IT UND MARKETING

Phantasten contra Bürokraten

03.10.2001 von Martin Jahrfeld
Technik und Marketing stehen sich oft im Weg, besonders bei E-Business-Projekten. Die Marketiers entwickeln unrealistische Vorstellungen, die IT-Abteilung kämpft mit finanziellen und technischen Restriktionen. Die Lösung: Kommunikation ? je früher, desto besser.

DAS AUFGABENSPEKTRUM von Michael Ohm und Bernd Toelke ist beeindruckend. Die beiden Geschäftsführer von TUI Interactive sind zuständig für das Online- Rückgrat des größten europäischen Reiseveranstalters. Sie betreuen gemeinsam mit vierzig Mitarbeitern die virtuelle Reiseplattform des Konzerns, kümmern sich um die Integration der unterschiedlichen touristischen Reservierungssysteme, überwachen die Funktionalitäten von Suchmaschinen und optimieren die Kataloge des Veranstalters. Jüngster Coup der IT-Firma sind die virtuellen Hotelrundgänge auf der TUI-Homepage: Von der Zimmerausstattung bis zur Swimmingpool- Farbe offenbaren sich detailgetreu einzelne Domizile den Web-Besuchern.

Hinter dem veränderten Design des Online-Auftritts von TUI steckt eine komplett neue technische Architektur ? eine Leistung, die nach der Erwartung von Ohm Maßstäbe für die Touristikbranche setzen könnte. "Wir haben jetzt einen Standard in der Abwicklung der touristischen Beratungsund Verkaufsfunktionen, der eine wesentlich kürzere Entwicklungszeit für neue Prozesse durch eine höhere Wiederverwendbarkeit der touristischen Funktionen ermöglicht. Eine Standardisierung der Schnittstellen zu touristischen Reservierungssystemen gibt uns die Möglichkeit, neue Reservierungssysteme ohne großen Aufwand in unsere Plattform zu integrieren", begeistert sich der Geschäftsführer.

Ohne abteilungsübergreifende Teamarbeit sind so komplexe Herausforderungen jedoch kaum zu bewältigen. "Es darf nicht passieren, dass die Marketing-Abteilungen den Kunden Banner-Formen verspricht, deren technische Entwicklung dann die zu erwartenden Erträge übersteigt", umreißt Ohm mögliche Missverständnisse. Die erwachsen nicht selten aus gegenseitigen Vorurteilen, etwa der Art, dass "die IT nicht an die Kunden denkt, während das Marketing Luftschlösser baut".

Das Zusammenspiel zwischen IT-Abteilung und Marketing- Experten verdient dann besondere Beachtung, wenn E-Business-Projekte termin- und kundengerecht in die Tat umgesetzt werden sollen. Ein genaues Briefing der Marketing-Abteilung ist für Ohm, der zusammen mit seinem neuen Kollegen Toelke an Dieter Zümpel aus der Geschäftsleitung von TUI Deutschland berichtet, deshalb unerläßlich: "Die brauchen die genaue Expertise der ITAbteilung, bevor sie an die Kunden herantreten." Nur durch einen intensiven Informationsaustausch könne verhindert werden, dass die Mitarbeiter des Außendienstes ihren Kunden Zusagen machen, die sich technisch, zeitlich oder finanziell nicht realisieren lassen.

Doch eine solche Informationspolitik lässt sich nicht per Dienstanweisung etablieren. Wenn die Kommunikationsprozesse funktionieren sollen, sagt Ohm, bedürfen sie langfristiger Aufmerksamkeit: "Sowohl die Software-Entwickler aus den IT-Abteilungen als auch die Marketing- Mitarbeiter müssen dazu beitragen, dass eine gemeinsame Kultur entsteht und jede Gruppe die Sichtweise der anderen versteht." Da die Interessen und Denkweisen von Computer- und Marketing-Fachleuten naturgemäß sehr unterschiedlich sind, kann das jedoch nicht von allein klappen. Bei TUI ist deshalb ein Treffen aller Bereichsleiter im Wochenplan verankert.

Die Herausforderung, die der Geschäftsführer von TUI Interactive beschreibt, ist alles andere als neu: IT-Leute und Marketing-Profis arbeiten längst nicht immer mit denselben Zielen und Motiven; im schlimmsten Fall können sie sich sogar gegenseitig blockieren und so den Erfolg eines ambitionierten E-Business-Projekts gefährden. Ein Unternehmensberater, der sich seit Jahren mit derartigen Organisationsproblemen beschäftigt, nennt die Gründe: "Marketing- und Vertriebsleute arbeiten unter kurzfristigen Perspektiven, weil sie schnell auf veränderte Kundenbedürfnisse reagieren müssen. IT-Entwickler benötigen lange Entwicklungshorizonte, weil sie eine stabile Software herstellen wollen", weiß Norbert Terglane, Mitglied der Geschäftsführung bei Kienbaum Management Consultants.

Der Gegensatz zwischen beiden Berufsgruppen scheint also grundsätzlicher Natur, und er erstreckt sich quer über Länder- und Branchengrenzen: "Marketing-Abteilungen sind in erster Linie dazu da, neue Absatzkanäle aufzustöbern", sagt Amber Niven, Vice President von Arch Communications, einem Anbieter von drahtlosen Kommunikationssystemen in Westborough, Massachusetts. "Von sich aus kommen die Marketing-Leute nicht in die IT-Abteilungen, um herauszufinden, was die Software-Entwickler überhaupt zu leisten in der Lage sind. Sie fragen allein ihre Kunden, was sie wollen, ohne zu wissen, ob dies auch realisierbar ist."

Die CIOs und ihre Mitarbeiter haben hingegen mit einer Vielzahl von Restriktionen zu kämpfen, die mit den Versprechungen der Marketing-Abteilungen selten in Einklang in zu bringen sind. Entwicklungszeiten lassen sich schwer einschätzen, die finanziellen und personellen Ressourcen bei einem Projekt sind begrenzt. Zudem müssen neue Internet-Ideen immer auch in die vorhandene technologische Infrastruktur eines Unternehmens integriert werden ? ebenfalls keine leichte Aufgabe.

"Der Mangel an grundlegenden Kenntnissen im Bereich Informationstechnologie ist mitunter schon erschreckend", konstatiert Rolf Bergmann, CIO bei Price Waterhouse Coopers (PWC). "Manche Marketing-Leute berichten von ihrem Sohn, der ihnen eine Homepage innerhalb eines Tages zusammengebastelt habe. Und dann wundern sie sich darüber, warum wir unsere Aufgaben nicht mit ähnlicher Geschwindigkeit bewältigen können." Die Marketing-Seite kontert: "Uns stört ihre prozessorientierte Gründlichkeit, die schon mal einem zügigen Projektfortschritt im Wege stehen kann", sagt Hugo Rautert, stellvertretender Leiter für den Bereich Marketing und Kommunikation bei PWC.

Eine Studie des Multimedia-Dienstleisters Popnet bestätigt diese Probleme: Die dort befragten IT-Verantwortlichen erwarten von der Marketing-Abteilung mehr Sachverstand und Realitätssinn; die andere Partei fordert von den Technikern mehr Flexibilität und verständlichere Kommunikation. "Die Marketing-Manager fürchten den Tod eines Projekts durch totale Bürokratie, die IT-Abteilung durch totale Anarchie", bringt CIO Bergmann die gegensätzlichen Positionen auf den Punkt.

Die Risiken derartiger Konflikte sind nicht zu unterschätzen. Wo Multimedia-Projekte zunehmend komplexer werden, kann die Qualität der innerbetrieblichen Kommunikation leicht über Erfolg oder Misserfolg eines Internet-Projekts entscheiden. Die Rollenverteilung vergangener Jahre, bei der Design und Funktionalitäten der Internet-Auftritte durch die Prioritäten der Marketing- Abteilung definiert waren, während die IT-Abteilungen vieler Unternehmen nur als technische Erfüllungsgehilfen angesehen wurden, gilt zunehmend als überholt. Wer im E-Business profitabel agieren will, so die Erkenntnis, muss den IT-Abteilungen eine stärkere Mitsprache zubilligen. Für Lou D'Ambrosio, Vice President Worlwide Sale and Marketing der IBM Software Group, geht die Zeit der Experimente im Internet-Zeitalter dem Ende entgegen. Wer im Netz profitieren wolle, müsse zunächst seine technischen Probleme in den Griff bekommen, ist der IBM-Manager überzeugt. Der Aufbau von Kundendatenbanken und die Entwicklung funktionierender CRM-Systeme zur individualisierten Kundenansprache im Netz seien dabei nur einige der aktuellen Herausforderungen, die kaum allein von Marketing-Managern beurteilt und entschieden werden könnten.

Bei Price Waterhouse Coopers hat man diesen Lernprozess bereits hinter sich: Wichtigstes Multimedia-Angebot der Beratungsgesellschaft ist eine Plattform mit Wirtschafts- und Steuerrechts-Infos, bei deren Entwicklung sich das Unternehmen eine lange Vorlaufzeit genehmigte. Verantwortliche aus den Abteilungen Informationstechnologie, Knowledge-Management und Marketing trafen sich alle zwei Wochen unter der Regie der Geschäftsführung zu ganztägigen Meetings, um Positionen und Perspektiven auszutauschen. CIO Bergmann bedauert es nicht, dass die Organisationseinheit in dieser Form fast ein gesamtes Jahr diskutierte: "Am Anfang redeten alle nur aneinander vorbei; doch mit jedem neuen Treffen wuchs das Verständnis für die andere Seite."