Über die Kastenfenster im Büro von Gunther Nolte ziehen sich Spinnweben. Die Oberlichte ist gekippt, der Fluglärm dringt herein. Auch die moderne Kunst an den Wänden und eine Büste hinter dem Schreibtisch des CIO der Klinikkette Vivantes können nicht verbergen, dass die Flure der IT-Abteilung noch vor wenigen Jahren eine Klinikstation beherbergten, eine Psychiatriestation der Karl-Bonnhöfer-Nervenklinik. Seit 2001 sitzen hier in Berlin-Reinickendorf Geschäftsführung und Verwaltung von Vivantes - jenem "Netzwerk für Gesundheit" Berlin, das mit zwei Millionen Euro plus weitaus profitabler geführt wird als der Stadtkonkurrent Charité (minus sechs Millionen Euro in 2007). Vivantes ist auf einem guten Weg.
Trotzdem ist Nolte unzufrieden. Denn seine IT und die Abteilung für Medizingerätetechnik sind organisatorisch weit voneinander entfernt, "obwohl Medizintechnik zu 80 Prozent IT-getrieben ist“, wie Nolte sagt. Die Medizingerätetechnik ist eine Abteilung des Bereichs Einkauf, deren Leiter an den Finanzchef Peter Schnitzler berichtet. Wie Nolte, der jedoch direkt an Schnitzler berichtet.
Medizintechnik informiert IT nicht
Bestellt die Abteilung Medizingerätetechnik etwa ein neues Monitoring-System, wie kürzlich geschehen, musste sich bis vor Kurzem niemand für die gesamte Techniklösung bestehend aus Infrastruktur, Medizingeräte und IT zuständig fühlen. Allerdings war das System fähig, von den Krankenbetten per Funk Daten über die WLAN-Infrastruktur zu übertragen. "Niemand hat uns gefragt, ob das System kompatibel zu unserem Netzwerk ist", beklagt sich Nolte, der zudem erst kurz vor Lieferung der Monitoring-Technik informiert wurde. Letztendlich wurde das Projekt gestoppt, da insbesondere "nicht lösbare Inkompatibilitäten in Hinsicht auf IT-Sicherheits-Policy" bei Vivantes auftraten.
Was Nolte erlebt hat, ist auch in vielen anderen Kliniken eher die Regel als eine Ausnahme. Die Bereiche Medizintechnik und IT harmonieren meist nicht miteinander. "Das ist nicht mehr zeitgemäß", findet Christian Johner, Leiter des Instituts für Gesundheitswesen in Freiburg. Zumal immer mehr Hersteller ihre Software-Anwendungen als Medizinprodukt deklarierten. In vertraulichen Gesprächen steht sogar das wichtigste System in der Klinik-IT, das Krankenhaus-Informations-System (KIS), zur Diskussion, künftig als Medizinprodukt verkauft zu werden. Dass "Soarian" von Siemens damit gemeint ist, bestätigen die Erlanger nicht. Offiziell heißt es: "Die in Deutschland von der Siemens AG angebotenen Krankenhaus-Informations-
Systeme Clinicom, IS-H*med, medico//s und Soarian Clinicals sind keine Medizinprodukte."
Allerdings bietet Siemens neben GE Healthcare Software wie Medizintechnik aus einer Hand. Die Industrie hat sich also schon auf die Verschmelzung eingestellt, während Klinik-ITler noch zögern. Für eine Lösung aus einer Hand gibt es derzeit oft zwei Ansprechpartner in der Klinik, die sich zudem nicht unbedingt miteinander abstimmen. Ein Dilemma.
Medizintechnik und IT müssen besser zusammen arbeiten
Die notwendige Konsequenz ist folgende: Entweder beschäftigen sich die CIOs in den Kliniken künftig stärker mit den Richtlinien, die für Geräte wie Computertomographen, Echokardiographen und die Ultraschallsonographie gelten - dem Medizinproduktegesetz (MPG) und der Medizinproduktevertreiberverordnung (MPBetreibV). Oder Medizintechnik und IT arbeiten besser zusammen oder verschmelzen gar unter einer Leitung:
Eine erste Brücke zwischen den beiden Bereichen hat Vivantes-CIO Nolte nun geschlagen, indem er derzeit einen Mitarbeiter aus der Medizingeräteabteilung in der Klinik-IT beschäftigt. Noch bis Anfang 2009 arbeiten die Klinik IT-ler in einem anderen Gebäude als Nolte, 500 Meter davon entfernt. Von der Idee, beide Abteilungen unter eine Leitung zu stellen, ist dieses Probeprojekt allerdings noch um einiges entfernt.
Kurt Marquardt will gar nicht so weit gehen. Der Leiter der Konzern-EDV bei der Rhön-Klinikum AG erläutert, dass bereits seit 1996 im Konzern eine Projektgruppe unter Vorstandsleitung sich mit der Schnittstelle IT / Medizintechnik beschäftigt. Im vorigen Jahr wurde zusätzlich eine Arbeitsgruppe initiiert, die sich "mit dem Medizinproduktegesetz und den generellen Risiken“ beschäftigen soll. In dieser Arbeitsgruppe sind Medizintechniker, Spezialisten für Netzwerksicherheit und das IT-Managment vertreten. "Ziel ist es, herauszufinden, welche Risiken allein dadurch, dass sich Informationen in den Kliniknetzen bewegen, für den Patienten entstehen können".
Damit ist das MPG auch für den Leiter der Konzern-EDV in der Rhön-Klinikum AG für die IT von Belang - für Kurt Marquardt, der allerdings die bisherigen Kompetenzen nicht verändern will, sondern ausschließlich die Kooperation zwischen den Bereichen IT und Medizintechnik verbessern möchte. "Das Thema ist viel zu komplex, um es unter eine Verantwortung stellen zu können", lautet die Überzeugung von Marquardt.
Die Betreuung und Bearbeitung des "Risiko-Managements in der IT" ist also allein in der Expertengruppe platziert. Das dürfte durchaus im Sinne des Freiburger Klinik-IT-Experten Johner sein, der fordert, ein CIO müsse das Risiko-Management in seine Arbeit integrieren, "was im Übrigen auch die ICE 80001 fordert". Das macht Marquardt zwar nicht, aber er entsendet Spezialisten, um diesem Thema nachzukommen.
"Kulturtrennung verschwand schnell"
Was für die Rhön-Klinikum-Kette das Beste ist, muss nicht auch unweigerlich für alle anderen Kliniken gelten. So hat die Universitätsklinik Heidelberg schon vor Jahren die beiden Bereiche vereint. "Eher zufällig", wie der Leiter der integrierten Informations- und Medizintechnik Björn Bergh sagt. Der damalige Leiter der Medizintechnik schied aus. Statt einen Nachfolger zu bestimmen, diskutierte man auch die Option, die Medizintechnik in der IT aufgehen zu lassen, und entschied sich dann auch auf Wunsch der Mitarbeiter dafür. Das war 2004. "Anfangs war eine Kulturtrennung in den Köpfen bemerkbar", sagt Bergh, "Doch die verschwand schnell, und heute würde, glaube ich, kein Mitarbeiter die Entscheidung rückgängig machen wollen." Unter anderem Projekte wie die Datenintegration und Standardisierung der POCT-Labor- oder Monitoring-Systeme haben gezeigt, dass die Zusammenlegung der Bereiche sinnvoll war.
KIS als Medizinprodukt, kaum Vorteile
Die neue Aufgabe, sich mit den Richtlinien der Medizintechnik auseinandersetzen zu müssen, hat Bergh damals nicht beunruhigt. Als Radiologe war der CIO mit den gesetzlichen Aspekten bereits vertraut. Deshalb stört es ihn auch nicht unbedingt, wenn ein Hersteller wie Siemens mit einem KIS als Medizinprodukt "droht". "Ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird", bezweifelt Bergh. "Zum Beispiel SAP: Vermutlich kündigen die eher ihr Produkt IS-H, als die gesamte Produktpalette dem MPG zu unterziehen, was sich angesichts der Architektur wohl kaum vermeiden ließe. Und die haben ein paar hundert Installationen in deutschen Krankenhäusern, was wiederum zu erheblichen Diskussionen führen würde."
Unabhängig davon kann Bergh auch keinen Vorteil für die Uniklinik darin erkennen, wenn das MPG auch für KIS-Produkte angewendet wird: "Die Software wird sicher nicht besser, aber der gesamte Prozess zäher und aufwendiger und teurer, was letztendlich wir zahlen, und wie haben ohnehin nicht genug Geld." Eine Software einem MPG zu unterwerfen macht seiner Ansicht nur dann Sinn, wenn das MPG neben der Qualität auch inhaltliche Standards vorschreibt. Sprich: die Dinge vorschreibt, die eine Software können muss.
So ganz um die Auswirkungen von Richtlinien kommt sowieso kein CIO herum. Gerald Götz, CIO der Sana Kliniken, nennt als Beispiel den Linksherzkathedermessplatz. Kommt es auf dem Anwendungssystem zu einem Übertragungsfehler, eilt die IT heran, um den Fehler zu beheben. Ist das geschehen, darf das Gerät allerdings noch nicht eingesetzt werden. Der Hersteller des Systems muss erst eine erneute Konformitätsbewertung durchführen und das System zertifizieren - also neu zulassen für die Anwendung am Menschen. Das fordert das MPG. "Hätte ich die Daten aus dem Messplatz direkt in unser Krankenhausinformationssystem einfließen lassen, hätte der KIS-Hersteller sich einer MPG-Prüfung unterziehen müssen", kommentiert Götz. Weder er noch der KIS-Hersteller sind an dem Aufwand interessiert: "Zumal die KIS-Hersteller das Wissen darüber gar nicht mitbringen", so Götz, dessen KIS nun nach wie vor im "ungeregelten Bereich" betrieben wird, frei von den Richtlinien der medizintechnischen Geräte.
Götz und seine IT bauten lediglich eine Schnittstelle zwischen dem Anwendungssystem für die Kathedermessung und dem KIS auf Basis des in der Klinik-IT gängigen HL7-Standards - und der KIS-Hersteller war seine Sorgen los. Den sogenannten geregelten Bereich, der MPG-pflichtig ist, Sicherheitsanforderungen in hohem Maße nachkommen muss und Normen unterliegt, übernehmen bei Sana ohnehin die Kollegen des Sana Medizintechnischen Service Zentrum (MTSZ), die gleichberechtigt zu den IT-Services von Götz organisiert sind. Kein Problem für Götz.
Auf dem Weg von der Klinik-IT geht Vivantes-CIO Nolte zurück zu seinem Büro, vorbei an einer Koppel, in der auch heute noch Psychiatriepatienten mithilfe von Pferden therapiert werden, vorbei an der forensischen Abteilung, die durch hohe Mauern und Stacheldraht vom übrigen Berufsalltag abgetrennt ist. Zeit genug, um darüber nachzudenken, welche Therapie wohl bei ihm am besten anschlagen würde, um die zwei Bereiche zusammenzubringen. Vielleicht muss letztlich gar nicht eine Leitung für die beiden Bereiche her. Vielleicht muss man "nur" mehr miteinander reden.