An einem Wochenende im Juli dieses Jahres war die größte Applikation der Munich Re samt dem angeschlossenen BI-System an der Reihe: Das SAP-Hauptbuch "RI-Admin" sowie das Global Data Warehouse wurden auf eine neue Plattform migriert. Rund zwölf Milliarden Datensätze mussten umziehen, knapp acht Terabyte Volumen. Der Transfer dauerte insgesamt 21 Stunden, verteilt auf drei Tage und Nächte. Es war der Höhepunkt eines Migrationsvorhabens, das in Europa seinesgleichen sucht: "Wir haben recherchiert und einfach kein größeres Projekt gefunden", sagt Andreas Thome, Abteilungsleiter IT bei Munich Re.
Die Anfänge des Vorhabens waren noch nicht von Aussicht auf Rekorde, sondern von einer einfachen rhetorischen Frage geprägt: "Muss das sein?", wollten der Vorstand und die Fachbereiche wissen, als Thome vor Jahren die Absicht beschrieb, die Client-Server-Architektur unter Unix durch Standard-Server unter Linux abzulösen. Drei Jahre habe er Überzeugungsarbeit geleistet, sagt der Manager heute, unterstützt von seinem internen Projektleiter Stefan Zahrer sowie von Experten im Konzern für Betriebssysteme, Datenbanken und SAP-Systemlinien. "Überzeugen", so ein Lerneffekt laut Thome, "können Sie nur im Verbund mit Kollegen."
Projekt - Munich Re zieht SAP auf Linux |
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Eine mutige Entscheidung
Drei Jahre intensiver Diskussionen: Weshalb Linux, was bringt das, und was bedeutet Open Source für die Stabilität, die Standardisierung, die Unabhängigkeit? Funktioniert das überhaupt? Hat das schon jemand gemacht, oder müssen wir die Ersten sein? Warum sollen wir eine funktionierende und etablierte Systemlandschaft mit geschäftskritischen Anwendungen auf eine komplett neue Infrastruktur umstellen?Schwer wog die Unsicherheit, seit jeher nicht gern gesehen bei Versicherungsgesellschaften. "Das Risiko war da, und es war groß", räumt Thome heute ein. Die Diskussion - "eine lange Auseinandersetzung" - ging quer durch das Unternehmen und die IT-Organisation. Heute, nach dem erfolgreichen Abschluss des Projekts, spricht der IT-Manager von einer "mutigen Entscheidung".
Schließlich bildeten die SAP-Anwendung RI-Admin und das Global Data Warehouse nur die Spitze des Eisberges. Sechs Stockwerke unter der Münchener Leopoldstraße, im Rechenzentrum von Munich Re, lief das vermutlich größte Migrationsvorhaben auf Linux in Europa ab. Der Konzern betrieb dort seine insgesamt 84 SAP-Anwendungen und Datenbanken auf acht voll ausgebauten Superdome-Servern von Hewlett-Packard (HP) und weiteren 30 Rack-Servern mit dem Unix-Derivat HP-UX. Die proprietären Rechner und das Betriebssystem waren nicht mehr zeitgemäß - heute zählen Konsolidieren, Standardisieren und Automatisieren.
Munich Re baut hierfür auf neue Blade-Server von HP und Fujitsu mit x86-Prozessoren von Intel (Xeon) beziehungsweise AMD (Opteron). Suse und Red Hat lieferten die Linux-Derivate, die Virtualisierungssoftware kam von VMware. Insgesamt hat Munich Re ein Datenvolumen von mehr als 100 TB migriert, Thome zufolge rund 100.000 Ausgaben der Encyclopedia Britannica oder 360 Millionen Digitalfotos. Acht Wochenenden waren für die Umstellung der wichtigsten Produktivsysteme reserviert, teilweise wurden vier SAP-System-linien pro Woche umgestellt. Die gesamte Migration erstreckte sich von Januar 2009 bis August 2010 - rund 20 Monate.
Mit den "Betroffenen", den Fachbereichen, mussten Zeitfenster für die Downtime ausgehandelt werden, ebenso die Beistellleistungen der Business-Seite. Und immer wieder kam die Frage auf: Können wir die Applikation nicht doch am nächsten Wochenende nutzen? Kompromisse habe es nicht gegeben, denn für einen eng gesteckten Umstellungsplan sei es fatal, wenn er an einer Stelle aus den Fugen gerät.
Hinzu kam, dass der normale Produktivbetrieb mit Weiterentwicklungen an der bestehenden Landschaft und Anpassungen der Applikationen in den Takt integriert werden musste. "Deswegen war das Zusammenspiel zwischen Entwicklern, der Infrastruktur und den Fachbereichen so wichtig", sagt Thome. Zudem galt es, den Outsourcing-Partner für den Server-Betrieb auf die Reise in die neue Welt vorzubereiten. Immerhin half mit Realtech ein auf SAP spezialisierter Dienstleister bei der Migration. "Den Abstimmungsaufwand haben wir wohl etwas unterschätzt", fasst Thome zusammen. Das habe einen simplen Grund: "Es gab zu wenige Erfahrungswerte." Referenzen waren Mangelware, an Best Practices war nicht zu denken. "Wir waren auf uns allein gestellt."
Technischer Fortschritt treibt an
Dennoch verteidigt er die Strategie, alles auf eine neue Karte zu setzen. Die grundsätzliche Entscheidung pro "Linux auf Standard-Servern" müsse im Kontext der Gesamtentwicklung gesehen werden, plädiert der Manager: "Im Jahr 2000 haben wir den letzten Großrechner abgeschaltet und waren damit komplett in der Client-Server-Welt. Das war die richtige Entscheidung - für unser Haus." Im Gegensatz zu Erstversicherern habe Munich Re eine breite Anwendungslandschaft durch alle Versicherungsdisziplinen. Für eine Erstversicherung könne der Großrechner laut Thome noch sinnvoll sein, wenn es um Massenverarbeitung geht: "Für uns gilt das aber nicht." Client/Server habe dem Konzern Synergie-Effekte ermöglicht, die hohen Großrechner-kosten wurden deutlich reduziert.
Der neuerliche technische Fortschritt lieferte dann auch einen entscheidenden Anlass für das Projekt: weiteres Sparpotenzial. "Die IT ist ja immer zu teuer, wenn der Fachbereich für die Betriebskosten aufkommen muss", sagt Thome, der es auch als seine Aufgabe ansieht, die Fachanwender zu beraten. Zeige man finanzielle Vorteile auf, sei die Business-Seite sofort interessiert. Das Einsparpotenzial, mit dem er lockte, konnte sich sehen lassen: rund neun Zehntel der früheren Investitionen für Server und Betriebssysteme, rund neun Zehntel der jährlichen Wartungskosten. "Da hatten wir in den Geschäftsbereichen einen Fuß in der Tür."
Baustelle wieder aufmachen
Hinzu kam der Anspruch der IT an die eigene Arbeit, mehr zu leisten als nur die Bereitstellung von Allgemeingütern: "Im Bereich IT-Infrastruktur haben wir auch Entwicklungs- und Designaufgaben über den reinen RZ-Betrieb hinaus", berichtet Thome. Daher wolle man sich in technischen Segmenten immer wieder selbst herausfordern und weiterentwickeln, um Neuerungen des Marktes zu prüfen und einzusetzen.
Der Anspruch ist nicht mit einem Projekt befriedigt: "2011 haben wir rund 1700 Windows-Server im Einsatz, davon sind 80 Prozent virtuelle Maschinen." Es müsse doch möglich sein, so Thome, über Virtualisierung auch im SAP-Segment Synergien zu nutzen. Die gerade geschlossene Baustelle wieder aufzumachen sei nicht das Problem: "Unsere neuen Maschinen können das, wenn wir das wollen." Entscheidend sei, ob die Applikationen fehlerfrei mit einer virtuellen Server-Welt zusammenarbeiten. Das werde gerade untersucht. Die erste Frage von Vorstand und Fachbereichen lautet vermutlich wieder: "Muss das sein?"