"1.350 Systeme in 880 Tagen" - unter diesem Motto steht ein umfassendes IT-Migrationsprojekt beim Autobauer Opel. Verantwortlich dafür ist Thomas Külpp, seit August 2017 CIO von Opel in Rüsselsheim. Der gelernte Maschinenbauer hat eine wahre Herkulesaufgabe vor der Brust, genau genommen sind es zwei: Zum einen muss er rund 1.350 Altsysteme der einstigen Konzernmutter General Motors (GM) übernehmen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Zum anderen gilt es, Opel in die Systemlandschaft von PSA zu überführen. Das alles geschieht gleichzeitig, betont Külpp, und es muss möglichst schnell gehen, damit sich PSA als zweitgrößter Automobilhersteller Europas auf Zukunftsfelder konzentrieren kann.
2017 verkaufte General Motors den 1862 von Adam Opel gegründeten Autobauer an die Groupe PSA, zu der auch die Stamm-Marken Peugeot, Citroën und DS Automobiles gehören. Im ersten Schritt geht es nun darum, alle von Opel benötigten technischen Systeme auszugliedern und mit der eigenen IT zu betreuen. Noch komplexer ist die Aufgabe, alle Kernsysteme von Opel mit der PSA-Welt zu verschmelzen und dabei Synergien zu erzielen.
Im GM-Konzern war die Opel-IT Teil einer mächtigen IT-Organisation mit mehr als 10.000 Mitarbeitern. Die zentral geführte Organisation ließ lokalen Einheiten wenig Spielraum, berichtet Külpp. Nach dem Carveout aus dem GM-Konzern ist die verbliebene IT von Opel noch zirka 600 Mann stark. Sie wird allerdings durch die IT-Mannschaft von PSA unterstützt.
"PACE!" gibt die Richtung vor
Opel setzt mit dem Programm "PACE!" den strategischen Rahmen, an dem sich auch die IT ausrichtet. Die zentrale Botschaft: Opel soll nachhaltig profitabel, elektrisch und global werden. Für die IT bedeutet das zuallererst, Migrationsaufgaben zügig zu erledigen und dabei besonders auf Kosteneffekte zu achten.
Zu den 1.350 Systemen aus der GM-Welt gehört alles, was ein internationales Industrie-Unternehmen benötigt: Engineering, Fertigungssteuerung, Logistik-, Finanz- und Vertriebsanwendungen zum Beispiel, aber auch Office- und Mail-Systeme für mehr als 30.000 Benutzer.
Wie schafft man das alles in einem Aufwasch? "Wir haben einen ausgefeilten Migrationsplan mit detaillierten Vorgaben", antwortet Külpp. Ein wichtiges Ziel lautet: In Zukunft sollen Autos aller PSA-Marken in jedem Werk gebaut werden können, also beispielsweise auch ein Peugeot vom Band einer klassischen Opel-Fertigungsstätte laufen. Dafür muss die IT die Voraussetzungen schaffen und sicherstellen, dass bei Opel zum Beispiel in Sachen Fertigung "die Sprache" von PSA gesprochen werde. Konkret bedeutet das unter anderem: weg vom Siemens-PLM-System (Product-Lifecycle-Management) und Migration auf CATIA von Dassault Systèmes.
Eine besonders diffizile Aufgabe dabei ist die "Transcodification", erläutert der IT-Chef. Sein Team entwickelte dazu Übersetzungs-Tools für den Übergang vom alten ins neue PLM-System. Diese Art der Übersetzung wird auch für die Fertigung, den Vertrieb, Aftersales und die Finanzsysteme benötigt. Wie so oft steckt der Teufel im Detail. So verwenden etwa die Stücklisten ("Bills of Materials") im alten GM-System achtstellige Teilenummern, im PSA-Kosmos sind sie zehnstellig.
Doch es sind nicht nur technische Hürden, die Opel nach der Ausgliederung von GM nehmen musste. "Wir haben sämtliche Softwarelizenzen neu beschafft", berichtet der CIO. Das Problem: Die zum Teil hohen Mengenrabatte, die General Motors als globaler Großkonzern erzielte, mochte so mancher Softwarehersteller der deutlich kleineren Opel Automobile GmbH nicht einräumen. Külpp: "Eine Lösung lag darin, Lizenzen mit der Groupe PSA gemeinsam zu nutzen." Auf diese Weise sei es gelungen, die Softwarekosten unterm Strich deutlich zu optimieren.
Nachschärfen im laufenden Betrieb
Wie wichtig das Thema Geschwindigkeit im Migrationsprozess ist, zeigte sich nach einigen Monaten. "Irgendwann haben wir gemerkt: Wir können und wollen noch schneller sein", blickt der IT-Chef zurück. "Also wurde der Plan nachgeschärft und enthält jetzt noch ehrgeizigere Ziele." Dazu gehört die Vorgabe, alle 1.350 Altsysteme schon bis Ende 2019 in die Opel-IT zu überführen. Das Ziel, Opel-Anwendungen und -Plattformen in die PSA-Welt zu integrieren, habe man um "mehrere Jahre" vorverlegt, so Külpp. Die PSA-IT und die von Opel arbeiteten seit Beginn der Übernahme erfolgreich zusammen, daher laufe alles nach Plan. Opel habe die Vorgaben des PACE!-Programms sogar übererfüllt.
Dabei sorgen auch die externen Rahmenbedingungen für viel Arbeit. Themen wie die Europäische Datenschutz-Grundverordnung (EU-DGVO), das neue WLTP-Verfahren (Worldwide Harmonized Light Vehicles Test Procedure) für Verbrauchs- und Abgastests und nicht zuletzt der Brexit halten die IT-Abteilung von Opel/Vauxhall angesichts der starken Präsenz in Großbritannien zusätzlich auf Trab.
Opel macht wieder Gewinne
Gemessen werden die Migrationsvorhaben insbesondere an den erzielten Synergie-Effekten. Ein großer Hebel für die Kostensituation bei Opel war die Entscheidung, statt neun verschiedener Plattformen in der Fahrzeugfertigung zukünftig nur noch die beiden Konzernplattformen von PSA zu nutzen.
Im vergangenen Jahr sei es gelungen, die Fixkosten um 27 Prozent zu senken, betont Külpp: "Die IT hat ihren Teil dazu beigetragen und konsequent Synergien ausgeschöpft." Neben niedrigeren Kosten für Softwarelizenzen spart Opel auch beim Betrieb von Großrechnern. So wurde etwa der Mainframe in den USA nicht nach Rüsselsheim, sondern nach Frankreich umgezogen und mit dem vorhandenen konsolidiert. Hier richtete Opel zusammen mit den französischen IT-Kollegen auch sein Disaster Recovery Center ein, das den Betrieb im Rüsselsheimer Rechenzentrum absichert.
Die Auswirkungen wurden sichtbar, als Opel die Geschäftsergebnisse für 2018 präsentierte, dem ersten vollen Jahr der Zugehörigkeit zur Groupe PSA. Erstmals seit zwei Jahrzehnten verdiente der Autobauer wieder Geld und wies einen Betriebsgewinn von 859 Millionen Euro aus, mehr als jemals zuvor.
Komplett in Eigenregie ist ein Vorhaben dieser Größenordnung nicht zu schaffen, räumt Külpp ein. Deshalb hat er Capgemini und Atos als IT-Dienstleister ins Boot geholt. Deren vorrangige Aufgabe ist es zunächst, Altanwendungen zu betreuen und den Support sicherzustellen. Um "Zukunftssysteme" kümmere sich Opel dagegen weitgehend selbst. Dazu gehört beispielsweise SAP S/4HANA. Die Groupe PSA will damit konzernweit Prozesse vereinheitlichen und so die Basis für künftiges Wachstum legen. Auch dafür hat sich der Konzern einen straffen Zeitplan verordnet. Das erste europäische Land soll schon 2020 mit S/4HANA in den produktiven Betrieb gehen.
Data Analytics für CO2-Ziele
Innovationen sieht der CIO etwa in den Bereichen Industrie 4.0 und Data Analytics. In der Fertigung setze Opel schon seit Längerem auf Predictive-Maintenance-Lösungen, die etwa für die Schweißzangen-Optimierung genutzt würden. Eine wichtige Rolle spielen Analytics-Systeme im besonders sensiblen Bereich der CO2-Emissionen. Die entscheidende Frage, nicht nur für Opel, laute: "Wie schaffen wir es, mit der gesamten Fahrzeugflotte die immer strengeren CO2-Vorgaben zu erfüllen?"
Auf Külpps Prioritätenliste steht auch die Verbesserung der IT-Servicequalität. "Die Zufriedenheit der Benutzer mit der IT war zu GM-Zeiten nicht immer ein vorrangiges Ziel", sagt er. Die IT-Einheiten des Automobilkonzerns sollen nun enger zusammengeführt werden, um hier voranzukommen.
In den kommenden Jahren sollen mehrere "Centers of Excellence" entstehen, in denen die Groupe PSA IT-Kompetenzen zu bestimmten Themen wie etwa SAP bündelt: "Je nach Qualifikation und verfügbaren Experten können dann bestimmte IT-Themen von PSA oder Opel gruppenweit übernommen werden."
Der Carve-out betrifft alle Prozesse
Der Carve-out aus dem GM-Konzern und die Integration in die Groupe PSA betrifft am Ende alle Geschäftsprozesse, resümiert Külpp. "Es reicht nicht zu sagen: Die IT macht das schon." Das Business müsse von Anfang an eingebunden sein, sonst könne ein Projekt dieser Dimension nicht gelingen.
Unter dem Dach der Groupe PSA hat die Opel-IT mehr Spielraum und Entscheidungsbefugnisse als zu GM-Zeiten. Zugleich drückt PSA-Chef Carlos Tavares aufs Tempo und fordert, der Konzern müsse seine "darwinistische Transformation" fortsetzen. Damit verbunden sind klare Sparvorgaben, eine Modernisierung der Fertigung und ehrgeizige Profitabilitätsziele für alle Konzernmarken.
Megatrend Elektrifizierung
Dass der künftige Erfolg nicht nur von der IT abhängt, ist auch Külpp bewusst. Der "Megatrend" für die gesamte Automotive-Branche sei die Elektrifizierung, und dafür sei Opel gut aufgestellt. Im Rüsselsheimer "E-Mobility Lab" etwa simulierten Techniker schon heute die mobile Welt des Jahres 2035. "Wir wollen verstehen, wie beispielsweise ein Stromnetz in so einem Szenario funktionieren muss", erläutert der CIO. Dabei gehe es etwa um die Frage, wie eine effiziente Ladeinfrastruktur aussehen könne.
Die Roadmap in Sachen E-Mobility hat Opel abgesteckt. 2020 kommen E-Versionen bekannter Modelle auf den Markt, darunter der Corsa als reines Elektroauto und der SUV Grandland X als Hybrid. Schon 2024 wollen die Hessen sämtliche Opel-Modelle auch als elektrifizierte Fahrzeuge anbieten. Külpp sieht den Autobauer damit auf dem richtigen Weg und ist überzeugt: "Wir sind auf die Zukunft der Mobilität vorbereitet."