Im Sommer 1987 bekam der amerikanische Marketingprofessor Morris Holbrook Besuch von seinem Kollegen Robert Schindler. Abends sprachen sie über ihre Lieblingsmusik. Schindler, Jahrgang 1949, liebte die Beatles. Holbrook, Jahrgang 1943, verehrte den Jazzmusiker Nat "King" Cole. Aber warum? Daraufhin kramten Holbrook und Schindler 28 Lieder hervor, die in den vergangenen fünf Jahrzehnten in der US-Hitparade gestanden hatten. Diese Stücke spielten sie 108 Personen im Alter zwischen 16 und 86 vor. Jedem Lied lauschten die Probanden 30 Sekunden lang. Im Anschluss sollten sie ankreuzen, wie ihnen jedes Stück gefallen hatte. Alle gaben Liedern aus ihrer Jugend die meisten Punkte. Die Nostalgie gewann.
Holbrook und Schindler verstehen darunter "eine Vorliebe für Objekte, die verbreitet waren, als man selbst noch jünger war". Produkte und Dienstleistungen, Musik und Filme. Mal haben wir uns am Kiosk Lakritzschnecken gekauft, mal haben unsere Eltern uns Spielzeug von Playmobil geschenkt. Egal wie wir mit den Produkten konfrontiert wurden: Wenn sie damals Gefühle wie Glück, Wärme oder Geborgenheit auslösten, bleibt diese Verbindung bestehen. Die Folge: Wir kaufen und konsumieren noch heute am liebsten das, was wir als Kinder und Jugendliche schon gekauft und konsumiert haben.
Vertrauen in Marken
Umfragen zeigen: Erwachsene haben besonders großes Vertrauen in jene Marken, die sie schon lange nutzen - oder von Eltern und Großeltern kennen. Wer als Kind in Papis Passat-Kombi saß, wird sich darin auch heute noch sicher fühlen. Oma träufelte Maggi in die Suppe, Mama verabreichte im Krankheitsfall Brandt-Zwieback. Deshalb fungieren Marken als nostalgische Erinnerungsträger. Hinzu kommt: Wir kaufen sie nicht nur für uns selbst, sondern empfehlen sie weiter. Das macht Nostalgie zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor.
"Das Geschäft mit der Sehnsucht" titelte "Der Spiegel" am 29. Januar 1973 und berichtete von einem Trend. "Die Kulturstimmung von heute heißt Nostalgie und ist von gestern: Mode und Musik, Film und Literatur beleben wieder oder machen neu, was zwischen den zwanziger und fünfziger Jahren beliebt war, und die Industrie verdient an dieser Sehnsucht nach Vergangenem." Das gilt heute mehr als je zuvor. Davon ist der Schweizer Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber überzeugt. Verantwortlich sei vor allem der Fortschrittsglaube der Nachkriegsjahrzehnte. "Je schneller sich die Umwelt wandelt, umso größer ist das Bedürfnis der Menschen nach Fixpunkten", sagt Leimgruber.
Gerne Bewährtes
Nostalgie ist so mächtig, weil wir gerne auf Bewährtes zurückgreifen. Bekannte Marken und Produkte bieten Sicherheit. Kein Produkt macht den Einfluss der Nostalgie im Konsumbereich so sichtbar wie ein Auto – und zeigt, wie subtil die Macht der Erinnerungen bisweilen funktioniert.
Egal ob der Mini von BMW, der New Beetle von Volkswagen, der Mustang von Ford, der Chrysler PT oder der Mercedes-Sportwagen SLS AMG: Viele erfolgreiche Neuwagen erinnern an Vorgänger aus vergangenen Jahrzehnten. 1989 stellte Mazda das erste echte Retroauto vor, den MX-5. Er wurde zum meistverkauften Roadster der Welt. Nicht obwohl, sondern weil er dem Lotus Elan aus den Sechzigerjahren ähnelte. Im November 2012 lief das millionste Exemplar des neuen Fiat 500 vom Band. Die Erstversion hatte der Autobauer bereits 1957 herausgebracht, 50 Jahre später präsentierte er die Neuauflage. Der Wagen wird in mehr als 100 Ländern weltweit verkauft. Retrodesign, glauben Experten, macht sich die menschliche Sehnsucht nach weichen Formen zunutze. Und solche Nostalgiekäufe wirken therapeutisch. Sogar messbar.
Hat man die Wahl, wählt man das Bewährte
Katherine Loveland von der kanadischen Wirtschaftsuniversität HEC Montréal setzte vor einigen Jahren Hunderte von Freiwilligen vor einen Computer. Dort sollten sie an einem Spiel namens Cyberball teilnehmen. Darin werfen sich die Probanden virtuell einen Ball zu – mit anderen, real existierenden Personen.
Der Clou ist: Die Mitspieler gibt es gar nicht. Die Wissenschaftler haben das Spiel vorab manipuliert. Bei der einen Gruppe wird der virtuelle Spielball in jedem Durchgang relativ gerecht aufgeteilt. Jeder kommt mal dran, alle sind zufrieden. Doch die Mitglieder der zweiten Gruppe bekommen den Ball nur selten zugeworfen. Sie müssen zusehen, wie die anderen sich den Ball hin- und herpassen - und fühlen sich ausgeschlossen. Schon die Entwickler des Spiels konnten zeigen, dass diese Manipulation die vermeintlichen Außenseiter beeinflusst. Je seltener sie den Ball bekommen, desto eher fühlen sie sich niedergeschlagen. Genau dieselbe Reaktion zeigten Lovelands Probanden.
Neigung zu nostalgischen Produkten
In der zweiten Runde zeigte sie ihnen Produkte. Die einen waren nostalgische, die nicht nur in der Vergangenheit beliebt waren, sondern es heute immer noch sind. Die anderen gab es erst seit Kurzem. Nun sollten sich alle Freiwilligen auf eine Lieblingsmarke festlegen. Mal konnten sie zwischen Duschgel von Nivea oder Dove wählen, mal zwischen einem VW Käfer oder einem Smart. Die Probanden aus der Außenseitergruppe wählten mit großer Mehrheit das Nostalgieprodukt – meist doppelt so häufig wie jene aus der anderen Gruppe. Je stärker das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, desto stärker die Neigung zu nostalgischen Produkten.
Schon der legendäre Sozialpsychologe Abraham Maslow war davon überzeugt, dass der Mensch einige zentrale Wünsche hat. Am wichtigsten sind elementare physiologische Bedürfnisse wie atmen, essen und schlafen. Sind sie erfüllt, streben wir nach Sicherheit. Ist auch das erreicht, begehren wir Anschluss. Wir sind nicht dafür gemacht, unser Leben alleine zu verbringen. Als soziale Wesen wollen wir geschätzt und gemocht werden. Lovelands Studie legt nahe: Dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit lässt sich durch den Konsum nostalgischer Produkte stillen.
Brücke zu Erinnerungen
Mit ihnen bauen wir uns eine gedankliche Brücke zu Erinnerungen. Und je stärker wir uns ausgeschlossen oder abgelehnt fühlen, desto größer ist dieses Verlangen. Das bestätigt auch Ulrich Orth, Marketingprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: "Konsumenten ,kaufen‘ sich positive Gefühle. Deshalb prägen schöne Erinnerungen Konsumentscheidungen." Für Orth ist die Stimmung Ursache und Folge zugleich. Demnach greifen Konsumenten vor allem bei schlechter Laune zu nostalgischen Produkten - und dieser Kauf verbessert die Laune.
Davon profitieren in Deutschland zahlreiche Branchen. Im April 2012 verkündete der Verlag Egmont Ehapa, das Kinder- und Jugendheft "Yps" wiederzubeleben. Seinen Kultstatus verdankt es vor allem den Spielzeugen auf dem Cover. Diese Gimmicks durften bei der Neuauflage nicht fehlen: Als Schmankerl gab es die beliebten Urzeitkrebse. Immerhin 5,90 Euro kostete das Heft, doch der hohe Preis konnte die Fans nicht abschrecken: Die 120.000 Exemplare waren innerhalb weniger Tage ausverkauft.
Die Macht schöner Erinnerungen
Das produzierende Gewerbe nutzt die Macht schöner Erinnerungen gleichfalls. Die 1952 gegründete Getränkemarke Bluna kam ebenso zurück wie Afri-Cola aus dem Jahr 1931 oder Sinalco, die schon 1907 verkauft wurde. Eltern kaufen Elefanten-Schuhe, Kinder schütten Ahoj-Brause ins Wasserglas.
Wie diese Retrowelle zustande kommt und welche Marken auf ihr schwimmen können – das sind Fragen, mit denen sich der Marketingprofessor Stephen Brown von der nordirischen Universität von Ulster beschäftigt. Zum einen sei sie eine Nebenwirkung des demografischen Wandels, meint Brown. Wenn der Anteil älterer Menschen steigt, erinnern sich mehr Menschen an die Produkte ihrer Jugend. Dies betrifft vor allem die geburtenstarke und kaufkräftige Generation der Babyboomer. Sie kamen etwa zwischen 1946 und 1964 auf die Welt. Eine Periode, die geprägt war von guten Nachrichten, inklusive Wirtschaftswunder, Wachstum und Vollbeschäftigung. Deshalb sieht Brown sie als prädestiniert für den sentimentalen Blick in den Rückspiegel. Sie sehnten sich nach den vermeintlich einfacheren und besseren Zeiten, inklusive der damaligen Produkte. Früher gab es noch keine Billig- und Massenware. Deshalb haftet Gegenständen der Vergangenheit der Ruf an, authentisch und hochwertig zu sein. Doch mit diesem Image lassen sich nicht nur Senioren ködern, sondern auch Jugendliche.
2009 brachte der Getränkekonzern Pepsi Retrodosen auf den Markt, deren Design an die Siebziger- und Achtzigerjahre angelehnt war. Die Aktion sollte ein zeitlich begrenzter Werbegag sein. Doch bei jüngeren Konsumenten kamen die Dosen gut an. Kurios: Jene kauften in den Achtzigern keine Pepsi-Produkte, weil sie zu klein oder noch nicht auf der Welt waren. Trotzdem erhielt das Unternehmen Hunderte euphorischer E-Mails. Der Konzern reagierte und startete bei Facebook einen Wettbewerb. Er bat die Nutzer darum, Fotos einzusenden, auf denen sie Produkte ihrer Kindheit mit Pepsi-Dosen kombinierten. Innerhalb weniger Monate hatte die Seite knapp 150.000 Fans. Shiv Singh, bei Pepsi zuständig für die Digitalstrategie, war wenig überrascht: "Menschen um die 20 finden Retro cool, weil es ihrem Bedürfnis entspricht, ein einfacheres, saubereres und authentischeres Leben zu führen. Viele nutzen Dienste wie Facebook, Instagram oder Twitter, um sich eine eigene Identität zu verpassen. Nostalgie ist eine gute Methode, um sich abzuheben."
Die Aktion erreichte allerdings noch mehr: Sie kurbelte auch den Verkauf der anderen Produkte an und brachte dem Konzern neue Kunden. Deshalb entschied sich Pepsi 2011, die Dosen permanent ins Sortiment zu übernehmen.
Nostalgie öffnet die Portemonnaies. Zu dieser Erkenntnis gelangte 2012 die Psychologin Jannine Lasaleta von der Universität von Minnesota. In fünf Experimenten teilte sie knapp 500 Personen in zwei Gruppen. Die eine wurde bewusst auf Nostalgie gepolt. Sie sah zum Beispiel eine nostalgische Werbung, die sie dazu aufforderte, an besondere Erlebnisse mit anderen Menschen zu denken. Die zweite Gruppe sollte an die Zukunft oder banale Ereignisse denken.
Erinnerungen verändern offenbar das Verhältnis zu Geld
Danach erhielten beide Gruppen dieselbe Aufgabe. Mal sollten sie angeben, welche Summe sie für Produkte ausgeben wollten, darunter Autos und Fernseher. Mal sollten sie entscheiden, wie viel Geld sie mit Fremden teilen würden. In jedem Experiment war die Nostalgiegruppe spendabler. Offenbar veränderten die Erinnerungen das Verhältnis zu Geld.
Lasaleta glaubt: Wer sich nostalgisch fühlt, empfindet sein Leben als bedeutsamer. Und in diesem Zustand sind uns egoistische Motive wie Reichtum und Wohlstand unwichtiger. Nostalgie verringert also die Bedeutung von Geld. Dann sind wir nicht nur dazu bereit, für andere Menschen mehr Geld auszugeben, sondern ebenfalls für Produkte. Schön sind sie, die guten alten Zeiten. Und das lassen wir uns gerne etwas kosten.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch des WirtschaftsWoche-Redakteurs Daniel Rettig: "Die guten alten Zeiten - Warum Nostalgie uns glücklich macht" (dtv 2013, 14,90 Euro) - hier können Sie das Buch bestellen.
(Quelle: Wirtschaftswoche)