Eigentlich sollte die elektronische Gesundheitskarte schon längst zum Alltag der medizinischen Versorgung in Deutschland gehören. Eigentlich sollte sie schon längst die immer noch dominierende Krankenkarte ablösen, die lediglich eine Art Ausweis der jeweiligen Krankenkasse ist und nur zur Legitimation beim Arzt dient.
Eigentlich sollte mit ihr ein neues Zeitalter der digitalen Patienten- und Arztinformationen begonnen haben, das allen Beteiligten schnell und unkompliziert Notfalldaten, spezielle persönliche Daten und zumindest einen Teil der herkömmlichen, beim Hausarzt meist noch auf Papier festgehaltenen Krankheitsverläufe usw. zur Verfügung stellen sollte. Und eigentlich sollte sie so etwas wie die Vorstufe einer zukünftigen elektronischen Patientenakte darstellen, die einmal auch die klassischen Arztbriefe ersetzen sollte. Und dann sollte das ganze Projekt noch den unterschiedlichsten Ansprüchen an die Datensicherheit genügen.
Eigentlich. Doch die Praxis sah anders aus. Unzählige Streitigkeiten, Kompetenzrangeleien zwischen den Trägern des Gesundheitssystems und vielfache Testläufe in einzelnen Regionen endeten letztlich – je nach Standpunkt – im Stillstand oder Chaos.
Insofern schien es durchaus Sinn zu machen, als die neue Bundesregierung und ihr neuer Gesundheitsminister Philipp Rösler mit Beginn ihrer Amtsübernahme im Herbst 2009 erst einmal ein Moratorium und eine Bestandsaufnahme verordneten.
Letzter Versuch zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte
Anlässlich der Fachmesse für Healthcare-IT conhIT, die gerade in Berlin stattfand, wurden jetzt die ersten Ergebnisse der Bestandsaufnahme verkündet. In einer Presseerklärung der gematik, der Projektgesellschaft für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, heißt es: "Auf Basis der unterschiedlichen konstruktiven Vorschläge, die von Kostenträgern und Leistungserbringern im Laufe der Bestandsaufnahme eingebracht worden sind, hat die Gesellschafterversammlung die entscheidenden Festlegungen für das weitere Vorgehen der nächsten Jahre getroffen. Im Sinne von mehr Effizienz, Schnelligkeit und Reduzierung der Komplexität gibt es künftig eine klare Verteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten: Die Leistungserbringer werden die alleinige Verantwortung für die medizinischen Anwendungen übernehmen und die Kostenträger die alleinige Verantwortung für die administrativen Anwendungen."
Eigentlich wären dies alles Aufgaben der gematik als Dachorganisation gewesen. Was nun stattfindet nach einigen Jahren an Projektarbeit und einigen Millionen an Investitionen, wird als Neustart bezeichnet. De facto handelt es sich wohl um eine Aufsplitterung der Zuständigkeiten. So hat man sich jetzt darauf verständigt, drei Anwendungen einzuführen, mit denen "direkt beim Start ein Nutzen für alle Beteiligten erreicht" werden könne. So soll der GKV-Spitzenverband (Vertretung der Krankenkassen als Kostenträger) ab sofort die Einführung eines online gestützten "Versichertenstammdatenmanagements" verantworten, also für die administrative Ebene zuständig sein.
Die Bundesärztekammer als Vertretung der Leistungserbringer (Ärzte und Zahnärzte) soll sich in einem ersten Schritt um die Einführung eines Notfalldatensatzes auf der elektronischen Gesundheitskarte kümmern. Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wird es obliegen, die "adressierte Kommunikation der Leistungserbringer", womit der elektronische Arztbrief gemeint ist, zu organisieren.
Bezeichnend für die neue Konstruktion ist, dass gleich zu Beginn ein Schlichter für den Fall von aufkommenden Streitigkeiten bestimmt worden ist. Der ehemalige Staatssekretär Klaus Theo Schröder hat die Aufgabe, eine "Verbesserung der Entscheidungsstrukturen" zu garantieren. Offenbar gehen alle Beteiligten einschließlich der Bundesregierung davon aus, dass auch zukünftig Interessenskonflikte zwischen den unterschiedlichen Akteuren des Gesundheitssystems unvermeidlich sind.
Dies zeigt sich schon jetzt, denn es ist unklar, ob es zu einer verpflichtenden Mitarbeit aller Ärzte und medizinischen Institutionen, die eigentlich in einem elektronisch basierten Gesundheitswesen notwendig ist, kommen wird. Die Gesellschafterversammlung der gematik drückt das verklausuliert so aus: "Eine mögliche verpflichtende Online-Lösung wurde in der Sitzung ebenfalls thematisiert, ein Beschluss aber nicht gefasst. Die Kostenträger gehen davon aus, dass das Ministerium eine Gesetzesinitiative in die parlamentarischen Beratungen einbringen wird, die die Anforderungen nach Datensicherheit, Missbrauchsbekämpfung sowie die Forderung der Kostenträger nach einer Gültigkeitsprüfung und schnellen Aktualisierung der elektronischen Gesundheitskarte beim Leistungserbringer ebenso berücksichtigt wie die Freiwilligkeit der Leistungserbringer zur direkten Anbindung
ihrer Primärsysteme."
Inzwischen wird bereits darüber spekuliert, was der neue Anlauf für die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für die gematik, die bisher mit der Ausarbeitung und Durchführung des Konzepts betreut war, bedeuten könnte. Ihr könnte nun die zusammengestutzte Rolle eines bloßen ausführenden Arms der in ihr vertretenden Gesellschafter zufallen. Die Reform der Reform hat jedenfalls begonnen.