"In Gefahr und höchster Not, bringt der Mittelweg den Tod", sagt der Volksmund. Dieser Mittelweg, das ist für Unternehmen oft das Weiterso, das Verharren im Status Quo.
Natürlich geht es im Business nicht um Leben und Tod, aber es kann um die Existenz gehen, um den Fortbestand einer Firma oder einer Abteilung. Nicht anders verhielten sich die Dinge vor dreieinhalb Jahren bei Bayer Business Services (BBS), dem IT-Dienstleister des Bayer-Konzerns.
BBS hatte den Desktop-Support, das Helpdesk und viele andere Standardservices ausgelagert, hielt darüber hinaus aber auch vieles in den eigenen Händen. Das Verhältnis von Make zu Buy betrug - bezogen auf die Kosten - 95 zu 5.
Lücke von 80 Millionen Euro
Und das zu einer Zeit, in der die Preise für zukaufbare Dienstleistungen - beispielsweise beim Cloud Computing - drastisch nach unten gingen. "Ende 2011 stellten wir fest, dass wir aufgrund unserer damaligen Aufstellung als interner Service-Provider und der Preisentwicklung auf dem externen Markt in drei Jahren mit 80 Millionen Euro zusätzlichen Kosten konfrontiert gewesen wären", so Daniel Hartert, der in Personalunion CEO von BBS und CIO des Bayer-Konzerns ist.
"Bietet BBS für Bayer noch einen Wert?"
Die Frage zu beantworten, wie die Zukunft aussehen sollte, dafür war Hartert also in gleich doppeltem Sinne verantwortlich. Weiter so - der eingangs beschriebene Mittelweg - schied schon wegen der 80-Millionen-Lücke aus.
Und weil sich diese Lücke nicht auf konventionellem Weg schließen ließ. Daniel Hartert: "Die Angebote auf dem Externen Markt waren mittlerweile so wettbewerbsfähig, dass wir dagegen mit technologischer Optimierung und Effizienzsteigerung allein niemals hätten konkurrieren können."
Radikal, aber konsequent stellte der BBS-Geschäftsführer deshalb im Gespräch mit dem Bayer-Vorstand die Frage, "ob in Anbetracht der Situation die Organisation in dieser Form für Bayer noch einen Wert bietet."
Oder ob man sie, wenn schon nicht ganz auflöst, so doch vielleicht auf jene Funktionen fokussiert, die für ein paar eigene Kernkompetenzen und den Einkauf des Rests notwendig sind.
Auf den ersten Blick wäre diese Lösung kostengünstig, allerdings war der Vorstand schon deshalb nicht dafür, weil er fürchtete, dass dann im Falle des Kaufs oder Verkaufs von Unternehmensteilen die erforderlichen IT-Kapazitäten für Integrationen oder Ausgliederungen fehlen.
Es stellte sich insgesamt die Frage, ob eine geschrumpfte BBS noch liefern könnte, was laut Daniel Hartert jedes große Unternehmen zurecht von seiner IT-Organisation erwartet.
Service, Innovation und Effizienz
Erstens: Wettbewerbsfähige Services in der vereinbarten Qualität bereitstellen. Zweitens: Innovative Lösungen für das laufende Geschäft liefern. Drittens: Synergie- und Effizienzpotenziale für den eigenen Konzern realisieren.
Und all das natürlich möglichst bequem und zur maximalen Zufriedenheit der User, also der internen Kunden.
So viele Ziele parallel lassen sich nur mit einem großen Change-Projekt erreichen, mit einem radikalen kulturellen Wandel.
Und genau den stießen Daniel Hartert und seine Mitstreiter dann vor drei Jahren an. Codename: Clarity. Dabei handelt es sich insofern um eine klassische Kehrtwende, als man sich für das Gegenteil von dem entschied, was eine Zeit lang angedacht war. Statt auf Schrumpfen und radikales Outsourcen setzte der CEO auf Insourcing.
Effizienz um 15 Prozent gesteigert
Der Plan: Zunächst sollten 300 interne Mitarbeiter (von ca. 2000, gleich 15 Prozent) Aufgaben übernehmen, die bisher die - wesentlich teureren - Externen erledigt hatten. Langfristig wollte Hartert die Anzahl der Externen von etwa 1000 auf 200-250 Köpfe senken.
Das bedeutete aber nichts anderes, als dass man die Effizienz der internen Kollegen um 15 Prozent steigern musste. Wie sollte das gehen in Anbetracht der Tatsache, dass alle ‚normalen‘ Optimierungspotenziale längst ausgeschöpft waren?
80 Lean Champions ausgebildet
Die Antwortete lautete: Komplexität raus! BBS bildete gemeinsam mit McKinsey 80 Mitarbeiter zu ‚Lean Champions‘ weiter. Die beschäftigten sich mehreren Wellen jeweils etwa drei Monaten lang mit einer Abteilung und ihren Tätigkeiten, überlegten gemeinsam mit den Kollegen, was sich besser, schlanker machen ließe.
Insgesamt entstanden daraus 3300 Maßnahmen. Daniel Hartert: "Zum Beispiel hatten wir in der Vergangenheit pro Jahr Tausende von internen Aufträgen mit unseren Partnern innerhalb des Konzerns. Diese Prozesse haben wir komplett neu definiert und radikal vereinfacht."
Vereinfachung erleichtert Digitalisierung
Das Kappen der Komplexität unterstützt zudem jene Digitalisierungsprojekte, die aktuell an vielen Stellen im Konzern anstehen. Auch hierzu ein Beispiel: Bayer-Wissenschaftler benötigen für Simulationsprozesse externe Rechenkapazitäten. Und sie erwarten heute, dass die dazu erforderliche Infrastruktur unkompliziert on Demand zur Verfügung steht - ohne komplexe Antragsverfahren oder aufwändiges Aufsetzen entsprechender Plattformen.
Daniel Hartert: "Digitalisierung darf keinesfalls dazu führen, dass ein Wirrwarr von Dutzenden Plattformen entsteht. Und sie darf nicht Selbstzweck sein. Deshalb stellen wir immer die Frage: Wo sind bei einer Initiative die Opportunitäten fürs Business?"
Es gibt viel zu tun auf diesem Gebiet, und bei vielem stehe man erst am Anfang, sagt Daniel Hartert. Gemeint ist zum Beispiel das ‚Digital Farming‘. "Irgendwann werden alle Anbauflächen auf der Welt digital erfasst und dann auch ihre Nutzung digital steuerbar sein. Dazu braucht man - auch in einer innovativen digitalen Welt - eine Infrastruktur, die so stabil ist wie eine klassische SAP-Umgebung."
Und man braucht die richtigen Mitarbeiter. Solche, die Innovationsgeist und Technikverständnis mit einer Businessdenke verbinden. "Diese Leute zu finden, ist sogar für uns nicht ganz einfach", räumt der Bayer-CIO ein.
Das FIT-Office für Qualifizierung der Mitarbeiter
Hilfreich ist auch an dieser Stelle das Clarity-Programm mit seinem ‚FIT Office‘, einem Qualifizierungsdienstleister, der jene Internen fit macht, die Jobs von Externen übernehmen. Dabei geht es darum, benachbarte oder komplementäre Tätigkeitsbereiche der bisherigen kennenzulernen, also im Idealfall genau jene Querschnittsqualifikationen zu erwerben, die für Digitalisierungsprozesse so wichtig sind.
Natürlich waren nicht alle ständig begeistert von den Herausforderungen, die mit dem Change-Prozess verbunden waren, und gerade das mittlere Management sah anfangs vieles eher kritisch. Aber die Botschaft, dass es dabei nicht um Personaleinsparung geht und niemand seinen Job verliert, erhöhte die Akzeptanz von Clarity deutlich.
Jeder zweite Mitarbeiter stieg auf
Und nichts zu verlieren war nicht alles, sondern mit der Übernahme neuer Aufgaben stieg mehr als jeder Zweite auf der Karriereleiter sogar eine Sprosse nach oben. Ohne solche Perspektiven, ohne positive Vision, glaubt Daniel Hartert, wäre Clarity nicht gelungen. "Mit der Botschaft, dass man den Gürtel künftig enger schnallen muss, erreicht man keinen Kulturwandel. Weil das niemanden motiviert."
60 Millionen Euro investiert - 108 Millionen gespart
Bei BBS gelang die Motivation. Und die quantitativen Ziele wurden auch erreicht. Clarity - das Programm endete im März 2015 - kostete (einmalig) 60 Millionen Euro und sorgt für Einsparungen von 108 Millionen jährlich. Wobei dieser Spareffekt durch Inflation und Gehaltssteigerungen über die Jahre abnimmt.
Von etwa 1000 externen Mitarbeitern Ende 2011 sparte BBS 840 ein, wobei die Jobs von 390 dieser Externen heute eigene Leute übernommen haben. 770 interne Mitarbeiter haben heute eine andere Tätigkeit als Anfang 2012, und in 580 dieser Fälle wurde der Übergang durch gezielte Qualifizierung unterstützt.
"Viel Zeit in Mitarbeiterversammlungen verbracht"
Auch die Arbeit des CIO wandelte sich im Zuge von Clarity. Daniel Hartert: "Ich war in dieser Zeit weniger IT- und mehr Change-Manager, habe viel Zeit in Mitarbeiterversammlungen verbracht, dabei vor allem zugehört und dadurch auch viel gelernt."
Was er beim nächsten Mal anders machen würde? Zum Beispiel den kulturellen Wandel noch stärker betonen. Hartert: "Vorzurechnen, wie viel man sparen will, darf nicht am Anfang eines Veränderungsprogramms stehen. Vielmehr geht es um die Frage, was der Wandel für jeden einzelnen bedeutet. Wer darüber spricht, löst Ängste und motiviert."
Wichtig ist auch, dafür zu sorgen, dass aus dem zeitlich begrenzten Change-Projekt nachhaltiger Wandel wird. Ein Instrument dazu sind die Lean Champions. Die Veränderungsagenten wurden bei Bayer Business Services zur Institution, sie begleiten viele Prozesse im Arbeitsalltag bis heute und sorgen dafür, dass die Veränderungen von Dauer sind.
Denn schließlich hat Daniel Hartert nicht die Absicht, "in drei Jahren Clarity 2 aufzusetzen."