MIT FÜNFZIG STUNDENKILOMETERN fährt das Auto gegen eine Mauer – und nichts ist zu hören. Der Crash-Test läuft auf einem Monitor ab, realistisch simuliert und dreidimensional dargestellt von einem Computer.
Nicht nur solche Tests werden künftig ohne splitternde Scheinwerfer und berstendes Blech ablaufen. Fast jedes Bauteil lässt sich heute vor seiner Realisierung virtuell am Rechner prüfen. Dasselbe gilt in der so genannten digitalen Fabrik demnächst auch für Produktionsabläufe. Bei den Prozesskosten winken hohe Einsparungen.
„Die digitale Fabrik ist jedoch nicht als Software-Projekt zu sehen; sie ist zuerst ein Prozessthema“, sagt Emmerich Schiller, Projektleiter „Digitale Fabrik“ in der Produktionsplanung bei Mercedes-Benz Pkw in Sindelfingen. Daimler-Chrysler begann bereits vor mehr als einem Jahr, die digitale Fabrik zu realisieren. Das Ziel: Im Jahre 2005 soll kein Auto mehr vom Band laufen, bei dem die Ingenieure nicht schon lange vor dem richtigen Zusammenbau alle Fahrzeugteile, Produktionsanlagen und Fabrikgebäude vollständig digital geplant und bewertet haben. Damit will der Autohersteller die Entwicklung neuer Fahrzeuge von derzeit vier bis fünf auf drei Jahre verkürzen und die Produktionskosten um bis zu fünfzig Prozent senken.
Erfahrungen für das Hundert-Millionen-Euro-Projekt hat Daimler-Chrysler bereits gesammelt: Im Bad Cannstatter Motorenwerk wurden das Fabrikgebäude und die Motorenfertigung in allen Details am Rechner geplant. Und bereits seit 1995 läuft die A-Klasse im Rastatter Werk vom Band, wo Montagelinien und Fertigungsverfahren per Simulation konzipiert und optimiert wurden.
Die Erkenntnisse aus der Organisation von Arbeitsabläufen bringt Mercedes-Benz nun beim großen Projekt „Digitale Fabrik“ ein. Es gilt, neue Arbeitsformen einzuführen und dafür alle Beteiligten zu gewinnen. „Die Anforderungen ändern sich für viele Beteiligte“, so Schiller.
Überzeugungsarbeit in allen Bereichen
Das betrifft vor allem die Entwickler: Sie müssen jetzt früher als bisher ihre Daten offen legen. Wenn aber ein Entwickler frühzeitig Daten freigibt, macht er beinahe zwangsläufig eigene Planungsfehler für jeden sichtbar. Der große Vorteil dieser Arbeitsweise indes liegt darin, mögliche Probleme schneller zu erkennen – was jedoch ein Umdenken in der Kooperation voraussetzt. „In allen Bereichen leisten wir Überzeugungsarbeit“, sagt Schiller. „Allein die enge Zusammenarbeit und die Vernetzung aller Beteiligten können die Grundlage dafür bilden, Fehler schneller zu erkennen und früh zu korrigieren.“ Das spart Zeit und Geld und erhöht die Qualität.
Neue Arbeitsweisen bergen allerdings auch die Gefahr neuer Probleme. So ist es denkbar, dass lückenhafte Datenwegen des Termindrucks frühzeitig freigegeben werden, ohne als solche gekennzeichnet zu sein. Andere Abteilungen und externe Firmen arbeiten dann mit den fehlerhaften Daten weiter und bauen ihre Planungen darauf auf. Wenn später die vollständigen Informationen vorliegen, fangen alle Beteiligten wieder bei null an. Um das zu vermeiden, legt Daimler-Chrysler Workflows fest, die streng kontrolliert werden, damit alle Beteiligten die Daten genau zur richtigen Zeit verarbeiten.
Dabei spielen auch Zuständigkeiten eine wichtige Rolle. So können im Idealfall alle betroffenen Mitarbeiter, Abteilungen und externe Firmen auf die zentral verwalteten Daten zugreifen. In der Praxis schränken Abteilungen die Zugriffsrechte oft ein. „Wer die Daten hat, der hat auch das Sagen“, weiß Stefan Braun, Berater im Bereich Automotive bei T-Systems Industry in Stuttgart.
Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, wer für die Verwaltung der gemeinsamen Daten zuständig ist – wenn in einem Unternehmen überhaupt schon ein entsprechendes Management-System existiert. Tatsächlich fehlen die Produktionsdaten häufig noch, oder sie liegen an verschiedenen Stellen im Unternehmen. Eine gemeinsame Datenbasis bildet jedoch das technische Rückgrat der digitalen Fabrik. Alle müssen also von Beginn an kooperieren: Entwicklung, Produktion und Architekten, externe Zulieferer und Software-Firmen. Dabei treffen bisweilen Welten aufeinander. „Produktion und Entwicklung haben sich früher kaum unterhalten. Die Entwicklungsabteilung hat lediglich die fertigen Daten an die Produktion weitergegeben“, so die Erfahrung von Braun. „Rund dreißig Prozent aller späteren Produktänderungen lassen sich auf mangelnde Kommunikation zwischen Entwicklung, Produktion und Fabrikplanung zurückführen.“ Ähnlich schätzt Robert Rech von Edag die Verteilung ein: „Achtzig Prozent des Aufwands bei der Einführung der digitalen Fabrik stecken in der Organisation, nur zwanzig in der technischen Umsetzung“, sagt der stellvertretende Leiter der simulationsgestützten Planung beim Fuldaer Entwickler von Fahrzeugen und Produktionsanlagen. „Es ist ein steiniger Weg, die gemeinschaftliche Arbeitsweise in der gesamten Mannschaft durchzusetzen.“
Zu der gehören auch Management und Vorstand. Alle müssen von der digitalen Fabrik überzeugt werden und das Projekt voll mittragen. „Die Förderung durch das Management wandelte sich schon bald in die Forderung nach konsequenter Umsetzung der digitalen Fabrik. Und das ist eine gute Situation für uns“, sagt Projektleiter Schiller. Auch Kollegen der ITM (Information Technology Management) -Organisation von Daimler-Chrysler-CIO Sue Unger arbeiten am Projekt mit.
Da weder die Verinnerlichung neuer Arbeitsprozesse noch die technische Umsetzung von heute auf morgen passieren, sollten die Bausteine der digitalen Fabrik nach und nach in die laufenden Planungen eingehen. Schiller rät: „Sandkastenspiele führen hier nicht weiter. Nur konkrete Projekte erzeugen bei allen Beteiligten die nötige Motivation.“
Diesen Weg ist auch Bosch Siemens Hausgeräte (BSH) in Dillingen gegangen. In einem Pilotprojekt wurde die Produktionskapazität für eine Modellreihe von Geschirrspülern ermittelt. Anhand der Ergebnisse erhöhte BSH mit geringem Aufwand die Fertigungszahlen und sparte 100.000 Euro Investitionskosten. In einem zweiten Pilotprojekt entwickeln BSH und der Manufacturing-Dienstleister Delmia eine Produktlinie mit einem neuen Modell, das in einer bestehenden Fabrikhalle hergestellt werden soll. Dabei bezieht Robert Lang, der bei BSH weltweit die Fertigung von Geschirrspülern leitet, alle Wissensträger mit ein: „Die Mitarbeiter können von Anfang an Einflussnehmen. Sie sehen ihren Erfolg, wenn Vorschläge umgesetzt werden.“ Auch Kompetenzstreitigkeiten beugt er vor. „Unsere Projekte werden immer von zwei Leitern geführt: einer aus der Entwicklung und einer aus der Produktion.“
Mittelständler ohne Alternative
Selbst kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) wenden immer häufiger Simulationsmethoden an. Allerdings sind sie ohne fremde Hilfe überfordert. „Kleinen und mittleren Unternehmen mangelt es an Know-how, an Zeit und Geld“, sagt Sven Voges, Projektingenieur vom Institut für integrierte Produktion Hannover (IPH).
Das gemeinnützige IPH unterstützt insbesondere KMU dabei, die simulationsgestützte Produktion einzuführen. Zulieferbetriebe für die Automobilindustrie etwa sind geradezu gezwungen, sich in die simulierte Produktion der Auftraggeber einzuklinken, weil sie sonst keine Aufträge mehr erhalten. „Bei vielen Firmen stellt sich nicht die Frage ‚ob‘, sondern nur ‚wann‘ und ‚wie‘“, so Voges. Daimler-Chrysler-Projektleiter Schiller formuliert es noch drastischer: „Die Frage nach einer Alternative zur digitalen Fabrik stellt sich nicht. Es gibt meines Erachtens keine.“
Doch auch die digitale Fabrik stößt an Grenzen, weil sich eben noch nicht alles perfekt vorausberechnen lässt. So sind beispielsweise die Einflüsse auf Befestigungen für Scheinwerfer bei einem Crash noch nicht ausreichendpräzise zu simulieren, weil zu viele Kräfte auf sie wirken. Auch in Zukunft krachen also im Test reale Autos gegen reale Mauern.
DIGITALE FABRIK
Produktion auf Probe
28.01.2002
Für den Erfolg bei der rechnergestützten Entwicklung und Produktion
in der digitalen Fabrik kommt es entscheidend darauf an, Arbeitsprozesse
zu verändern und zu optimieren. Das verlangt von allen Beteiligten,
sich auf neue Arbeitsweisen einzulassen.