Unter den Schlagwörtern Offshore und Nearshore wurde gerade in den letzten beiden Jahren das Aussterben der IT-Service-Industrie in Deutschland heraufbeschworen. Vor allem das Beispiel Textilindustrie wird hier immer wieder gerne angeführt, in welcher im Zeitraum 1991-2001 knapp 60 Prozent der Arbeitsplätze gestrichen oder in das Ausland verlagert wurden.
Aus PAC-Sicht handelt es sich bei Off- und Nearshore keineswegs um ein absolut neues Phänomen, das erst während der vergangenen beiden Jahre entstanden ist. So verfolgen die US-amerikanischen Anbieter von IT-Services wie IBM, CSC, Accenture, EDS oder HP bereits seit mehreren Jahren so genannte Global-Sourcing-Strategien bei ihren Delivery-Konzepten. Dabei handelt es sich um nichts anderes als die Berücksichtigung internationaler Ressourcen für die Projektabwicklung. Vor allem Indien hat sich in den vergangenen Jahren zur bevorzugten Offshore-Nation entwickelt. Gründe hierfür sind gute Ausbildung, vorhandene Englischkenntnisse, gemeinsame Standards wie ITIL oder CMM und – wie es anfänglich schien – schier unerschöpfliche Ressourcen.
Europa setzt auf Nearshore
Auch in Europa ist die Offshore/Nearshore-Thematik nicht vollkommen neu. Während der Hype-Phase (Y2K, e-Business, Euro-Umstellung) haben die kontinentaleuropäischen Anbieter bereits auf Offshore/Nearshore-Ressourcen oder -Partner zurückgegriffen. Allerdings nicht um Kosten zu sparen, sondern vor dem Hintergrund eines akuten Fachkräftemangels.
Im Vergleich zu den US-amerikanischen Anbietern haben sich die europäischen Firmen bereits damals eher auf den osteuropäischen Raum fokussiert – also den Nearshore-Ansatz. Hauptgründe dafür waren sicherlich räumliche Nähe und geringere kulturelle Unterschiede im Vergleich zu Indien. Und nach wie vor tun sich die großen indischen Anbieter von IT-Services schwer, gerade im "alten Europa“ Fuß zu fassen. Dagegen boomt die Nearshore-Alternative und das trotz niedrigerer Einsparpotenziale.
Stehen sich also in Deutschland mit Offshore und Nearshore zwei konkurrierende oder komplementäre Konzepte gegenüber? Grundsätzlich zweifelt mittlerweile kaum noch ein IT-Entscheider daran, dass Offshore/Nearshore bei den westlichen Anbietern von IT-Services zu einem festen Bestandteil der Delivery-Konzepte wird, oder bereits geworden ist. Bei vielen Anbietern stellt sich aber nun die Frage nach ihrer globalen Delivery-Strategie. Sollen eigene Ressourcen aufgebaut werden oder sollte man mit Partnern zusammenarbeiten?
Der Aufbau eigener Ressourcen stellt zunächst einmal eine Investition und ein Risiko dar. Mit Partnern läuft man allerdings Gefahr, sich potenzielle Wettbewerber in den Heimatmarkt zu holen. Außerdem können Partner nicht so gut gesteuert werden wie eigene Ressourcen.
Globale Delivery-Konzepte sind gefragt
Aus PAC-Sicht lohnt es sich für die IT-Service-Anbieter in jedem Fall in eigene Ressourcen zu investieren. Es handelt sich bei Offshore/Nearshore nicht um ein kurzfristiges Phänomen, sondern um einen weiteren Schritt im Reifeprozess der IT-Service-Industrie. Große Anbieter brauchen unbedingt globale Delivery-Konzepte um wettbewerbsfähig zu bleiben. Das gilt umso mehr für die kontinentaleuropäischen IT-Unternehmen.
Die US-amerikanischen Anbieter sind hier bereits in ihrer Entwicklung zwei bis drei Jahre weiter. Anders verhält es sich mit den kleinen Spezialisten bzw. Nischenanbietern sowie mit den regionalen Anbietern; da überwiegen die Kundennähe und die persönliche Beziehung. Wenn aber in eine globale Delivery-Strategie investiert werden soll, stellt sich die Frage nach dem "Wo?". Aus deutscher Sicht, ist es ratsam zunächst in Nearshore-Ländern zu investieren. Trotzdem darf dabei in einem zweiten Schritt eine weitere Internationalisierung in der Delivery-Strategie nicht aus den Augen verloren werden. In einem ausgereiften Konzept sind Offshore und Nearshore komplementäre Elemente.
Neben den Fragen nach dem "Wie?" (eigenständig oder mit Partnern) und "Wo?" (Offshore oder Nearshore) stellt sich auch die Frage nach dem "Was?"! Grundsätzlich eignet sich Offshore/Nearshore in unterschiedlicher Art und Weise für fast alle Formen von IT-Projekten sowie für die Betriebsphase (einschließlich Application Management und BPO). So benötigt z.B. ein Software-Entwicklungsprojekt in seinen einzelnen Phasen (Studie, Spezifikation, Konzeption, Realisierung, Einführung, Wartung) in unterschiedlicher Intensität fachliches Spezial-Know-How vor Ort (beim Kunden).
Damit steigen oder sinken aber auch die neben den reinen Personalkosten anfallenden Komplexitätskosten (Abstimmungsbedarf & Kommunikationsintensität mit dem Kunden bzw. mit Offshore/Nearshore Ressourcen, Integrationsaspekte, Verständnis der lokalen Branchengegebenheiten, usw.). Davon ist wiederum abhängig in welcher Intensität globale Ressourcen für die Delivery herangezogen werden, um dem Kunden ein Optimum an Qualität und Preis anbieten zu können.
Selektives Off- und Nearshoring gewinnt an Bedeutung
Noch einmal: Offshore/Nearshore ist keine kurzfristige Erscheinung. Szenarien wie in der Textilindustrie – hinsichtlich der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt – sind aber aus unserer Sicht eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist eine Entwicklung ähnlich jener der Automobilindustrie, in welcher in der ersten Hälfte der 90er Jahre zwar 20 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut oder verlagert wurden, in der zweiten Hälfte jedoch wieder 14 Prozent neue Stellen geschaffen wurden.
Voraussetzung hierfür ist aber auch ein Umdenken in der Ausbildung der deutschen Fachkräfte. Diese muss sich stärker danach richten, welche Leistungen in Zukunft "on-site", also direkt beim Kunden nachgefragt werden (z.B. Projektleitung, Prozessberatung, "Übersetzen“ der Business Anforderungen in die "IT Sprache“, usw.) und welche Leistungen immer mehr als Commodity und verstärkt "off-site" (z.B. Anwendungsentwicklung, Betreuung, usw.) nachgefragt werden.
Tobias Ortwein ist Senior Consultant beim Marktforschungs- und Beratungsunternehmen PAC.
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