Wie schnell verändert sich unsere Erde? Welche Herausforderungen kommen auf uns zu? Und: Was bedeutet das für unser Zusammenleben und die Versorgung? Die Klimakrise wirft viele Fragen auf. Zugleich stehen der Wissenschaft immer mehr Daten und Technologien bereit, die valide Antworten versprechen.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Forschung aus den unzähligen gewonnen Daten – von Sensoren im Feld, Analysen im Labor oder Satelliten im All – Erkenntnisse über den Zustand unseres Planeten ableiten kann. Insbesondere eine Hürde erschwert den Umweltwissenschaften die Arbeit: So agieren Forschende immer noch häufig innerhalb wissenschaftlicher Silos. Um das System "Erde" jedoch wirklich verstehen zu können, müssen die alten Disziplingrenzen aufgebrochen werden.
Ganzheitliche Antworten im Blick
Dieser Herausforderung nahmen sich mit dem Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), dem Forschungszentrum Jülich (FZJ), dem GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, dem Helmholtz-Zentrum Potsdam - Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ), dem Helmholtz Zentrum München - Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (HMGU), dem Helmholtz-Zentrum Geesthacht Zentrum für Material- und Küstenforschung (HZG), dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) gleich acht Zentren der Helmholtz-Gemeinschaft mit dem 2018 ins Leben gerufenen Projekt "Digital Earth" an.
Das Ziel war kein geringeres, als eine digitalisierte Form des wissenschaftlichen Arbeitsablaufes zu etablieren – immer unter der Prämisse, Daten und Kompetenzen verschiedener Fachrichtungen zu bündeln und verfügbar zu machen. Insbesondere zwei Aufgaben sollten optimiert werden: die Datenerhebung im Feld (Smart Monitoring) sowie die nachfolgende Datenanalyse und Wissensgenerierung. Um diesen ambitionierten Ansprüchen gerecht zu werden, setzten die Projektverantwortlichen von Beginn an auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Natur- und Datenwissenschaften.
Damit nimmt das über 90-köpfige Team aus Wissenschaftlern der Erdsystemwissenschaften, Datenexperten und Informatikern eine zumindest im deutschsprachigen Raum bislang nicht gekannte Vorreiterrolle ein und leistet Pionierarbeit im Bereich der Erdsystemforschung. Mit dieser Initiative gehört die Gemeinschaft der acht Helmholtz-Zentren hinter "Digital Earth" im Jahr 2020 auch zu den Finalisten des DIGITAL LEADER AWARD, dem großen Digital-Award von IDG Germany und NTT Germany. Dort wurde das Projekt mit dem Sonderpreis "DIGITAL SCIENCE" ausgezeichnet.
KI in den Erdwissenschaften
Im Jahr 2020, zwei Jahre nach dem Projektstart, sind moderne Datenanalyse-, KI- und 4D-Visualisierungsmethoden aus dem Daily Business der interdisziplinären Forschungsteams nicht mehr wegzudenken. So greift Machine Learning beispielsweise den Wissenschaftlern bei der Klassifikation von Daten oder bei der Objekterkennung unter die Arme. Ein Beispiel zeigt, wie das in der Praxis aussieht: So gibt es derzeit keine digital und zentral verfügbaren Daten über Existenz, Standort und Zustand von Deichen entlang deutscher Flüsse. Die Wissenschaftler haben aus diesem Grunde einen "Deep Neural Network"-Ansatz zur Erkennung von Deichen auf Luftbildern implementiert. Das extrahierte Digitalwissen ist nicht nur für interne Interessen von Belang, sondern steht im Anschluss auch der Öffentlichkeit zur Verfügung - beispielsweise für Optimierungen beim Hochwasserschutz.
Neben der digitalen Erfassung von Deichen zur Verbesserung des Hochwasserschutzes untersucht das inter- und multidisziplinäre Team auch die Auswirkungen von Starkregen-Ereignissen, die im Zuge des Klimawandels nicht nur vermehrt auftreten, sondern auch Nähr- und Schadstoffe aus dem Boden auswaschen und bis in die Nordsee transportieren können. Dort helfen digitale und datenbasierte Workflows dabei, die räumliche und zeitliche Ausbreitung der Flussfahne im Meer in Echtzeit nachzuvollziehen, ihren Weg mit Modellen zu verfolgen und mit relevanten Beobachtungsdaten zu ergänzen und zu analysieren.
Ein weiteres Beispiel, das im Rahmen des Projekts "Digital Earth" Wissenschaftlern beim Verständnis des Systems "Erde" hilft, ist der "Change Explorer". Mit diesem Tool können für visuelle Vergleiche Datensätzen ausgewählt werden, die aus historischen und projizierten regionalen Klimamodellläufen stammen. Durch verschiedene Filteroptionen wird so der Zugang zu Klimainformationen wesentlich erleichtert.
Neue Sprache für multidisziplinäre Teams
Innovative Technologien allein machen allerdings noch keinen Digital Leader aus - vor allem dann nicht, wenn ein derart fundamentaler Paradigmenwechsel vollzogen wird. Für den Projekterfolg war vielmehr ein kultureller Aspekt entscheidend: Es war unabdingbar, für die inter- und multidisziplinären Teams eine gemeinsame Sprache zu finden und zu etablieren, die Geologen, Meeresforscher, Informatiker oder Data Scientist gleichermaßen für die Arbeit an den gemeinsamen Zielen befähigt.
Als eine der Grundlagen des "Digital Earth"-Projekts der acht involvierten Zentren der Helmholtz-Gemeinschaft dient die von Turing-Preisträger Jim Grey etablierte Idee von Data Science als viertem Wissenschaftsparadigma. Greys Idee fußt dabei auf der umfassenden Exploration und Analyse existierender Daten. Das Problem: Data Science erfordert eine völlig neue Wissenschaftskultur, die stark von datengetriebenen Prozessen und Mindsets getrieben ist. Das Helmholtz-Team versucht sich im Rahmen von "Digital Earth" daran, diese neue Kultur im Sinne einer inter- und multidisziplinären Kollaboration zu formen und zu erproben.
Um das erfolgreich zu gestalten, hat man seit Beginn des Projekts den regelmäßigen Austausch der Wissenschaftler gefördert und das Projekt aktiv in Sachen Kommunikation und Silo-Überwindung begleitet. Das begünstigte die Definition gemeinsamer Standards für die kollaborative Software-Entwicklung sowie die technische Umsetzung digitaler Workflows.
Die alten Silos sind passé
Dank der Initiative der acht involvierten Helmholtz-Zentren arbeiten heute unterschiedliche Disziplinen - aus Fachbereichen wie Ozeanographie, Geographie, Informatik und Data Science - erfolgreich zusammen und sprechen dieselbe Sprache. Doch nicht nur in den Erdsystemwissenschaften leitet das Projekt einen regelrechten Paradigmenwechsel ein - es strahlt durch seinen bisher in dieser Form nicht gekannten, weit über den oft feigenblatthaft genutzten Begriff der Interdisziplinarität hinaus auch auf andere Wissenschaftsbereiche aus.
Das Projekt "Digital Earth" der Helmholtz-Gemeinschaft zählt mit diesem Ansatz zweifelsohne zu den Vorzeigeprojekten einer vernetzten und digitalen Wissenschaft im 21. Jahrhundert - und hilft zugleich dabei, eine von der Klimakrise bedrohte Welt als geschlossenes System besser zu verstehen. Das Einreißen von Informationssilos, das Etablieren digitaler Workflows, die effiziente Datennutzung und die Schaffung einer gemeinsamen Sprache und Kultur sind dabei die digitale Grundlage für den Impact eines in dieser Form bisher einmaligen Projekts.