Online-Shopping ist nichts anderes als Automatisierung und war als solche natürlich schon immer technologiegetrieben. Aber es ist ein Unterschied, ob Händler die Technologie als Werkzeug betrachten, die Prozesse vereinfacht und Manuelles digitalisiert, oder ob Technologie zum Kern der Prozesse wird.
Die Otto Einzelgesellschaft (der frühere Otto-Versand) hat einen dreistelligen Millionenbetrag in die Hand genommen, um nach einigen Herausforderungen endgültig diesen Weg einzuschlagen und damit die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens auf ein solides Fundament zu stellen. Innerhalb der Otto Group, der Holding, gehört die Otto Einzelgesellschaft zum Geschäftsfeld Multichannel-Einzelhandel. Die beiden anderen Unternehmensbereiche bilden Finanzdienstleistungen und Service (Logistik- und Reisedienstleister sowie Einkaufsgesellschaften).
Otto will "bei der IT noch mehr Gas geben"
In der letzten Phase des Projekts ist Michael Müller-Wünsch, den Otto im August 2015 als Bereichsvorstand Technology installierte, dazugestoßen. Schon das Besetzen dieser Position, die es vorher nicht gab, war ein Signal nach innen und außen: Man meint es ernst mit der Optimierung der Prozesse und Technologie-Landschaft. Oder wie Otto-Konzernvorstand Alexander Birken bei Müller-Wünschs Vorstellung sagte, dass die Hamburger "bei der IT noch mehr Gas geben" wollen.
Und "Gas geben bei der IT" bedeutete, alte zentrale IT-Systeme im Backend gegen neue Eigenentwicklungen auszutauschen. Mit diesem Schritt bleibt sich der größte deutsche Onlinehändler für Fashion und Lifestyle treu, denn schon die Altsysteme waren Eigenentwicklungen.
Otto Einzelgesellschaft | Austausch zentraler IT-Systeme im Backend |
Branche | Onlinehandel |
Zeitrahmen | rund 2 Jahre |
Mitarbeiter | 500-köpfiges Team aus IT, Fachbereichen und Konzernfirmen |
Aufwand | 3-stelliges Millioneninvest |
Produkte | Rechnungswesen, Warenauslieferung, Kundenbuchhaltung und Mahnwesen, Bestandsverwaltung sowie Retouren- und Lieferantenabwicklung |
Dienstleister | Eigenentwicklung |
Einsatzort | Deutschland |
Internet |
Auch bei den Frontends fährt Otto die gleich Strategie wie zum Beispiel 2013 bei dem Projekt "Lhotse". Die Softwarelösung für den Onlineshop www.otto.de hatte Otto selbst entwickelt und dabei gelernt, dass man die damit verbundenen technischen Herausforderungen durchaus bewältigen kann.
IT-Landschaft einer Generalüberholung unterzogen
Diese waren allerdings beim Backend deutlich größer, es ging um nichts weniger, als "die gesamte IT-Landschaft einer Generalüberholung zu unterziehen", wie Michael Müller-Wünsch es nennt. "Wir wollten den Handel auf eine moderne Applikations-Plattform setzen, um den Ansprüchen der digitalen Welt gerecht zu werden", formuliert er das Ziel.
"Bei dieser technischen Transformationsaufgabe haben wir uns zunächst gegen einen Austausch in eine SAP-Landschaft entschieden, weil wir glauben, damit nicht den verschiedenen Markt- und Unternehmensanforderungen schnell und kostengünstig gerecht werden zu können", begründet Müller-Wünsch die Entscheidung.
Im digitalen Umfeld müsse Systemlandschaft ab einer gewissen Größenordnung und Komplexität wesentlich stärker selbst kontrolliert, entwickelt und betrieben werden. "Nur so können wir eine Differenzierung im sehr volumenträchtigen Handelsgeschäft erreichen."
Der Bereichsvorstand passt insofern sehr gut zu dieser Aufgabe und zu Otto, als er nicht nur die Offline- und die Online-Anforderungen des Handels kennt, sondern auch die Schnittstellen zwischen beiden. Müller-Wünsch arbeitete unter anderem von 2000 bis 2004 für die Otto-Online-Tochter MyToys.de, sechs Jahre für das Logistikunternehmen Ceva Logistics und von 2012 bis 2015 für Lekkerland.
Otto zum "intelligenten Echtzeit-Unternehmen" machen
Die Generalüberholung, von der Müller-Wünsch spricht, ist Teil des Kampfes darum, einen traditionellen Versandhändler, der lange vor Erfindung des Internets das Licht der Welt erblickte, zum "intelligenten Echtzeit-Unternehmen" zu machen.
Echtzeit bedeute, "dass alle Daten, die durch einen Klick des Kunden im Onlineshop produziert werden, sofort und gleichzeitig allen am Prozess Beteiligten zur Verfügung stehen", so Michael Müller-Wünsch. Und was man mit einem Klick auf einem Shop-Portal auslöse, ließe sich nicht ohne großen Aufwand mit einer Standardsofortware in Echtzeit umsetzen. Jenen Zeitversatz, der zu Zeiten der Stapelverarbeitung noch normal war, akzeptiere heute niemand mehr.
Erwartungen der Online-Kunden steigen
Stattdessen erwarten Online-Shopper ein integriertes Einkaufserlebnis, und diese Erwartung lässt sich nur erfüllen, wenn die Prozesse hinter Auswahl, Bestellung oder Logistik perfekt aufeinander abgestimmt sind. Immer wichtiger, erzählt Müller-Wünsch, werde auch die Kommunikation mit den Kunden, und die sei neben der üblichen Sprachkommunikation heute bei weitem nicht nur textbasiert, sondern schließe auch Bilder und Videos mit ein. "Alle diese Daten muss man vorhalten, miteinander verbinden und in Echtzeit bereitstellen können. In verteilten Dateisystemen wäre das extrem schwierig", erklärt Müller-Wünsch. "Diese vielen Daten können wir jetzt alle in unserem neuen Backend ablegen."
Backend mit mehreren Oracle-Datenbanken
Das neue Backend arbeitet mit mehreren Oracle-Datenbanken, die zusammen eine "gemeinsame Bodenplatte" bilden, wie der Otto-Bereichsvorstand es nennt. Auf dieser Bodenplatte setzt das Unternehmen in der kommenden Zeit weitere Transformations- und Innovationsprojekte auf. "Damit ist es uns gelungen", so Müller-Wünsch, "gewachsene Strukturen und langjähriges Know-how in eine moderne Grundarchitektur zu übersetzen."
Viele der aktuellen und vor allem der kommenden Projekte drehen sich ums Einkaufen über mobile Gadgets, das Smartphone wird auch für Otto zum wichtigsten Kundenzugang. Es gibt schon heute Tochtergesellschaften des Unternehmens, die 90 Prozent ihrer Umsätze online und davon mehr als die Hälfte über Smartphones erwirtschaften.
Standardsoftware erschwert Differenzierung
Dabei fallen jede Menge spannende Daten an, die Otto intensiver als bisher vermarkten will. Das Unternehmen kennt nach eigenen Angaben die Hälfte aller deutschen Frauen, weil sie schon mal in einem der vielen Shops des Unternehmens eingekauft haben. Und weil Frauen 80 Prozent aller Konsumentscheidungen treffen, ist das Wissen über sie natürlich auch für andere Unternehmen Gold wert.
Unternehmen, die dabei alle auf den gleichen Technologie-Standard setzen, haben es sehr schwer, sich zu differenzieren. "Standardsoftware wird schlechter und teuer, wenn man versucht, an mehreren Stellen von diesen Standards abzuweichen", so Michael Müller-Wünsch. Trotzdem kann es Bereiche wie zum Beispiel Einkauf und Accounting geben, die nach einer entsprechenden Harmonisierung gut durch Standardsoftware unterstützt werden.
SAP-Einführung scheiterte am Change-Prozess
Das ist allerdings nicht der einzige Grund, warum Otto heute im Backend kein zentrales SAP-System einsetzt. Der andere: Man hatte zwar versucht, über eine Prozessharmonisierung die Technologie-Einführung zu unterstützen. Doch der Change-Prozess in der Organisation hat damals nahezu unüberwindbare Hürden entstehen lassen. Schließlich musste man 2012 einsehen, dass sich ein traditionsreicher, vielfältiger Kosmos unterschiedlichster Online- und Offline-Shops und unterschiedlicher Backend-Systeme nicht - oder jedenfalls nicht mit vertretbarem Aufwand - auf eine einzige Standardplattform zwingen lässt.
Der damalige CIO Christoph Möltgen setzte in der Folgezeit konsequent auf Dezentralisierung, das heißt die meisten Tochterunternehmen sollten jeweils eigene ERP-Systeme (u.a. auch SAP) betreiben. Doch damit, so Bereichsvorstand Michael Müller-Wünsch, war man eben stark von den Routinen und festgelegten Standards solcher Systeme abhängig.
Entscheidung für eine Eigenentwicklung
Für das zentrale Backend-System von Otto entschied sich das Projektteam noch vor der Amtszeit von Müller-Wünsch, die Alt-Systeme auf eine Eigenentwicklung für die Abwicklung des Geschäfts zu migrieren. So ist eine neue "Bodenplatte" entstanden, auf der sich weitere, unterschiedliche Räume oder ganze Gebäudeteile errichten lassen.
In Hamburg beschäftigen sich Gehirne von über 1000 Technologen mit der Zukunft der Handelssysteme. Neben eigenen Analytics-Teams arbeitet Otto auch schon seit vielen Jahren mit Startups zusammen. "Wir haben einen gesunden Mix aus Inhouse-Kompetenz, externen Partnern und eigenen Startup-Investments."
Eine Consumer-zentrierte Technologie-Organisation
Sie alle sollen dazu beitragen, dass sich Otto zu einer Consumer-zentrierten Technologie-Organisation entwickelt. Das Zauberwort dabei: Einfachheit. Müller-Wünsch: "Einfachheit und Verständlichkeit für den Kunden bedeutet in aller Regel auch Einfachheit in den Prozessen dahinter. Und Einfachheit heißt Schnelligkeit."
Schnelligkeit beim Liefern des Bestellten zum Beispiel, wobei Otto Wert darauf legt, an diesem Punkt schon einen Schritt weiter zu sein als die Konkurrenz, sich nicht nur um Geschwindigkeit zu kümmern, sondern auch um optimale Planbarkeit und Verlässlichkeit bei der Zustellung. Als einziger deutscher Onlinehändler informiert Otto seine Kunden selbst über das Eintreffen der bestellten Ware - und zwar Stundengenau. Wenn es um die Lieferung von Großstücken wie Waschmaschinen geht, können die Kunden das Zeitfenster der Zustellung im Bestellprozess sogar selbst auswählen.
Diesen Service führt Otto nicht nur verlässlich aus, sondern das Unternehmen nutzt das dazu entstandene Framework, um solche prediktiven Modelle auch in anderen Bereichen ausrollen zu können.
Mit Design Thinking und Scrum
Grundlage der Modelle sind umfangreiche Prozessdaten und die Erfahrung der Hermes-Zusteller. Entwickelt hat das System ein Team aus Data Scientist in Hamburg, und zwar ohne die sonst dabei übliche Trennung zwischen Modellierung und Umsetzung, die Entwicklung erfolgte quasi direkt in der Praxis.
Methodisch gehörten vor allem Design Thinking und agile Verfahren wie Scrum dazu, also das Entwickeln eng an Kundenbedürfnissen in gemischten Teams, die Orientierung an Zielen statt an Pflichtenheften und das Verwenden von inkrementellen Verfahren. Genutzt wurde darüber hinaus auch Pair Programming, also das Entwickeln in Zweierteams, eine Arbeitsweise, für die eine sorgfältige Dokumentation sehr wichtig ist.
Dinge selber zu machen, gestalten und dadurch individuellere Lösungen bieten zu können, ist aber nur eine Seite jenes größeren Transformationsprozesses, in dem sich Deutschlands größter Versandhändler aktuell befindet. Die andere, das ist die Abkehr vom klassischen Plan-Build-Run auch in der Denke und im Umgang miteinander.
Neue Vertrauensmodelle für mehr Geschwindigkeit
So will sich die Otto Einzelgesellschaft zu einer Consumer Centric Organisation entwickeln, was die Arbeitskultur ändern wird. Denn das sich ständig stark verändernde Kundenverhalten, immer neu aufkommende Technologien, Automatisierung und neue Interaktionsmodelle wirken auf die Arbeitsweisen zurück. "Dafür muss man Vertrauensmodelle schaffen, die mehr Geschwindigkeit ermöglichen", sagt Müller-Wünsch. Neben flexiblen Arbeitsformen bedeutet das auch, dass Mitarbeiter stärker selbsttätig handeln und Dinge anstoßen sollen als in eher unproduktiven Strukturen geprägt durch Administration und Bürokratie zu verharren.
Wichtige Lehren aus der Zeit bei MyToys.de
Michael Müller-Wünsch ist in diesem Prozess ein wichtiger Player. Eine der wichtigsten Lehren, die ihm heute bei seiner Umsetzung helfen, habe er ausgerechnet während seiner Tätigkeit beim Internet-Unternehmen MyToys.de gelernt: "Wenn kluge Menschen eine eigene Idee plausibel erläutern können, dann sollte man ihnen auch die Chance geben, sie umzusetzen. Ich habe in solchen Fällen gesagt: Wenn wir alle eine Nacht darüber geschlafen haben, dann lass uns Montag mit der Arbeit beginnen."
Natürlich ändern sich in einem Traditionshaus wie Otto nicht über Nacht sämtliche Strukturen und die gesamte Denke. Weil man das auch gar nicht will. Womit wir wieder am Anfang dieser Geschichte sind: Für Otto geht es darum, zu viel Tradition da abzustreifen, wo sie hinderlich ist, und sie an anderer Stelle gezielt zu bewahren, indem man die damit verbunden Werte in Kundennutzen übersetzt.
Und dieser Nutzen ist zum Beispiel der, die Waschmaschine am Samstag zu einem Zeitpunkt liefern zu lassen, den man vorher selbst bestimmt hat. Und sich anschließend darauf verlassen zu können, das das Gerät auch zur verabredeten Stunde da ist.
Projekterfahrungen | Lessons Learned |
Michael Müller-Wünsch nennt die drei für ihn wichtigsten Learnings aus diesem komplexen Großprojekt. 1. Gemeinsamer klarer Fokus Was uns sehr stark geholfen hat, insbesondere auf der Schlussgerade, war der klare Fokus des gesamten Unternehmens, vom Konzernvorstand bis zum letzten Mitarbeiter, auf den Erfolg dieses Projekts. Allen war klar, wir ziehen alle an einem Strang. Das hatten wir teilweise auch in Zielvereinbarungen verankert. 2. Interdisziplinäres vertrauensvolles Arbeiten Die Führungsleute haben ein interdisziplinäres vertrauensvolles Arbeiten vorgelebt. Wir waren sehr fokussiert in der organisatorischen Abwicklung. Wir hatten für die Phase der Go-Live-Betreuung ein Hypercare-Steuerungsteam eingerichtet. Es bestand aus hochrangigen IT- und Business-Managern, die sehr schnell konkrete Fragestellungen schnell und unbürokratisch beantwortet haben. 3. Rigides Scope-Management Bei so einem großen und komplexen Projekt war es wichtig, den Scope immer wieder klar zu priorisieren. Denn Projekte werden in ihrem Verlauf immer mal wieder überladen und mit neuen Anforderungswünschen konfrontiert. Ein rigides Scope-Management hat geholfen, dass das Projekt erfolgreich über die Zielgerade gelaufen ist. |