520.000 Packungseinheiten verlassen täglich die Produktionshallen von Boehringer Ingelheim: Allein 90.000 davon macht das Atemwegspräparat Spiriva aus - einer der drei Ingelheimer "Blockbuster" mit mehr als einer Milliarde Euro Umsatz jährlich. Jeweils sechs Kapseln mit 18 Mikrogramm des benötigten Wirkstoffs befinden sich eingeschweißt in so genannten Aluminiumblistern in einer Verpackung. Boehringer übernimmt die "globale Versorgung“ dieses Präparats - also die Produktion und den weltweiten Vertrieb.
Markus Klomann kennt die Tücken dieser Versorgung: Erst Ende letzten Jahres musste der Leiter des Lieferketten-Managements und der Logistik im Geschäftsbereich Produktion der Pharmasektion Chargen eines Medikamentes aufgrund einer Registrierungsänderung zurückhalten. "Die Neukalkulation hat nur ein paar Stunden gedauert“, sagt Klomann, der noch vor wenigen Jahren einige Wochen dafür benötigt hätte.
Bis 2002 beklagte der Logistikchef, dass die gelieferte Menge nicht immer zum Bedarf passte und die internen Prozesse nicht optimal aufeinander abgestimmt waren. Die Liefertreue lag bei 90 bis 92 Prozent, und auch die Umschlagshäufigkeit war zu niedrig. Grund genug für Boehringer, organisatorisch einzugreifen.
Matrixstruktur der Lieferprozesse
Der gelernte Industriekaufmann und Betriebswirt Klomann setzte zunächst eine Matrixstruktur der Lieferprozesse auf. Für jeden Teilprozess der Herstellung so genannter Inhaletten, Aerosolen oder Blistern bestimmt Klomann einen Querschnittsverantwortlichen, der einen Überblick über die Kapazitäten in Laboren, Produktion, Herstellung und Qualitäts-Management hat und Menge, Termine sowie Veränderungen in der Prozesskette im Auge behält.
In wöchentlichen Meetings treffen sich sämtliche an einem Produkt beteiligten Prozess-Manager und bringen sich gegenseitig auf den aktuellen Stand. "Um diesen Überblick über sämtliche Teilprozesse zu verbessern, brauchten wir bei einer Vielzahl der Artikel und Technologien eine technische Lösung“, sagt Klomann. Hierfür holte der Mann aus dem Fachbereich, der sich als Treiber sieht, auch CIO Hans-Gerhard Herrmann mit ins Boot, der mit Klomann zudem im Lenkungsausschuss für dieses Projekt sitzt.
Ziel war es, sämtliche Prozess-Schritte auf einen Bildschirm zu holen. Doch eine Nutzwertanalyse verschaffte Klomann zunächst eine Übersicht über den Status quo. Über die SAP-Systeme war das nur umständlich möglich. "Wir mussten bis zu 16 Bildschirme aufmachen, um eine Gesamtübersicht zu bekommen“, sagt Klomann, der sich unter drei Systemanbietern für den Lieferkettenspezialisten Wassermann entschied.
Umsatzbringer mit neuem IT-Tool
Für vier Prozessketten - unter anderem für Spiriva - ist heute ein IT-Tool im Einsatz, das sich wie eine Aggregationsschicht über die SAP-Systeme legt, die nötige Informationen aus Teilprozessen für Produkte zusammenträgt und übersichtlich darstellt. "Alle Stammdaten zieht sich die Software aus SAP - die Basisinformationen“, so Klomann. 180 Kollegen arbeiten heute mit dem neuen System, planen Kapazitäten, simulieren Szenarien und steuern schließlich die Ressourcen möglichst optimal aus. Knapp zweieinhalb Jahre brauchte Boehringer mit dem Kooperationspartner Wassermann, deren Software auf die Bedürfnisse des Pharmakonzerns abzustimmen. Zwölf Monate für die Erstellung eines Pflichtenheftes, die Anpassung der Software und die Implementierung hatten die Ingelheimer ursprünglich geplant - erst nach 36 Monaten allerdings war die neue Software einsatzbereit und validiert. "Diese Abschlussprüfung ist insbesondere in der Pharmabranche sehr wichtig“, erläutert Klomann, der nun in Echtzeit über den Stand der technologischen Prozesse Bescheid weiß. Die jährliche Kapazitätsplanung, also die strategische Planung, wickelt Boehringer nach wie vor über SAP R/3 ab, während die Grobplanung mit der Fertigungsplanung und Sicherstellung der Materialversorgung sowie die Feinplanung mit der Zuordnung von Maschinen und der Auftragsreihenfolgeplanung in der Matrixstruktur Sache des neuen Tool "wayRTS" ist. Informationen über Abweichungen vom Ausgangswert sendet SAP an das Tool zurück.
Prozess-Denke durch IT-Entwicklung
Dass die Entwicklung in der Boehringer’schen IT-Infrastruktur dreimal so lange gebraucht hat wie geplant, stört den Mann nicht, der seit mehr als 20 Jahren in Ingelheim in verschiedenen Logistikfunktionen tätig ist. Nach jeder Implementierung der inzwischen vier Produkte habe man etwas dazugelernt, meint Klomann.
Dabei war die Technik nicht einmal das einzige Neue: Mit der Produktion einen ganzen Teilbereich zur Prozess-Denke zu bewegen war die eigentliche Herausforderung. „Da kam uns die Zeit, die wir für die Entwicklung der Software länger gebraucht haben, sehr gelegen“, erinnert sich Klomann. Während in der Vergangenheit die Mitarbeiter der Verpackungslinie und die Mitarbeiter in der Produktion ihre eigenen Belastungsprofile für die Maschinen entwarfen und lediglich ihren Teilprozess sahen, ist der Blick über den Tellerrand des eigenen Arbeitsbereichs nicht nur nötig, sondern auch gefordert.
Innerhalb von zahlreichen Workshops haben die Mitarbeiter inzwischen so genannte Golden Rules entwickelt - einen Arbeitsmodus, in dem festgelegt ist, wie Bereiche zusammenarbeiten sollten. "Hier steht schwarz auf weiß, wie Informationen von einem an den anderen Bereich weiterzugeben sind“, erläutert Logistik-Manager Klomann, der seit der Einführung der Matrixstruktur daran arbeitet, das Denken in Prozessen im Fachbereich möglichst weit voranzubringen - denn nur dann ist die Akzeptanz eines neuen IT-Tools keine große Hürde mehr.