Payal Arora, Professorin an der Erasmus Universität von Rotterdam und Autorin von "The Next Billion Users", widmete ihre Keynote auf den Hamburger IT-Strategietagen der Zukunft des Internets. Die riesige User-Basis in "Online-Schwellenländern" wie Indien, China, Südafrika, Singapur oder Brasilien wird in dieser Zukunft tonangebend sein und die zugrundeliegenden Technologien, Geschäftsmodelle und Nutzungsgewohnheiten verändern.
Payal Arora hat sich - nicht nur in ihrer Eigenschaft als Autorin - eingehend mit den Nutzungsgewohnheiten der "next billion users" und den daraus erwachsenden Konsequenzen beschäftigt. Ihre Erkenntnisse teilte sie im Rahmen einer Keynote auf den Hamburger IT-Strategietagen 2020.
Wer sind die "next billion users"?
Ein grundlegendes Problem, so Arora, sei, dass die Menschen dazu tendierten, unbekannten Nutzergruppen ein Gesicht zu geben. Allerdings entstünden genau aus diesem Grund viele der technologischen Innovationen, Produkte und Services - insbesondere aus dem Silicon Valley - auf Grundlage einer bestimmten Nutzer-Blaupause: "Seit Jahrzehnten ist der typische Nutzer im Silicon Valley weiß, männlich und gehört der Mittelschicht an."
Daraus entstehe ein "data divide", so Arora, der zu einem "data deficit" für alle anderen User führe, die nicht dieser Blaupause entsprechen. Bis zum Jahr 2030 sei - getrieben durch die sinkenden Preise für Hardware (insbesondere Smartphones) und Bandbreite - mit etwa zwei Milliarden neuen Nutzern aus Ländern wie Indien, Brasilien und China zu rechnen, die für alle Branchen von zentralem Interesse sind: "Sie sind die bedeutendsten 'data producers' und 'data consumers' der Data Driven Economy."
Umso wichtiger, so Arora weiter, sei es, sich damit zu beschäftigen, wer die "next billion users" eigentlich sind: "Circa ein Viertel davon sind sehr jung. In einigen Ländern kann dieser Anteil auch bis zu 60 Prozent betragen. 85 Prozent dieser Nutzer leben außerhalb des 'Westens' und verfügen nur über ein sehr geringes Einkommen. Bis zum Jahr 2030 wird die Zahl dieser Nutzerschaft auf zwei Milliarden anwachsen."
Die politischen und sozialen Umstände erzeugten in Teilen eine völlig andere Wahrnehmung von Technologie und damit auch andere Nutzungsgewohnheiten. Als Beispiel führte Arora ein Slum in Indien an, wo für gewöhnlich große Familien auf engstem Raum zusammenleben. Das verleihe der Privatsphäre im virtuellen Raum einen völlig anderen Stellenwert, so die Professorin.
So gewinnen Sie die "next billion users"
Zwar bemühten sich viele Unternehmen, die "next billion users" zu verstehen - allerdings entstammt das Framework dafür, die Maslowsche Bedürfnishierarchie, aus den 1940er Jahren, so Arora. Auf die "next billion users" sei das Modell allerdings nicht anwendbar: "Ich kann Ihnen versichern, dass Selbstverwirklichung den wesentlichen Treiber für den Mobile-Boom unter den 'next billion users' darstellt."
Um diese User in die Technologiewelt inkludieren zu können, kommt es laut Arora darauf an, fünf wesentliche Punkte zu betrachten, die für diese von zentraler Bedeutung sind:
Fun: Apps wie beispielsweise TikTok seien so erfolgreich, weil die Einstiegsschwelle besonders niedrig liege. Für viele Nutzer mit geringem Einkommen verkörperten diese Apps eine Chance, aus ihrem sozialen Umfeld auszubrechen und es beispielsweise zu Influencer-Ruhm zu bringen. Die Vernetzung und der Konsum digitaler Inhalte erzeuge darüber hinaus eine neue Lebensqualität für viele Nutzer, die in Armut leben. Für sie seien Smartphones und auch Daten trotz der gesunkenen Preise immer noch Luxusgüter, die sie sich aber gerne leisteten, um ihrer Realität entfliehen zu können.
Flexibility: Um die "next billion users" zu erreichen und in diesem Markt erfolgreich zu sein, reiche es nicht aus, so Arora, eine App einfach in der entsprechenden Landessprache bereitzustellen. Vielmehr müssten Unternehmen die sozialen Gegebenheiten und Nutzergewohnheiten analysieren und ihre Produkte und Services daran anpassen. Lediglich von den Nutzern Flexibilität zu erwarten, sei alles andere als ein Erfolgsrezept, so die Professorin. Als Beispiel führte Arora die App Spotify Lite an, die im Umfeld der "next billion users" nicht mit anderen Musik-Apps, sondern mit Piraterie konkurriere.
Fusion: Im Gegensatz zum Westen, so Arora, sei in Ländern wie Indien oder China eine Hyperkonvergenz von Applikationen erkennbar: "In Europa wird beispielsweise besonders auf separate Datensets und Datenschutz geachtet - insbesondere in Zeiten der DSGVO. Betrachtet man hingegen zum Beispiel Alibaba, stellt das quasi eine Vermengung von Facebook, Amazon und Google in einer einzigen App dar." Regierungen und der Privatsektor arbeiteten in solchen Hyper-Ökosystemen zusammen - getrieben von Ressourcenknappheit und dem Streben nach Effizienz, so Arora.
Friction: Gutes Design sei in westlicher Wahrnehmung vor allem eine 'art of effortlessness', so Arora. Allerdings sei es im Markt der "next billion users" nötig, Hürden zu schaffen, um die Nutzer vor sich selbst zu schützen. Als Beispiel führte die Professorin Banking Apps an, die in Ländern ausgerollt werden sollen, in denen keine Erfahrungswerte und kein Bewusstsein über die Gefahren bestünden.
Fabulousness: Gerade sozial schwache Nutzergruppen, so Arora, investierten einen überproportionalen Teil ihres Einkommens für Luxusgüter. Status sei für diese Nutzer dabei der entscheidende Faktor: "Kein Mensch möchte auf der untersten sozialen Stufe stehen."
"Wir dürfen Diversity nicht als Hindernis begreifen, sondern als Chance, jede Menge kreativen Input einzuholen, um am Ende wettbewerbsfähiger zu sein und eine größere Nutzerbasis zu erreichen", so das Fazit von Arora.