Unter dem Label Industrie 4.0 treiben viele Unternehmen spannende Projekte voran. Doch oft enden sie an der Unternehmensgrenze, wenn es darum geht, physische Güter von A nach B zu transportieren. Dabei verlangt aber gerade Industrie 4.0, sich über die eigenen Grenzen hinweg zu vernetzen. "Industrie 4.0 kann nur existieren, wenn es auch Logistik 4.0 gibt", spitzt Bernhard Simon, CEO von Dachser, zu.
"Logistik ist die am schlechtesten verstandene Disziplin"
Seiner Ansicht nach hat sich das jedoch noch nicht genügend herumgesprochen. "Logistik ist die am schlechtesten verstandene Disziplin der Betriebswirtschaft", behauptet Simon. "So wie in der Logistik alles mit allem zusammenhängt, gibt es das in anderen Industrien nicht."
Um den Warentransport über Straßen, in der Luft und auf See kümmert sich die Dachser SE aus Kempten im Allgäu schon seit 1930, als Thomas Dachser das Speditionsunternehmen gründete. Anfang 2005 trat der Enkel Bernhard Simon an die Unternehmensspitze. In den 86 Jahren seit der Gründung veränderte sich das Transportwesen immer wieder grundlegend. Doch die Qualität von Logistik 4.0 ist etwas ganz Neues, sie liegt im intensiven firmenübergreifenden Datenaustausch.
Datenströme machen an den Warenrampen Halt
Logistikunternehmen haben schon immer intensiv IT eingesetzt. Neu ist heute, dass alle am Prozess Beteiligten die Daten nutzen können. Bislang machten die Datenströme meist an den Warenrampen der Kunden Halt, was der Planung von Transporten Grenzen setzte. Besser wäre es, wenn der Spediteur schon frühzeitig Informationen über etwaige Planabweichungen erhielte, meint Simon. "Wenn ein Kunde beim Kommissionieren in Verzug gerät, bekommen wir die Information von seinem Warenwirtschaftssystem schon einen Tag früher. So können wir unsere Systeme rechtzeitig steuern und kalibrieren."
Zugleich mit diesen Kundeninformationen kann der Logistikdienstleister prüfen, wie sich Wetter und Frachtmarkt entwickeln und ob beispielsweise eine Vier-Tage-Woche bevorsteht. Daraus lassen sich mögliche Kapazitätsengpässe ableiten. "So können wir rechtzeitig entscheiden, ob es sinnvoll ist, unseren Verkehrs- und Verladeplan einzuhalten oder umzuplanen, um keine Ressourcen zu verschwenden", sagt Simon.
Unternehmen öffnen ihre System nur zaghaft
Noch kommt es allerdings nicht allzu oft vor, dass Dachser auf solche Frühwarnindikatoren zurückgreifen kann. Zum einen scheuen viele Kunden davor zurück, ihre Systeme zu öffnen. Zum anderen sind bei ihnen längst nicht alle IT-Prozesse vom Marketing über Auftragsannahme, Warenwirtschaft, Distribution, Customer-Service bis hin zur Fakturierung so durchgängig miteinander verbunden, dass sich externe Unternehmen hier einklinken könnten. "Aber es passiert immer öfter, Industrie 4.0 wird das benötigen", zeigt sich der Dachser-CEO optimistisch.
Wer heute seine Waren schnell und vollständig an seine Kunden ausliefern will, wird nicht umhinkönnen, sich zu öffnen. Geschieht das nicht, beschwert sich ein Endkunde zurecht darüber, wenn er am Montag die Badewanne, am Dienstag das Waschbecken und am Freitag die Wasserhähne bekommt. Bestellt hatte er schließlich ein komplettes Badezimmer.
Datenqualität entscheidend
Damit der Datenaustausch funktioniert, muss die Qualität der Daten stimmen. "Wir müssen vorher mit dem Kunden vereinbaren, wie Prozesse funktionieren sollen, aus denen heraus akkurate Daten kommen", sagt Simon. "In der Logistik spielt die Datenqualität eine so entscheidend wichtige Rolle wie beispielsweise im Produktionsprozess. Das wird oft total verkannt."
Barcode essenziell wichtig
Um firmenübergreifend Daten auszutauschen, braucht es außerdem Standards, sonst müssen immer wieder aufwendig Schnittstellen programmiert werden. Dabei liegt das Praktische manchmal so nah. "Wir arbeiten schon seit 1994 mit dem Barcode, wie man ihn etwa von Flaschen oder Lebensmitteletiketten her kennt. Damit läuft die komplette Palettenverfolgung bei Dachser", sagt Leiter IT Stefan Selbach. "Der Barcode ist keine Raketenwissenschaft, aber essenziell wichtig für den Datenaustausch in der Logistik."
In der Logistik arbeiten heute viele Unternehmen mit Barcodes. Andere Branchen tun sich damit schwerer und setzen eigene Codes ein. So arbeitet fast jeder OEM mit seinen eigenen Normen. "Bisher haben Unternehmen nicht in geschlossenen Ketten gedacht, sondern in Dominanz. Das muss sich bei Industrie 4.0 ändern", mahnt Dachser-Chef Simon.
Doch so lange noch diese Vielfalt vorherrscht, arbeitet auch Dachser mit diversen EDI- und Individualschnittstellen. "Wir bringen alles in ein Dachser-Clearing-Format und geben dieses an anderer Stelle wieder raus", erklärt IT-Chef Selbach. "Diese Schnittstelle brauchen wir nur einmal zu programmieren und nicht jedes Mal von jedem Kunden zu jedem Kunden."
Nüchterner Blick auf Startup-Hype
In der Logistik brauche man grundsätzlich robuste Systeme, die flexibel funktionieren und Standards bilden können. "Extrem ausgefeilte und spezialisierte Anwendungen mögen ganz nett sein, damit erreicht man aber nie Skalierung und Offenheit", meint Simon. Die Logistiksysteme in Europa seien ohnehin hoch entwickelt - und "Deutschland als Weltmeister der Logistik ist da weit voraus", sagt der Dachser-CEO.
Den derzeitigen Hype um das Silicon Valley und dessen Startups sieht der Logistiker nüchtern. Um interessante Startups zu finden, müsse er nicht in die USA reisen, sagt Simon, die finde er auch in Paris oder Berlin. Dort werde oft an praxistauglichen Lösungen für die Logistikbranche gearbeitet.
Auch das Argument der Agilität beeindruckt den Dachser-Chef nicht so recht. "Mich überzeugt die Geschwindigkeit in einzelnen kleinen Themen nicht. Viel wichtiger ist es, eine konstante Veränderungsgeschwindigkeit in die Logistiksysteme zu bringen", sagt Simon. Damit schaffe man eine ständige Anschlussfähigkeit an die Erfordernisse der Märkte, und das Unternehmen könne jedes Jahr kontinuierlich wachsen.
Absage an Bimodal IT
"Die schnelle Welt im Valley und die langsamere Welt vor Ort werden kaum zusammenkommen, deswegen wird es auch wenige Synergien geben." Und IT-Leiter Selbach ergänzt: "Deshalb gehen wir auch nicht in Richtung einer bimodalen IT-Struktur. Geschwindigkeit muss aus der eigenen IT-Organisation heraus kommen."
Die IT-Systeme müssten vor allem verlässlich laufen. Würden ständig neue Technologien in Kernsystemen ausprobiert, könnten sie in einen labilen Zustand geraten und im schlimmsten Fall kollabieren. Deswegen teste die IT zunächst in Laboren, wie neue Technologien auf das Kernsystem wirken. "Das ist höchst komplex, man kann nicht vorhersagen, was passiert. Wir und das Gesamtsystem lernen daraus jeden Tag und erzeugen damit Geschwindigkeit", so Simon.
Digital Lab wäre eine "Bankrotterklärung"
Als Ideengeber hält Simon die eigenen Kunden für die richtigen Ansprechpartner. "Wir holen uns viele Anregungen in direkten Gesprächen mit unseren Kunden, um ihre Anliegen, Wünsche und Probleme zu verstehen. Sie sind wertvolle Innovationsquellen, gerade im Hinblick auf die weltweite Vernetzung", sagt Simon.
Während andere Unternehmen externe Labs und GmbHs gründen, um Innovationen zu generieren, sagt Simon: "Das wäre eine Bankrotterklärung der Überzeugung von der unternehmerischen Kraft im eigenen Unternehmen und vom Geschäftsmodell." Der Dachser-Chef fordert: "Ideen müssen aus dem Unternehmen selbst heraus kommen." Eine Ausgründung habe nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn sie ein eigenes Geschäftsmodell besitze und sich eigenständig am Markt behaupten müsse. Beim Logistiker stehe das Kerngeschäft im Mittelpunkt, eine eigene Gesellschaft für innovative Ideen gebe da keinen Sinn.
Mitarbeitern genügend Freiräume geben
Das Risiko, dass die Mitarbeiter im Alltagsstress keine Zeit finden, sich mit Innovationen zu beschäftigen, ist dem Management des Logistikriesen bewusst. "Das ist natürlich eine Gefahr, der man ständig begegnen muss. Diese nicht zu erkennen und konsequent gegenzusteuern wäre ein Versagen der Führung. Ihre Aufgabe ist es, den Mitarbeitern genügend Freiräume zu
sichern, damit die sich auch mit neuen Themen beschäftigen können", meint Simon. "Arbeitsverdichtung ist ein Scheitern des Managements, weil es nicht weiß, wo die Werte des Unternehmens herkommen."
Strategieprogramm Idea2Net
Innovationen kommen bei Dachser vor allem aus dem Customer-Service, wo der Konzern mit Statistiken und Algorithmen daran arbeitet, seine KPIs gegenüber dem Kunden zu verbessern. Außerdem führt das Unternehmen Workshops mit ausgesuchten Kundengruppen durch, wo Informationen prozessübergreifend ausgetauscht werden. An dieser Stelle wird beispielsweise das "Badezimmerproblem" angegangen, indem man die Lieferscheine der B2B-Welt mit der B2C-Welt zusammenbringt. Dann kann man am Bildschirm planen und gleich bestellen; im Baumarkt geht's dann zur Sache.
Viele Innovationen kommen zudem aus dem Tagesgeschäft der Mitarbeiter. Dafür hat Dachser das Strategieprogramm "Idea2Net" entwickelt, in dem die Mitarbeiter über eine eigens geschaffene Anwendung ihre Ideen eingeben können. Ein Gremium aus verschiedenen Führungskräften, die das gesamte Geschäft, den Markt und die Prozesse gut kennen, bereitet die Vorschläge auf, führt sie zusammen und bespricht sie zweimal im Jahr mit dem Vorstand.
Direkt von einem der Executive Directors wird das Programm letztlich auch verantwortet. "Wir sehen, ob sich Vorschläge mit anderen Ideen oder schon laufenden Prozessen verbinden lassen. Daraus entstehen dann besondere Innovationen, für die Dachser Ressourcen bereitstellt", sagt Andreas Froschmayer, Corporate Director für Unternehmensentwicklung, Strategie und PR, der Idea2Net konzeptionell betreut und mitverantwortet.
Im Rahmen des kontinuierlichen Ideen-Managements aus der Belegschaft heraus steckt das Unternehmen bestimmte Innovationsfelder ab, auf denen man vorankommen möchte. "Aus der strategischen Perspektive des Unternehmens heraus definieren wir Themen wie Digitalisierung und Industrie 4.0 oder Citylogistik", sagt Froschmayer.
Ein CDO wird nicht gebraucht
Ideenfindung und Umsetzung erfolgen bei Dachser gemeinschaftlich. So arbeiten Prozessverantwortliche aus dem Business eng mit der Corporate IT zusammen. Außerdem hat das Unternehmen eine Research-Abteilung geschaffen, die Entwicklungen und Technologien im Markt der Logistik verfolgt und testet - und das ebenfalls mit Schnittstelle zur IT. "Unsere Philosophie der Unternehmenssteuerung ist es, Prozesse und IT simultan zu organisieren", sagt Simon. "Deswegen wollen wir keinen Chief Digital Officer, der losgelöst arbeitet ohne zu wissen, was bei Kunden, Prozessen und Märkten läuft. Prozesse und Digitalisierung müssen unserer Auffassung nach Hand in Hand gehen."
Wenn schon keinen CDO, so braucht Logistik 4.0 doch eine adäquate Management- und Steuerungskultur. Dachser hat dafür eine duale Führungsorganisation geschaffen: Auf der einen Ebene entscheidet der Vorstand zentral und bestimmt die Regeln, auf der anderen gibt es eigenverantwortlich und unternehmerisch handelnde Niederlassungs- und Landesleiter, die sich wiederum in sogenannten Kreisen organisieren und miteinander vernetzen. Regelmäßig besuchen der Vorstandsvorsitzende und sein Stellvertreter die Treffen dieser Kreissprecher, darüber hinaus sitzen die Kreissprecher alle vier Monate zum Austausch mit am Vorstandstisch.
Zur operativen Steuerung des Unternehmens dienen auch die seit Anfang der 90er Jahre von der IT entwickelten Transport- und Warehouse-Management-Systeme "Domino", "Othello" und "Mikado". Dort fließen alle Daten aus den Niederlassungen zusammen: Laufen die Sendungen pünktlich? Wie sehen Auslastungen aus? Sind Sendungen beschädigt? Gibt es Belastungen durch kurze Wochen oder Wetterphänomene?
Kybernetische Organisation
Auf Basis dieser Informationen entscheiden die lokalen Akteure weitgehend selbständig, wie sie ihr System kalibrieren und optimieren. "Wir haben also die Komponente 'Selbststeuerung' in der Logistik. Das ist Teil der Logistik 4.0, so wie in der Industrie 4.0 vorgesehen", sagt Froschmayer. Sonst wäre ein Unternehmen mit weltweit 428 Einheiten nicht steuerbar. "Wir haben eine der besten kybernetischen Organisationsformen in der Logistik geschaffen", ist sich CEO Simon sicher. Industrie 4.0 braucht also nicht nur Logistik 4.0, sondern auch Management 4.0.