Zehn Millionen Dollar für zehn Tage Schweigen. So lässt sich der Schaden beziffern, den Fahrradhersteller Kryptonite erlitt, weil er einen ärgerlichen Blogger ignorierte. Dieser hatte ein 50 Dollar teueres Kryptonite-Schloss mit einem Kugelschreiber geknackt und in einer Online-Community darüber berichtet. Blogger nahmen das Thema auf, ein entsprechendes Video auf YouTube machte die Runde. Kryptonite schwieg zu den Vorwürfen, bis schließlich auch Medien wie die New York Times und AP aufmerksam wurden. Keine zehn Tage nach der ersten Blog-Nachricht musste Kryptonite die Fahrradschlösser zurückrufen. Kosten für den Umtausch: zehn Millionen US Dollar. Kosten des Image-Schadens: unbekannt.
Meinungsführer, Mobber und Mitläufer beobachten
"Für Unternehmen ist es äußerst wichtig, frühzeitig Mitläufer- oder Schwarmphänomene zu identifizieren", sagt Carolin Kaiser. Die Wirtschaftsinformatikerin erforscht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, wie man mit Business-Intelligence-Services Meinungen von Usern in Foren und sozialen Netzwerken analysieren, Trends erkennen und Unternehmen rechtzeitig vor Krisensituationen warnen kann. Anhand von "Case based reasoning" (fallbasiertes Lernen) möchten Kaiser und ihr Team ein System entwickeln, das Manager nicht nur rechtzeitig vor Entwicklungen im Web 2.0 warnt, sondern auch proaktiv Handlungsanweisungen gibt. Dafür werden zunächst einmal Unmengen von Daten gesammelt, etwa Fälle, in denen sich in Foren ein negativer Meinungstrend abzeichnet. Dann wird untersucht, welche Wirkung konkrete Maßnahmen auf die Stimmung im Forum haben. "So wollen wir ein Frühwarnsystem entwickeln, das nicht nur erkennt, wenn die Stimmung kippt, sondern auch Entscheidungsprozesse unterstützt und Aktionen einleitet", sagt Kaiser.
Absatzzahlen mit den Meinungen im Web 2.0 korrelieren
Zwar gäbe es bereits viele kommerzielle Tools, die das Web 2.0 auf syntaktischer Ebene durchforsten, die zum Beispiel Blogs und Nachrichtenportale auf Erwähnungen bestimmter Hersteller oder Produkte durchforsten. Welche Relevanz diese Beiträge aber haben, oder wie sie einzuschätzen sind, können die Tools aber noch kaum erfassen. Deshalb wird derzeit in der Wissenschaft verstärkt an der semantischen Ebene, das heißt der Bedeutungsebene geforscht. "Wer Handlungsempfehlungen geben will, muss auch in die Tiefe gehen", erklärt Kaiser. Bei der Zusammenarbeit mit einem bekannten Sportartikelhersteller, habe das Team festgestellt, dass die Absatzzahlen mit den Meinungen im Web 2.0 korrelieren. "Circa drei Monate, nachdem ein neuer Sportschuh in Foren positiv bewertet wurde, stieg auch der Umsatz", sagt Kaiser. Diese Erkenntnis verblüfft nicht. Jedoch ist es schwierig, Stimmungen im Social Web zu analysieren.
Maschinen lernen, Meinungen zu beurteilen
Denn die Informationen der User liegen in Foren oder Threads, in Newsgroups oder Meinungsportalen unstrukturiert vor. Sie können nicht wie mit klassischer Business Intelligence zum Beispiel über SQL-Statements aus Datenbanken erschlossen, sondern müssen über Crawler oder Parser, die speziell die Semantik der Eingabe erschließen, identifiziert werden. Auch das Aufbereiten der Daten unterscheidet sich vom klassischen ETL-Prozess, in dem Daten aus verschiedenen Quellen extrahiert, transformiert und in ein Data Warehouse geladen werden. Carolin Kaiser erklärt, wie die Daten erfasst und mit Methoden des Text Mining analysiert werden: "In einer Vorverarbeitungsphase, dem so genannten ‚Natural Language Processing’, analysieren wir die einzelnen Aussagen hinsichtlich ihrer Sprache und bringen sie in eine strukturierte Form". Die Sätze werden in einzelne Wörter zerlegt und auf Satzstruktur, Reihenfolge und grammatikalische Bedeutung hin untersucht.
In einer zweiten Phase werden Attribute vergeben, auf Basis derer die Systeme die Aussagen als positiv oder negativ einstufen können. Dafür setzt die Wissenschaft Methoden des maschinellen Lernens ein. Beim nicht überwachten Lernen werden der Maschine klare Regeln vorgegeben, nach denen sie Meinungen beurteilen soll. Etwa, dass "toll" für eine positive Einstellung steht und die Wortkombination "nicht toll" für eine negative. Bei der Methode des nicht überwachten Lernens leiten die Systeme solche Regeln selber ab. Dafür muss aber auch zunächst ein Mensch jeden einzelnen Satz als positiv oder negativ bewerten.
Netzwerke entlarven negative Meinungsführer
Nach der Analyse der Textinhalte werden in einer zweiten Stufe die Beziehungen zwischen den Forenmitgliedern analysiert. "Das heißt, wir schauen uns an, wer mit wem spricht und wie sich die Meinungen im Laufe der Zeit ändern", sagt Kaiser. Aus den einzelnen Forumsmitgliedern und ihren Beiträgen werden Beziehungsnetzwerke erstellt. Dann kann man anhand der Verbindungen schließen, wer wen beeinflusst, wo sich die Meinungsführer und wichtige Knoten im Netzwerk befinden. "Interessant ist auch, den Gesamttrend zu beobachten wie sich die Durchschnittsmeinung über die Zeit hinweg verändert", sagt Kaiser. Kennzeichnet man einzelne Benutzer farblich, zum Beispiel positiv eingestellte grün und negativ eingestellte rot, kann man sehen, wie sich die Meinungen im Netzwerk ändern, etwa ein negativer Meinungsführer aufkommt und andere überzeugt.
Frühwarnsystem schlägt Alarm
Ein Monitoring-Service behält die Netzwerke systematisch im Auge und beobachtet, ob eine entscheidungsrelevante Situation eintritt. Ein Frühwarnsystem schlägt proaktiv Alarm. Dann können die Unternehmen aktiv an der Schadensbegrenzung arbeiten, etwa Pressearbeit leisten oder eine Werbekampagne schalten. Wird ein Produkt nicht so gut angenommen, können Unternehmen auch analysieren, wie die Produkte der Konkurrenz in Foren und Blogs diskutiert werden. "Früher musste man künstliche Laborsituationen herstellen, um die Wahrnehmung von Produkten zu erfahren", freut sich Carolin Kaiser. "Heute können wir die Kunden im Web 2.0 direkt beobachten".
Im Fall Kryptonite wusste das Unternehmen schon früh über die negativen Beiträge aus der Bloggerszene Bescheid. Im Nachhinein sagt PR-Managerin Donna Tocci, sie hätte viel früher auf die Vorwürfe im Internet reagieren müssen. Heute - fünf Jahre später - ist den meisten Unternehmen bewusst, welche Macht Kunden und Nutzer im Web 2.0 über Foren, Wikis, Blogs und Communities ausüben können. Sie wissen, dass Meinungsführer zwar kostenlose Werbung für ein Produkt machen, seinem Image aber auch nachhaltig schaden können.