um von Apple und Google nicht endgültig abgehängt zu werden und wie IBM in 1990er-Jahren oder Apple um 2000 in eine echte Krise zu stürzen.

Forrester-Kollege Schadler wähnt Microsoft vor einer Zerreißprobe. Der Verschwinden der Software und der Siegeszug von IT-Services könnte eine Aufsplitterung in separate Einheiten für Business, Consumer und Entertainment nahelegen; wolle man in einer universelleren Welt ohne strikte Trennung zwischen Arbeit und Privatleben weiter als starker Gesamtanbieter mit den Trümpfen Windows und Office auftreten, führe an einer Verschmelzung von Work- und Home-Lösungen kein Weg vorbei. In jedem Fall ist es laut Schadler im Kampf mit Android und iOS unabdingbar, Apps für alle Endgeräte anzubieten und beispielsweise die Cloud-Plattform Azure zum Marktplatz für sämtliche Devices zu machen.

Mit den Nokia-Handys und -Lizenzen hat sich Microsoft nach Schadlers Einschätzung möglicherweise in Stephen Elop den kommenden CEO eingekauft - und zumindest mit Lumia eine wohl leicht zu integrierende Sparte. Demgegenüber könnte Herstellern wie HP, Lenovo oder Dell die Zusammenarbeit mit Microsoft dadurch verleidet werden.

Die Chancen des Nokia-Kaufs

Ovum-Analyst Tony Cripps sieht die entscheidenden Qualitäten bei Nokia-Deal zum einen in den vergleichsweise noch hohen Marktanteilen des finnischen Herstellers im indischen Handy-Markt – ein Hebel für Microsoft, um auf dem Subkontinent Tools wie Bing oder Outlook.com zu pushen. Zum anderen habe Redmond vor allem Kontrollmacht gewonnen, um die eigenen Windows Phones gegenüber Nokia-Lizenzprodukten stärker zu positionieren. Cripps vermutet, dass hier noch die Handschrift Ballmers zu lesen ist.

Alles in allem werde das ausreichen, um als einzige ernstzunehmende dritte Kraft Apple und Google bei Smartphones und Tablets herauszufordern. Wenn in den kommenden vier Jahren allerdings kein drastischer Gewinn an Marktanteilen gelingen sollte, wird Microsoft laut Ovum auf dem Mobility-Markt nicht mehr aus der Nachzügler-Rolle herauskommen.