An der 16th Street Ecke 6th Avenue im New Yorker Stadtteil Manhattan steht plötzlich ein Mann. Er hat den Arm gehoben, und der Fahrer im Taxi lässt sich nicht lange bitten: Mit einem Schlenker fährt er von der Straßenmitte über zwei Spuren nach rechts, quer durch den Verkehr, um den Kunden zu bekommen. Der Taxifahrer schafft es ohne Unfall - der Passagier und seine Begleiterin verschwinden in dem gelben Wagen und fahren davon.
"Das ist sehr gefährlich, aber er hat Hunger", kommentiert Richard Chow, der selbst Taxi fährt, das Manöver. Taxifahrer müssen sich in Manhattan oft mit Fahrten begnügen, die wenig Geld abwerfen. Kurzstrecken etwa, oder einige dutzend Blocks nach Uptown oder Downtown. Mit Glück springt eine Fahrt in einen anderen Stadtteil oder zum Flughafen heraus, an sehr guten Tagen ein weiterer Kunde für die Rückfahrt. Seit die meist schwarzen Autos von Uber, Lyft und anderen Fahrdienstvermittlern die Stadt überfluten, wütet auf New Yorks Straßen der Kampf um Kunden, deren Dollars eine stetig wachsende Zahl an Fahrern ernähren müssen.
Chows Bruder ging in diesem Kampf die Luft aus. 700 000 Dollar hatte er für seine Taxi-Zulassung bezahlt, mehr als 600 000 Euro. Am Abend des 11. Mai verschwand Kenny Chow. Sein Wagen wurde an der Upper East Side gefunden - zwei Wochen später zog die Polizei seine Leiche unter der Brooklyn Bridge aus dem Wasser. Es war der fünfte Suizid eines New Yorker Taxifahrers in fünf Monaten, ein sechster nahm sich im Juni das Leben. Die Frau von Kenny Chow, deren Darmkrebs schon Metastasen gebildet hat, hält sich samt der Tochter mit Lebensmittelmarken über Wasser. Die Chows stammen aus China, ihre Gemeinde hat Spenden gesammelt.
Noch vor fünf Jahren galt das "Yellow Cab" als existenzsicherndes Ein-Mann-Unternehmen. Bis zu 1,3 Millionen Dollar war eine Zulassung im Jahr 2013 wert, etwa 1,1 Millionen Euro. Vor allem Einwanderer legten die Prüfung ab und ließen sich als Fahrer eintragen. Eine Zulassung sei ein Privileg gewesen, sagt Nino Hervias, der 1980 aus Peru immigrierte. "Wir wurden nicht reich, aber es ging uns gut", erinnert er sich. Nach 30 Jahren am Steuer habe man mit Würde in den Ruhestand gehen können. Ein Taxi in New York war der amerikanische Traum auf Rädern.
Hinzu kam der Kultstatus: "Taxifahrer beraten, trösten und verwirren buchstäblich, während sie durch den chaotischen Verkehr und die geschäftigen Massen in der größten Stadt des Landes flitzen", schreibt Graham Russell Hodges in seiner Sozialstudie "Taxi!". An der 5th Avenue den Arm zu heben und in ein gelbes Taxi zu steigen, glich von der Symbolkraft einer Fahrt in San Franciscos Cable Car oder einem Oldtimer auf Kuba. Die "Cabbies" dienten dabei wahlweise als Stadtführer, Schnell-Therapeuten, Alltagsphilosophen oder Kommentatoren der politischen Großwetterlage.
All das mag auch in Paris, London und Moskau gelten, oder in Tokio und Peking - der Job scheint redselige, weltoffene Typen anzuziehen. Aber in New York schwang auch das Image des coolen bis schrägen Außenseiters mit, der nachts als städtischer Cowboy allein durch die Hochhausschluchten rollt. Kaum jemand hat das besser festgehalten als Regisseur Martin Scorsese, der Robert De Niro im Film "Taxi Driver" als vereinsamten Antihelden mit aufgekratzter Seele zeigte. Der Kult zog sich bis zur Vermittlungsplattform Airbnb, wo 2016 ein Taxi als Unterkunft für Abenteuerlustige angeboten wurde.
Taxis werden zur Minderheit
Doch das goldene Zeitalter der gelben Autos färbt sich schwarz. Rund 80 000 Fahrer sind heute für Uber, Lyft, Juno und Via auf New Yorks Straßen unterwegs, dem stehen gut 13 500 städtisch regulierte gelbe Taxis entgegen. Selbst wenn ein Fahrer der sogenannten "For-Hire-Vehicles" (FHR) im Schnitt zwei Apps parallel nutzt, es tatsächlich also eher 40 000 Fahrer sind, übersteigen sie die Zahl der Taxis um das Dreifache. Im Juli 2017 meldete Marktführer Uber erstmals mehr Fahrten an einem Tag als die Taxi-Industrie. Deren Zulassungen werden inzwischen zu Schleuderpreisen verhökert.
"Nichts bewegt sich", schimpft Chow über die verstopften Straßen. "Der da ist Uber, das ist Uber, dort ist Uber", sagt sein Kollege, der die schwarzen FHR vom Rücksitz aus zählt. Auf einer einstündigen Fahrt sieht Chow fünf potenzielle Kunden den Arm heben, die besagten Apps zeigen an diesen Standorten je sieben oder acht Fahrer in ein oder zwei Straßenblocks Entfernung. "Manchmal fahre ich zwölf Stunden und habe gerade einmal 200 Dollar, um meine Rechnungen zu bezahlen. Wenn ich nicht genug Geld habe, fahre ich sieben Tage die Woche", sagt Chow.
Vor dem Rathaus hat sich die Wut seiner Kollegen aufgestaut. "Bewahrt die Taxis, rettet Leben!" und "Reguliert Uber jetzt!" skandieren die Fahrer vom Taxiverband NYTWA. Als Teil eines Gesetzespakets soll die Zahl der Zulassungen von Uber und Co. für ein Jahr gedeckelt werden, damit die Branche sich abkühlt. Es wäre die erste Regelung dieser Art in einer amerikanischen Großstadt. Am kommenden Mittwoch (8. August) will der Stadtrat abstimmen. Chow hat sich den Tag in einem kleinen Kalender markiert, der in seinem Taxi am Handschuhfach klebt.
In Stadt um Stadt, Land um Land schickt Uber seine Fahrer auf die Straße. 75 Millionen Kunden in über 65 Ländern nutzen die Dienste des einstigen Start-Ups aus San Francisco, das heute 16 000 Mitarbeiter und drei Millionen Fahrer beschäftigt. Seine Juristen durchpflügen Gesetze zur Personenbeförderung, PR-Strategen versuchen mit Werbekampagnen, die Stimmung zu ihren Gunsten zu drehen. Eine Wikipedia-Seite zählt unterdessen 41 Länder, in denen es Proteste, Rechtsvorschriften oder Gerichtsverfahren gegen Uber gab.
Für Deutschland schob ein Frankfurter Gericht 2015 einen bundesweiten Riegel vor, in abgespeckter Form ist Uber derzeit nur in Berlin und München aktiv und vermittelt Kunden an Taxis oder Mietwagenfahrer mit entsprechender Lizenz. Aber glaubt man Zeitungsberichten von der Digitalkonferenz DLD in München, auf der Uber-Chef Dara Khosrowshahi im Januar sprach, ist nach einem Rückzug aus Nordrhein-Westfalen ein neuer Anlauf in Düsseldorf und Köln geplant. Auch Hamburg und Leipzig werden auf der Uber-Firmenwebseite als Städte gelistet.
Medienschlacht
Im wichtigsten US-Markt New York City läuft die Marketingmaschinerie in diesen Tagen so richtig an, um das nahende Gesetzespaket zu stoppen. In einem neuen Werbespot sind Menschen - vor allem dunkelhäutige - zu sehen, die am Straßenrand erst kein gelbes Taxi bekommen und dann zufrieden in oder aus einem Uber steigen. "All das könnte verschwinden, wenn der Stadtrat sich durchsetzt", sagt eine Stimme, während die Autos auf der App-Landkarte weniger werden. In Geschäften unweit der Taxi-Demo sind die Spots über Lautsprecher im Radio zu hören.
Dass Taxifahrer Passagiere wegen ihrer Hautfarbe am Straßenrand ablehnten, bezeichnet Bhairavi Desai vom Verband NYTWA als "historische Realität". In der laufenden Kampagne will sie den Rassismus-Vorwurf aber nicht gelten lassen. "Uber spricht diese Themen an, um einer Konzernagenda zu dienen, nicht, um Bürgerrechte voranzubringen."
Was Desai nicht erwähnt: Viele Fahrer von Uber und anderen Diensten kratzen ebenso am Existenzminimum wie einige "Cabbies". In den USA kommen Uber-Fahrer dem Economic Policy Institute zufolge auf einen durchschnittlichen Erlös von 11,77 Dollar pro Stunde, in New York sind es 13 Dollar. Zur Einordnung: Eine Ein-Zimmer-Wohnung kostet in Manhattan oder Brooklyn im Schnitt etwa 2500 Dollar. Das Massachusetts Institute of Technology fand im Februar heraus, dass drei Viertel der Fahrer von Uber und Lyft in den USA weniger verdienen als den Mindestlohn ihres jeweiligen Staates. Nach Fahrzeugkosten machten 30 Prozent dieser Fahrer sogar Verluste.
In diesen Markt treten Woche für Woche Neulinge ein, die in der Kombination aus Auto, Führerschein und Smartphone ein lukratives Geschäftsmodell sehen. Der 52 Jahre alte Kazi Haque aus Bangladesch zum Beispiel, der neuerdings sieben Tage die Woche je sieben bis zehn Stunden fährt. Oder Joginder Singh aus Indien, der seit zwei Monaten für Uber unterwegs ist. Singh - Turban, weißer Krausbart und zerfurchtes Gesicht - ist 70 Jahre alt. Im Seminar der Gewerkschaft IDG hoffen Fahrer wie er und Haque auf Tipps, um ihre Bewertung in der App zu verbessern und mehr Kunden an Land zu ziehen.
"Dies ist euer eigenes Unternehmen, behandelt es wie euren eigenen Laden", redet Seminarleiter Sohail Rana auf die Teilnehmer ein. Soll heißen: Seid höflich, fahrt ordentlich, lasst den Kunden über Musik und Temperatur im Wagen entscheiden. Haltet das Auto und euch selbst sauber. "Duschen, Ohren reinigen, Deodorant benutzen, Zähne putzen" - es ist ein kleiner Crashkurs in Körperpflege. Und ein "Hi, how are you?" sei immer besser als Schweigen. Ein Mann fragt, wie er Uber Fotos schicken und sich Reinigungskosten erstatten lassen kann, wenn ein Kunde sich auf dem Rücksitz erbrochen hat.
Falsche Hoffnungen
Fahrdienst-Neulinge machten sich oft falsche Hoffnungen, sagt Rana, der seit fast fünf Jahren für Uber fährt. "Als neuer Fahrer wirst du nicht überleben." Denn nach ein paar schlechten Bewertungen ploppten im System die ersten Warnungen auf, schon mit einem Rating von 4,6 aus möglichen 5,0 Punkten könnten Fahrer vorübergehend gesperrt werden. "Diese Unternehmen machen falsche Versprechen darüber, dass man 1500 oder 2000 Dollar pro Woche verdienen kann", sagt Rana.
Ein Mindestlohn von 17,22 Dollar pro Stunde, wie der Stadtrat ihn für die App-Fahrer vorsieht, könnte die Wogen glätten. Finanzieren müssten diese extra Kosten aber die Anbieter - durch höhere Fahrpreise und eine geringere Kommission. Uber, Lyft und Via wollen das unbedingt verhindern - und boten der Stadt einem "Buzzfeed"-Bericht zufolge einen Hilfsfonds von 100 Millionen Dollar für klamme Taxifahrer an. Bürgermeister Bill de Blasio lehnte ab.
In Queens ist es noch dunkel, als Roger Rodriguez sich ans Steuer setzt. Um 3.30 Uhr ist der Dominikaner aufgestanden, eine 15-Stunden-Schicht im Taxi hat er an diesem Morgen vor sich. Er will rüber zur Upper East Side, dort müsse meist ein "Money Guy" ins Büro oder zum Flughafen. Um sein Auto stehen reihenweise leere Taxis, nur eine Handvoll Fahrer haben sich zum Dienst gemeldet.
Zu Uber will Rodriguez trotz harter Zeiten nicht. "Ich bin ein Yellow Guy", ein "gelber Typ", wie er sagt. "Wenn du etwas seit fast 20 Jahren machst, würdest du einfach aufhören und zum Gegner wechseln?" Und dann fährt er los. (dpa/ad)