Europäische Unternehmen setzen zunehmend auf Off- und Nearshoring. In diesem Bereich schwebt Indien mit einem Exportumsatz im Bereich Software und IT-Services in Höhe von 24 Milliarden US-Dollar in 2005 nach wie vor in anderen Sphären, auch wenn andere Regionen zunehmend in den Fokus gelangen. Länder wie Russland (eine Milliarde Dollar), Polen (220 Millionen Dollar), Ungarn (150 Millionen Dollar) und Rumänien (60 Millionen Dollar) sind noch weit davon entfernt, Indien von seinem Thron zu stoßen.
Dass Länder in Osteuropa und der GUS zunehmend als Alternative zum Subkontinent gesehen werden, ist auch darauf zurück zu führen, dass die indische IT-Wirtschaft zunehmend unter Druck gerät (Siehe auch dieser Artikel). So müssen sich dortige Unternehmen zunehmend mit einer stetig wachsenden Mitarbeiterfluktuation auseinandersetzen.
Obwohl indische Universitäten jährlich etwa 300.000 IT-Ingenieure und Programmierer ausbilden, hat die Wechselrate bei den Mitarbeitern im IT-Sektor inzwischen 30 bis 35 Prozent erreicht. Zudem behindern auch erhebliche Mängel bei der Infrastruktur wie etwa der Energieversorgung, Straßen und Flughäfen die weitere Entwicklung. Metropolen wie Bangalore, Chennai, Heyderabad und Mumbai stehen kurz vor dem Kollaps. Ebenso macht eine anhaltend hohe Gehaltsinflation aufgrund der steigenden Nachfrage an IT-Fachkräften zu schaffen. Diese wirkt sich selbstverständlich auch auf die Tagessätze aus. Indische Anbieter berichten, dass allein die Gehälter durchschnittlich um 15 bis 20 Prozent gestiegen sind.
Osteuropäer leiden unter mangelnder Skalierbarkeit und Expertise
Die Erhöhung der Tagessätze ist allerdings ein Problem, dem sich zunehmend auch die neuen EU-Mitgliedsstaaten stellen müssen. Doch während in Indien die Gebühren als Folge des aufgeheizten Marktes steigen, wachsen sie in Ungarn, Polen oder Tschechien aufgrund der mit der Integration in die EU einhergehenden Steigerung der Lebenshaltungs- und Mietkosten an. Zudem wird sich zukünftig auch eine anwachsende Fluktuation bei den Mitarbeitern negativ auswirken.
Dem entgegen sind die Lohn- und Tagessätze in den potentiellen EU-Ländern und der GUS - dort mit Ausnahme der Metropolen wie Sankt Petersburg und Moskau - weitgehend stabil. Des Weiteren kämpfen die osteuropäischen Länder damit, dass der Markt noch sehr heterogen und fragmentiert ist. Unter den Anbietern mangelt es an lokalen Champions und selbst führende Unternehmen haben nicht mehr als 1.500 Mitarbeiter. Zudem sind die IT-Lösungen oft nicht ausreichend skalierbar und, da sie meist individuell entwickelt wurden, auch nicht mehrfach einsetzbar.
Außerdem sind die Unternehmen in den Herkunftsländern ihrer potentiellen Kunden wenig bekannt. Die meisten Anbieter vertrauen daher auf Vertriebspartner, die ihre Services in den Zielregionen verkaufen. Eine direkte Go-To-Market-Strategie stellt sich für sie meist als größte Herausforderung dar, nicht zuletzt weil diese mit hohen Kosten verbunden ist. Warum sollten sich Kunden dann dennoch für EU-Staaten als Off- oder Nearshoring-Region entscheiden?
Die Situation in den Ländern verändert sich: Internationale Konzerne investieren stark in der Region. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Zum einen möchten sie von den noch geringen Lohnkosten profitieren. So hat der Dienstleister EDS kürzlich bekannt gegeben, seine Mitarbeiterzahl in Ungarn zu verdoppeln und bis zum Jahr 2009 etwa 50 Millionen Dollar zu investieren.
IBM Global Services und HP haben im vergangenen Jahr ihre Aktivitäten in Osteuropa ausgebaut, während sie diese gleichzeitig in Westeuropa heruntergefahren haben. Andere Unternehmen setzen auf ihre Kernkompetenzen. So hat Intel 1.200 Mitarbeiter in Russland - hauptsächlich im Bereich des internen "Research & Developments" - eingestellt.
Zunehmend dient die Region aber auch als Brückenkopf für den “Global Delivery-Ansatz”. Die fünf großen indischen Anbieter sind zum Beispiel in Budapest oder Prag aktiv, um von dort aus den Westeuropäern Nearshoring-Services anzubieten.
Nicht nur aus den genannten Gründen gelangen die osteuropäischen Regionen zunehmend auch in den Fokus hiesiger Entscheider. Hinzukommt noch, dass die Geschäftspartner geografisch näher und daher auch in derselben oder einer ähnlichen Zeitzone liegen. In der Regel ist es einfach, diese Regionen schnell zu erreichen. Zudem besteht eine kulturelle Affinität und in den Unternehmen wird neben Englisch häufig noch Deutsch oder Französisch gesprochen. Für die Mitgliedsstaaten der EU spricht zudem, dass sie sich im gleichen rechtlichen Rahmen bewegen.
Was müssen Kunden bedenken?
Kunden sollten prüfen, ob sie statt einer Offshoring- eine Nearshoring-Strategie entwickeln. Eine Entscheidung für Nearshoring kann helfen, Risiken zu minimieren, die möglicherweise durch die Überhitzung des indischen IT-Sektors erwachsen könnten. Bei der Vorgehensweise geht es aber nicht um eine Entscheidung zwischen Nearshore und Offshore, sondern darum, die besten Ressourcen für den richtigen Preis und am passenden Ort zu finden.
Unternehmen sollten mehr in Sphären des "Global Sourcings" denken. In diesem Bereich ist die Hauptherausforderung meist firmenintern zu suchen. IT-Entscheider müssen an der Bereitschaft im Unternehmen arbeiten, bevor sie sich für Off- oder Nearshoring entscheiden. Dabei sollten sie aber stets bedenken, dass die Kostenvorteile in Osteuropa zunehmend verschwinden werden, wenn diese Märkte in der EU integriert sind. Mit diesem Problem werden diese Länder - die erhebliches Potential haben - zukünftig am meisten zu kämpfen haben.
Pascal Matzke ist Principal Analyst bei Forrester Research.