Wie Mobile und Cloudwird auch bei der Blockchain-Technologie allgemein davon ausgegangen, dass sie das Business-Umfeld grundlegend und disruptiv umwälzt. Sollte ihr Potenzial jedoch tatsächlich voll ausgeschöpft werden, wird nicht nur dasFinanzwesen von der Disruption betroffen sein, wie Angus Champion de Crespigny vom Beratungsunternehmen Ernst & Young weiß: "Wenn man Geld und andere Wertgegenstände wie Daten durch das Internet schieben kann - was kann man dann noch damit anstellen?
Man kann es zum Beispiel als Mittel nutzen, um in der digitalen Welt Vertrauen zu erzeugen." Bevor es die Blockchain gegeben habe, sei schlicht nicht zu überprüfen gewesen, ob etwas nur eine Kopie aus dem Internet ist. Wenn Sie beweisen wollen, dass etwas in der digitalen Welt passiert sei, gebe es keine Technologie, die sicherer sei, ist sich der Berater sich: "Wenn eine Information einmal in derBlockchain aufgenommen wurde, ist es unmöglich das rückgängig zu machen."
Wenn Technologien mit solch drastischer Wirkung entstehen, sollten sie von Unternehmen nicht bloß unter dem Aspekt der Effizienzsteigerung betrachtet werden, so der Experte: "Stattdessen sollten Sie sich lieber fragen, ob Ihr Unternehmen überhaupt die geeignete Struktur für diese neue Welt besitzt."
Geschichte wiederholt sich - auch bei Blockchain?
Im Mittelalter sorgten das arabische Dezimalsystem und ein Buchhaltungssystem der Händler aus den nördlichen italienischen Republiken für eine Umwälzung der Geschäftswelt. Mit dem System der doppelten Buchführung konnten die damaligen Händler die Integrität ihrer Finanzbuchhaltung sicherstellen. Heute wird dieses System von jedem Unternehmen auf der Welt angewandt.
Blockchain ist in gewisser Weise eine moderne, digitale Form der doppelten Buchführung - auf Steroiden. Für Don und Alex Tapscott, die Autoren des Buches "Blockchain Revolution", repräsentiert die Technologie die zweite Generation des Internets, die das Potenzial dazu hat, die Geldwirtschaft, die Geschäftswelt, Regierungen und Gesellschaften nachhaltig zu verändern.
In einem Artikel, den das Vater-Sohn-Autorenduo für das Time Magazineverfasst hat, beschreiben sie Blockchain als "erstes natives, digitales Medium für den Austausch von Werten auf Peer-to-Peer-Basis". Das Blockchain-Protokoll etabliere dabei die Regeln in Form von global distribuierten Berechnungen und hochentwickelten Verschlüsselungsverfahren. So werde die Integrität der Daten, die zwischen Milliarden von unterschiedlichen Devices ausgetauscht werden, sichergestellt - ohne eine vertrauenswürdige, dritte Partei einschalten zu müssen. "Vertrauen ist integraler Bestandteil dieser Plattform. Deswegen nennen wir es das ‚Trust Protocol‘. Es fungiert als Kassenbuch für Konten, als Datenbank, Notar, Wachdienst und Verrechnungsstelle."
Blockchain verstehen lernen
Im Kern handelt es sich bei der Blockchain-Technologie um eine dezentrale, distribuierte Datenbank - oder einen "Timestamp Server", wie sie einst vom mysteriösen Satoshi Nakamoto im Bitcoin-Manifest bezeichnet wurde. Diese Datenbank enthält eine stetig wachsende Liste von Transaktionsdatensätzen. Sie wird chronologisch linear erweitert, vergleichbar einer Kette, der am unteren Ende ständig neue Elemente hinzugefügt werden (daher auch der Begriff "Blockchain" = "Blockkette"). Ist ein Block vollständig, wird der nächste erzeugt. Jeder Block enthält eine Prüfsumme des vorhergehenden Blocks.
Entwickelt wurde das technische Modell der Blockchain im Rahmen der Kryptowährung Bitcoin - als webbasiertes, dezentralisiertes, öffentliches Buchhaltungssystem aller Bitcoin-Transaktionen, die jemals getätigt wurden. Die Bitcoin-Blockchain wächst stetig, da ständig neue Blöcke mit neu abgeschlossenen Bitcoin-Transaktionen hinzukommen. Jeder Computer, der an das Bitcoin-Netz angeschlossen ist, neue Bitcoins erzeugt und/oder die bisher erzeugten verwaltet, verwaltet eine 1:1-Kopie der vollständigen Blockchain, die Ende 2015 bereits rund 50 Gigabyte groß war. Noch ausführlichere technische Informationen zur Bitcoin-Blockchain gibt es bei Wikipedia.
"Konsens entsteht in einem dezentralen System dadurch, dass die beteiligten Einheiten ihre Arbeit gegenseitig überprüfen und erlaubte Transaktionen oder Aktivitäten absegnen", erklärt Champion de Crespigny.
Blockchain sorgt unterdessen auch dafür, dass sich die sogenannten Smart Contracts steigender Beliebtheit erfreuen. Diese stellen Verträge und Mechanismen dar, die auf in der Blockchain klar verifizierbaren Informationen vereinbarte Verträge technologisch implementieren (etwa Zahlungen durchführen, Nutzungsrechte einräumen). Auch diese Verträge funktionieren autark - die auslösenden Informationen sind in der Infrastruktur Blockchain transparent verfügbar.
Diese "Automatisierung der Vertauenswürdigkeit" bringt Ernst & Young zu der Annahme, dass "die Blockchain-Technologie das Potenzial hat, Geschäftsprozesse zu bündeln und zu beschleunigen sowie die Sicherheit zu erhöhen." Daneben gehen die Experten davon aus, dass vertrauenswürdige Mittelsmänner oder zentralisierte Institutionen in Zukunft in allen Branchen wenig bis gar keine Zukunft haben werden.
Zum Video: Mit Blockchain zur Disruption
Herausforderungen für die Blockchain-Technologie
Die Herausforderungen, die mit der Blockchain-Technologie einhergehen, sind vielfältig. Egal ob es dabei nun um technische Herausforderungen, die kaum vorhandene Wahrnehmung von Bitcoin in der Öffentlichkeit oder steuerliche und regulatorische Fragen geht. Und ganz zu schweigen vom Widerstand derjenigen Unternehmen, die durch die Technologie bedroht sind. Dennoch warnt auch Champion de Crespigny vor einer "Abwarten-und-Tee-trinken-Haltung": Das könnte Ihr Unternehmen nämlich in dieselbe Situation bringen, in denen sich einst die Vorstände großer Plattenlabels befanden, als die sich fragten, wie sie wohl mit dem Internet ihre CD-Verkäufe ankurbeln können.
"Die technische Innovationskraft wird mit extremer Kraft die Funktionsweise von Geschäftsmodellen verändern", so der Experte. Als Beispiel führt Ernst & Young eine Nachbarschaft in New York City an. Dort hilft eine private Blockchain den Hausbesitzern dabei, die Solarenergie, die auf ihren Dächern erzeugt wird, innerhalb der Gemeinschaft zu verteilen - ohne die städtischen Behörden ins Boot zu holen. Doch es gibt viele andere Pilotprojekte: Vernetzte Waschmaschinen etwa, die das Waschmittel selbst nachbestellen oder Sensoren für die Landwirtschaft, die automatisiert die Bewässerung von Ackerflächen kontrollieren.
Wenn die Herausforderungen gemeistert werden können, geht Champion de Crespigny davon aus, dass die Adoption der Blockchain-Technologie extrem schnell und extrem disruptiv von statten geht. Sollte die Blockchain beispielsweise erwiesenermaßen zu Kostenreduktion und erhöhtem Vertrauen im Finanzwesen beitragen, sei zu erwarten, dass Finanzdienstleister von ihren bisherigen Transaktions-Technologien zu Gunsten der Blockchain abrücken.
Für Software- und Service-Provider, die darauf nicht vorbereitet sind, könnte das das Aus bedeuten. Das Resultat der durch die Blockchain verursachten Disruption könnte jedoch noch deutlich signifikanter ausfallen, wie Champion de Crespigny darlegt: "Ich finde die Idee, dass Wert nur zu einer anderen Form von Daten wird, sehr interessant. Das ermöglicht einer bislang vor allem vertikalen Industrie, in die Horizontale zu wechseln und branchenübergreifend zu arbeiten."
Auch für die Verteilung von Server-Workloads scheint die Blockchain-Technologie eine vielversprechende Lösung darzustellen. Davon wären wiederum insbesondere die Cloud-Provider betroffen. Im Bereich der IT-Security könnte die Blockchain hingegen in Sachen Authentifizierung für eine Revolution sorgen und zur vertrauenswürdigen Basis für jede Art von Machine-to-Machine-Kommunikation im Internet of Things werden. "In diesem Bereich können Sie die Technologie nicht einfach ausblenden", so der Ernst & Young-Experte, "Sie müssen das Konzept der Technologie verstehen und welche Auswirkungen sie auf ihr Unternehmen haben kann. Sie müssen ihre aktuellen Geschäftsmodelle und -prozesse in Frage stellen: Machen Sie die Dinge, weil sie schon immer so gemacht werden oder gibt es bessere Wege zum Ziel?"
Preis auf Nutzungsbasis 2.0
Der Aufstieg des Cloud Computing hat viele Unternehmen bereits dazu bewogen, auf Tarif-Modelle umzuschwenken, deren Preis sich nach der Nutzung richtet. Im Bereich Internet of Things scheint man sich diesem Trend anzuschließen. Wenn nun noch Blockchain-Technologien hinzukommen, könnte die Adaption solcher "Preis auf Nutzungsbasis"-Modelle noch einmal deutlich an Geschwindigkeit zulegen, wie Greg Cudahy von Ernst & Young erklärt: "Solche Preismodelle werden disruptiv auf Geschäftsprozesse wirken. Vielleicht werden in Zukunft auch Chiphersteller ihre Rechnungen nicht mehr auf Basis der Kosten für einen Chip stellen, sondern sie individuell auf Grundlage des Nutzungsverhaltens der Kunden erstellen."
Zeitgleich hat die Blockchain aber auch das Potenzial, die Buchhaltung und den Umgang mit regulatorischen Anforderungenin Unternehmen maßgeblich durch Kostenreduktion zu verändern. Channing Flynn, Steuerexperte bei Ernst & Young, zeichnet ein Bild der Zukunft: "Heute werden die Validationsprozesse, die nötig sind, um die Höhe der Einnahmen nachzuweisen und entsprechend zu versteuern, rückwirkend ausgeführt. Mit Hilfe der Blockchain-Technologie, könnte man das in Echtzeit und mit maximaler Transparenz erledigen."
Im folgenden wollen wir Ihnen einige weitere, ziemlich disruptive Blockchain-Szenarios von Ernst & Young nicht vorenthalten:
Embedded Health:Ein Informations-Ökosystem für das Gesundheitswesen, das auf Basis der Blockchain-Technologie Versicherer, Gesundheitsinstitutionen und Patienten verbindet.
Digital-Rights-Management:Die Nutzungs-Historie von Musik-Dateien könnte künftig von einer öffentlichen Blockchain erfasst werden. Künstler könnten ihre Musik im Rahmen eines Blockchain-basierten Ökosystems veröffentlichen. Durch die reduzierten Transaktions-Kosten könnte die Blockchain neue Verleih-Modelle auf Basis neuer Werte etablieren.
Pay-for-performance:Im Fall von Smart Contracts kann die Blockchain automatisch Pay-for-performance-Vereinbarungen ausrollen. Die Zeiten, in denen die Pizza nach 30 Minuten Lieferzeit graits war, könnten durch die Blockchain ein Revival erleben. Eventuell könnte der Einsatz der Blockchain hier auch zu einerDegression führen.
Auto-Vollstreckung: In einer Welt, in der jede digitale Transaktion in Echtzeit aufgezeichnet wird, ist kaum noch Raum für verdeckte, illegale Transaktionen, um dem Arm des Finanzamts zu entkommen.
Industrielle Vermischung:Durch die Blockchain könnte eine völlig neue Business-Welt entstehen, die von flexiblen Partnerschaften geprägt ist. Gemeint sind damit solche Allianzen, in denen eine oder mehrere Parteien sich den Anlagegütern oder Ressourcen anderer bedienen, um neue Geschäftswerte zu erschließen. Dabei erfüllen besagte Güter oder Ressourcen zu jeder Zeit weiterhin ihren eigentlichen geschäftlichen Zweck.
Industrial IoT:Bei Ernst & Young glaubt man daran, dass die Blockchain-Technologie Unternehmen dabei helfen kann, ihre industriellen Ressourcen durch allumfassende Vernetzung effizienter zu nutzen. Eine umfängliche Integration in einen digitalen Echtzeit-Marktplatz, wo Unternehmen ungenutzte Betriebszeiten kaufen und verkaufen können, könnte das gewährleisten.
"Es ist Zeit, strategisch und analytisch darüber nachzudenken, wie Sie sich selbst effektiv einer Disruption aussetzen - bevor das andere tun," zieht Champion de Crestigny sein Fazit, "Unternehmen sollten neue Möglichkeiten evaluieren, die die Blockchain ihnen bietet, die Risiken bewerten und auf das richtige Timing achten, um Wettbewerbsvorteile nicht nur zu erzielen, sondern auch zu behalten."
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer US-Schwesterpublikation cio.com.